Torsten Kupfer




Generation und Radikalisierung


Die Mitglieder der NSDAP
im Kreis Bernburg 1921-1945






Berlin 2006


 

Inhalt

TEIL A: DARSTELLUNG

TEIL B: DOKUMENTATION

TEIL C: ANHANG




Die hier vorliegende Fassung ist gegenüber der Ursprungsfassung des Jahres 2006 um ein Dokument im Teil B (NSDAP-Parteigerichts-Verfahren Hans Buch 1935) und den Verweis darauf in der Fußnote 317 ergänzt worden. Inhalt und Seitenzahlen unterliegen keiner weiteren Veränderung.


 

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Teil A: Darstellung

1. Vorbemerkungen

Diese Studie handelt von den Tätern. Gemeint sind jedoch nicht Täter in einem juristischen Sinne, sondern Täter in moralischer Hinsicht, als Mitverantwortliche in einem der verbrecherischsten von der Menschheit überhaupt hervorgebrachten Systeme, als Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Ausschließlich dieser Mitverantwortlichkeit, dem "Wer?" und dem "Warum?" widmet sich dieses Buch.

So bleiben denn die Verbrechen des Nationalsozialismus in dieser sich gleichermaßen an ein wissenschaftliches Fachpublikum wie an Geschichtsinteressierte ohne wissenschaftliche Vorbildung richtenden Ausschnittsdarstellung weitestgehend ausgeblendet. Der Leser erfährt nichts über die "T4-Aktion", den tausendfachen Mord an geistig kranken Menschen in Bernburg,[1] nichts über die Verfolgung der Juden, nichts über die auch im Kreis Bernburg in erheblichem Maße bestandene Zwangsarbeit und nur am Rande etwas über den physischen Terror gegen Andersdenkende. Die Verbrechen, die auch von Einwohnern des Kreises Bernburg während des Zweiten Weltkrieges innerhalb und außerhalb Deutschlands begangen wurden, bleiben ebenfalls außerhalb der Betrachtung. Und doch behandelt das Buch eine für das Verständnis des Nationalsozialismus eminent wichtige Kernfrage, die Frage nach dem Umfang und den Gründen für die Zugehörigkeit zur Staatspartei des "Dritten Reiches", der NSDAP.

In der wissenschaftlichen Diskussion führt die Beschäftigung mit der Mitgliederstruktur der NSDAP - gemessen am Gesamtausstoß an Literatur - eher ein Schattendasein. Trotz einer Flut von Veröffentlichungen zum Gesamtkomplex des Nationalsozialismus liegt bisher keine einzige Monographie zur Mitgliederstruktur der NSDAP in deutscher Sprache vor. Gleichfalls gibt es bisher - einschließlich der über eine Reihe von Fachzeitschriften und Sammelbänden verteilten Aufsätze - keine Studie, die die NSDAP in der Entwicklung ihrer Mitgliederstruktur in einem fest umrissenen Gebiet von ihren Anfängen bis 1945 zu rekonstruieren versucht.[2]

Eine solchermaßen erkannte Forschungslücke zieht gleichwohl nicht zwangsläufig eine diese Lücke ausfüllende Untersuchung nach sich. Für deren Durchführung bedarf es sowohl hinreichender Quellenbestände als auch einer ausreichenden Finanzierung der Forschungstätigkeit.

Auf erste Quellenbestände - umfangreiche Listen von NSDAP-Mitgliedern der Stadt und des Kreises Bernburg, die zwischen 1945 und 1948 im Umfeld der Entnazifizierung angelegt worden waren - stieß ich schon 1990/91 im Stadtarchiv Bernburg während der Arbeit an meiner Dissertation zur Geschichte der anhaltischen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik.[3] Im Laufe der folgenden Jahre zeigte es sich, dass auch an anderen Orten umfangreiche Quellenbestände überliefert sind und eine Rekonstruktion der NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg auf der Grundlage massenstatistischer Daten realisierbar sein würde. In letzter Instanz ermöglicht wurde diese Untersuchung jedoch erst mit der Förderung des zwischen 1999 und 2002 an der Universität Bielefeld (Lehrstuhl Prof. H. G. Haupt) angesiedelten Projektes "Staatsparteien im Vergleich. Die Mitglieder von NSDAP und SED im Kreis Bernburg (1921-1952)" durch die Stiftung Volkswagenwerk.[4]

Selbstredend ist die Auswahl des Kreises Bernburg für diese Untersuchung auch pragmatisch begründet. Generell lässt sich eine solche Studie mit vertretbarem Aufwand nur als Fallstudie ausführen. Der (seinerzeitige) Kreis Bernburg hat in dieser Hinsicht gewisse Vorzüge bzw. unabdingbare Voraussetzungen aufzuweisen. Er bietet einerseits die besondere soziale und politische Konstellation eines exorbitant hohen Arbeiteranteils innerhalb der Gesamtbevölkerung und der Dominanz der SPD in der Arbeiterbewegung vor 1933. Dadurch steht der Kreis Bernburg in hohem Maße für den mitteldeutschen Raum insgesamt.[5] Andererseits muss das zu untersuchende Territorium relativ geschlossen sein, so dass Verzerrungseffekte durch Fluktuationen (wie sie z. B. bei der Untersuchung von Berliner Stadtbezirken auftreten könnten) verhältnismäßig gering bleiben. Trotzdem muss es andererseits eine starke innere Differenzierung aufweisen, also städtische und ländliche Teilgebiete umfassen.

Auf der institutionellen Ebene ist der Erfolg des Projektes zu nicht unerheblichen Teilen der konstruktiven Mitarbeit fast aller beteiligten Archive und Privatpersonen zuzuschreiben. Hierbei ist insbesondere - mit sehr wenigen Ausnahmen -die wissenschaftsfreundliche Ausschreitung des den Archivaren mit den Archivgesetzen im Falle von personenbezogenen Daten in die Hand gegebenen Entscheidungsrahmens hervorzuheben. Freilich konnten - trotz einer im allgemeinen guten Quellenlage - nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Insbesondere eine größere Zahl an zeitgenössischen originären Aussagen unterhalb der partei- und zeitungsoffiziellen Ebene wäre erstrebenswert gewesen. Auch eine Analyse der Mitgliedschaft der Anhangsorganisationen ließ sich - mit Ausnahme des Nationalsozialistischen Lehrer-Bundes (NSLB) - mangels verläßlicher Quellen nicht ausführen.

Im Zentrum der vorliegenden Studie steht die Rekonstruktion der NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg mittels eines aus allen relevanten verfügbaren Archivalien zusammengestellten Datensatzes von mehr als 9.000 Mitgliedern von den Anfängen der Partei bis 1945.[6] Durch dessen Verknüpfung mit weiteren Quellenbeständen gelingt die Herausarbeitung eines konsistenten Bildes von der Parteimitgliedschaft und wird eine retrospektive Motivationsanalyse ermöglicht.

Vor dem Hintergrund des mit diesem Verfahren verbundenen hohen materiellen, zeitlichen und auch persönlichen Aufwandes stellt sich die Frage, ob dieser letztendlich gerechtfertigt war. Die Frage ist uneingeschränkt zu bejahen. Die Untersuchung kommt im Ergebnis zu einer in der Literatur bisher nicht vertretenen und auch für den Bearbeiter überraschenden völlig neuen Charakterisierung der NSDAP jenseits der bisher mehrheitlich vorzufindenden Kennzeichnung als "Volkspartei". Weiterhin konnte hinsichtlich ihrer Mitgliederstruktur erstmalig der gesamte Existenzzeitraum für ein fest umrissenes Gebiet - den Kreis Bernburg - abgedeckt werden; die Ableitung von Analogien zumindest für den mitteldeutschen Raum ist jedoch durchaus zulässig.



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2. Prolog: Der Kreis Bernburg um 1900

Die Geschichte der NSDAP im Kreis Bernburg setzt weit vor der ersten formalen Gründung einer Ortsgruppe im Herbst 1923 ein. Eine Reihe von Indizien deuten sogar auf die Existenz einer Vorlaufphase seit den 1890er Jahren hin. In den Jahren vor der Jahrhundertwende verfestigten sich die bis zum Ende der Weimarer Republik gültigen und dann (scheinbar) zerschlagenen politischen Grundkonstellationen in Form zweier sich feindlich gegenüberstehender politischer Lager; gleichzeitig trifft man in Bernburg in dieser Zeit auf die ersten Spuren völkisch-nationalistischer Organisation. Und nicht zuletzt wurde - soviel kann schon vorweggenommen werden - die reichliche Hälfte aller jemals in die NSDAP eintretenden Personen in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1900 geboren, wobei die Jahrhundertwende den Gipfelpunkt späterer NSDAP-Neigung markierte.[7]

Diese späteren Nationalsozialisten wurden in eine industrielle Arbeitswelt hineingeboren, die mehr und mehr von einem Unternehmen, den Deutschen Solvay-Werken Bernburg, einem Ableger des belgischen Solvay-Konzerns, dominiert wurde. Zwar war der Kreis Bernburg schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts industriell sehr gut entwickelt,[8] auch hatten 1881, im Jahre der Konzessionierung des Kalisalzabbaus für die späteren Deutschen Solvay-Werke, bereits 16 Unternehmen mit jeweils mehr als 100 Beschäftigten bestanden (darunter allein zwölf Zuckerfabriken),[9] doch jetzt bekam die industrielle Entwicklung eine völlig andere Dimension. Die für den Kreis Bernburg auch weiterhin typische Verbindung von Großgrundbesitz bzw. Domänenpächtertum[10] mit Zuckerfabriken, Braunkohlengruben, Ziegeleien und Steinbrüchen trat ökonomisch ins zweite Glied zurück. Der Personalbedarf der Solvay'schen Kalibergwerke und der Sodafabrik ließ die Einwohnerzahl Bernburgs von 18.600 im Jahre 1880 auf 34.400 im Jahre 1900 ansteigen. Doch die Bevölkerungsexpansion infolge der Ansiedlung der Solvay-Werke gliederte sich nur in den schon lange zuvor begonnenen Prozess der Industrialisierung ein. In den sechs Jahrzehnten zwischen 1840 und 1900 hatte sich die Einwohnerschaft Bernburgs jeweils pro Jahrzehnt zwischen 20 und reichlich 50 % vermehrt. Auch die Städte und Gemeinden im Landkreis erfuhren einen erheblichen Bevölkerungszuwachs, jedoch nicht annähernd in dem Maße wie die Kreisstadt.[11] Die Deutschen Solvay-Werke wurden mit ihrem Stammsitz Bernburg und ihren über das Reich verteilten weiteren Werken der bedeutendste Konzern der Kali- und Sodaindustrie in Deutschland, was auch seinen äußeren Ausdruck darin fand, dass das Kalisyndikat seinen Sitz direkt bei den Deutschen Solvay-Werken nahm. Bernburg war nun vollends eine Industriestadt. In und um Bernburg beschäftigten die Deutschen Solvay-Werke Ende 1899 3.200 Arbeiter, 110 kaufmännische und 80 technische "Beamte".[12] Neben den Deutschen Solvay-Werken und den vor allem im Landkreis bedeutenden Zuckerfabriken bestanden eine Reihe anderer Unternehmen, insbesondere auch der Metallindustrie. Eine Statistik des Kartells der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften vermerkt für Ende 1900 in Bernburg 7.111 beschäftigte Arbeiter: 4.000 davon als (un- und angelernte) Fabrikarbeiter, 1.522 als Metallarbeiter und Schmiede, 913 in den verschiedenen Bau- und Holzhandwerksberufen, 600 als Berg- und Hüttenarbeiter.[13] Eine weitere Konzentration von Kalibergbau und chemischer Industrie bestand schon seit den 1850er Jahren in der preußisch-anhaltischen Grenzdoppelstadt Staßfurt-Leopoldshall am Westrand des Kreises. Insgesamt setzte sich die Bevölkerung des Kreises Bernburg zu deutlich mehr als der Hälfte aus Arbeitern zusammen, wobei deren Anteil in den Gemeinden und Städten im Landkreis noch höher ausfiel als in Bernburg selbst.

Die Jahre um die Jahrhundertwende treten jedoch nicht nur als Geburtsjahre späterer Nationalsozialisten hervor, sondern auch als Jahre verschärfter politischer Auseinandersetzung und des ersten (retrospektiv sichtbaren) Auftretens einer völkisch-nationalistischen Strömung im Kreis Bernburg im Umfeld der 1898 abgehaltenen Reichstagswahlen. Die überaus große Konzentration von Arbeitern in der Bevölkerung hatte schon in den 80er Jahren und erst recht nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 fast zwangsläufig zur Stärkung der Sozialdemokratie geführt. Das gesellschaftliche Klima war daher von einer deutlichen Zuspitzung gekennzeichnet. Insbesondere das in der Landeshauptstadt Dessau erscheinende sozialdemokratische "Volksblatt für Anhalt" vermittelt einen plastischen Eindruck von der bestehenden politischen Konfrontation. Im Halbjahr vor der Reichstagswahl 1898 beherrschten vor allem zwei Themenkomplexe dessen lokalpolitische Berichterstattung über den Kreis Bernburg. Zum einen beleuchtete das "Volksblatt" die in der Tat skandalösen Arbeitsbedingungen der Arbeiter in etlichen Betrieben des Kreises und die dazu in einem engen Verhältnis stehenden unzureichenden Bemühungen der anhaltischen Gewerbeinspektion. Parallel dazu versuchte es, seinen Lesern die moralische Verkommenheit der besitzenden und herrschenden Schichten zu verdeutlichen. Heranzuziehende Beispiele für letztere gab es zuhauf: Der Bernburger Staatsanwalt Pannier musste wegen jahrelanger Misshandlung seiner Tochter vom Dienst suspendiert werden; ein Offizier wollte zu einer inzwischen nicht mehr am bisherigen Orte wohnenden Hure, und weil er sie nicht antraf schlug er wütend die jetzt dort wohnende Arbeitersfrau, woraufhin er wiederum von deren Mann zusammengeschlagen wurde (die Berichterstattung über diesen Fall brachte dem verantwortlichen "Volksblatt"-Redakteur einen Strafantrag ein); ein früherer Direktor der Nienburger Eisengießerei im Kreis Bernburg musste wegen Unterschlagungen in Haft genommen werden. Die "bürgerlichen" Zeitungen hingegen ignorierten in ihrer Berichterstattung Sozialdemokratie und Arbeiterschaft so weit als möglich, wenn nicht ein herausragendes Ereignis wie ein die Stimmung weiter aufheizender Korbmacherstreik im ersten Halbjahr 1898 dies unmöglich machte.

Nach wie vor war - trotzdem das Sozialistengesetz vor mehr als sieben Jahren gefallen war - antisozialdemokratische Repression seitens des Staates aber auch seitens der Arbeitgeber die Regel. So wusste das "Volksblatt für Anhalt" aus Sandersleben zu berichten, dass 1898 eine sozialdemokratische Unterbezirkskonferenz für Anhalt II in Sandersleben durch den anwesenden Polizeibeamten aufgelöst und der örtliche SPD-Vertrauensmann später zu einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt wurde. Weiterhin würden die Sandersleber Bergleute bei der Reichstagswahl wohl für die Sozialdemokratie stimmen, sich aber aus Angst vor Repressalien nicht in sozialdemokratische Versammlungen trauen. Aus diesen Gründen soll auch der im Herbst 1899 ins Leben gerufene Arbeiterbildungsverein Sandersleben, anders als der zuvor gegründete Bernburger, nicht als "Sozialdemokratischer Verein" bezeichnet worden sein. Man hätte sich in Sandersleben für die "unpolitische" Form des Arbeiterbildungsvereins entschieden und gedenke somit, dem großen Repressionsdruck seitens der Arbeitgeber besser begegnen zu können.[14] Die Gründung von Sozialdemokratischen Vereinen neben dem in Dessau schon bestehenden war überhaupt erst nach der Reichstagswahl 1898 in Angriff genommen worden. Das zuvor bestehende Verbot des In-Verbindung-Tretens von politischen Vereinen hatte bis dahin anscheinend ein zu hohes Risiko für den Bestand der zu begründenden Vereine bedeutet.


Anonyme Denunziation gegen einen Arbeiter der
Deutschen Solvay-Werke 1894
[15]

"Bernburg d. 12.11.1894.
An den
Herrn Direktor Kießel.
Hiermit wollen wir Ihnen benachrichtigen das ein Mann aus ihrem Betrieb Namens Kochlin bei der vorigen Wahl und ebenfalls bei dieser Wahl Flugblätter für die Socialdemukraten zur Viloupe [?] aus getragen hat in der ganzen Umgegend von Bernburg, Güsten und Leopolds hall und auch zu gleicher Zeit den Süddeutschen Posttillion verbreitet welcher in Berlin beschlagnahmt ist. Sollten der Herr Direktor dieses Schreiben keinen Glauben schenken möchten der Herr Direktor Nachsuchung in den Kochlin seiner Behausung machen lassen dann würden die ganzen Socialischen Schriften und Untrieb zu Tage befördert werden. Und als der Kochlin von seiner Flugblatt verbreitung zurück gekommen ist das vorige mahl hat er sich im hiesigen Sociallischen Lokal recht nobel auf geführt wo er sich folgende Redensarten bedient umme mit d[ie] ganzen Großkaptalisten [...]eien müssen sie noch für [oder "nach hier"] un[d] ich bin Annarchist Ein Socialist ist noch viel zu langweilig und wie wir erfahren haben soll dieser Kochlin auch für den Annarchisten Verband steuern."


Der sich in schnellen Zunahme der Wählerstimmen ausweisende Aufstieg der Sozialdemokratie konnte durch die staatliche und arbeitgeberseitige Repression bestenfalls verzögert werden. Um die Jahrhundertwende wurde sie zudem spürbar zurückgefahren. Bezeichnend für einen beginnenden Wandel in der Einstellung zur Sozialdemokratie ist das Verhalten der Direktion der Solvay-Werke anlässlich der Bernburger Stadtverordnetenwahlen 1899 und 1901. Bei der ersten Teilnahme der SPD seit 1891 im Jahre 1899 hatte es noch massive Behinderungen gegeben. 80 Wählern der Tagschicht im Bergwerk Solvayhall war die frühere Ausfahrt zur Wahlteilnahme verweigert worden. Da der bestplatzierte Sozialdemokrat, Viktualienhändler Wilhelm Voigt, nur mit 30 Stimmen unterlag, ist anzunehmen, dass diese Verweigerung den ersten Einzug eines Sozialdemokraten in die Stadtverordnetenversammlung verhinderte. Auch wurden Arbeiter zur Überwachung der Stimmauszählung nicht zugelassen.[16] Bei der folgenden Stadtverordnetenwahl 1901, bei der die Sozialdemokratie erstmals fünf Kandidaten durchbringen konnte, durften die Arbeiter der Frühschicht auf den Kali-Schächten der Solvay-Werke erstmals so zeitig ausfahren, dass sie noch vor Wahlschluss um 14.00 Uhr ihre Stimmen abgeben konnten. Nachdem der Magistrat nicht bereit war, einer zeitlichen Ausdehnung der Wahl zuzustimmen, hatte ein Schreiben des Vorsitzenden des Sozialdemokratischen Vereins, Wilhelm Voigt, an den Generaldirektor der Solvay-Werke und späteren nationalliberalen Reichstagsabgeordneten für den Wahlkreis Bernburg-Cöthen-Ballenstedt, Carl Wessel, diese gravierende Änderung bewirkt.[17] Die ländlichen Arbeitgeber vollzogen diesen Sinneswandel nicht mit, sie versuchten weiterhin, ihre ökonomische Macht auszuspielen. So berichtete das "Volksblatt" noch nach der Reichstagswahl 1912 aus Giersleben, dass auf dem Rittergut alle Frauen, deren Männer nicht auf dem Rittergut beschäftigt waren, dort nicht mehr zur Arbeit zugelassen wurden. Hintergrund der Maßnahme war der begründete Verdacht gegen ihre Männer, sozialdemokratisch gewählt zu haben.[18]

Der direkte politische Einfluss der Sozialdemokratie im Lande war in den 90er Jahren noch gering. Wahlerfolge für die Sozialdemokratie blieben bis 1898 vorerst aus; die bis dahin das politische Leben beherrschenden Honoratiorengruppen suchten mit allen Mitteln, ihre Vorrangstellung zu erhalten. Mittels einer 1895 durch den Landtag verabschiedeten Wahlrechtsverschlechterung wurde die Sozialdemokratie anfänglich mehr als der Hälfte ihrer potentiellen Wählerschaft zu den Landtags- und Stadtverordnetenwahlen beraubt. Sie hatte somit aus eigener Kraft keinerlei Aussicht auf Erfolg, verzichtete bei den Landtagswahlen 1896 folgerichtig auch auf eine Beteiligung und nahm auch an den Bernburger Stadtverordnetenwahlen erstmals wieder 1899 teil.[19] Ein Ausbrechen der Linksliberalen aus der "bürgerlichen" Blocksolidarität und Zusammengehen mit der Sozialdemokratie - wie in Dessau von 1900 bis 1904 geschehen[20] - hat es in Bernburg nicht gegeben. So nahm zwar der freisinnige Justizrat Fiedler in der Landtagswahl 1902 die sozialdemokratischen Wahlmännerstimmen an, ließ sich dafür auch von der Rechten als "auf den Krücken der Sozialdemokratie" in den Landtag gelangt beschimpfen, doch Gegenleistungen gab es dafür nicht. Nur im Falle eines lokal bisher übermächtigen konservativen Gegners - wie in Sandersleben 1902, als man sich 'von der Domäne emanzipierte' - kam es zu Bündnissen.

In den nach allgemeinem, gleichem und direktem Mehrheits-(Männer-)Wahlrecht ausgetragenen Reichstagswahlen im Wahlkreis Anhalt II (Bernburg-Cöthen-Ballenstedt) gestalteten sich die Chancen der Sozialdemokratie deutlich besser. Zwar hatten in den Reichstagswahlen in Anhalt II von Anbeginn bis 1898 regelmäßig die nationalliberalen Kandidaten gesiegt, doch wurden bis einschließlich 1894 auch linksliberale und konservative Kandidaten aufgestellt. In den jeweils zwischen Nationalliberalen und Sozialdemokraten als stärksten Parteien der Hauptwahl ausgetragenen Stichwahlen unterstützten linksliberale und konservative Wähler dann 'natürlich' den Nationalliberalen, so dass dessen Sieg aufgrund der besseren Mobilisierung des "bürgerlichen" resp. "nationalen" Wählerlagers gesichert war.

Die Reichstagswahlen 1898 wichen insofern schon im Vorfeld vom geschilderten Muster ab, als die Linksliberalen und die Konservativen in der Voraussicht eines knappen Wahlausgangs von der Aufstellung eigener Kandidaten absahen. Es hatte sich gezeigt, dass ein einfaches Aussitzen des Sozialdemokratie-Problems wie in den Stadtverordneten- und Landtagswahlen und wie auch noch in den vorherigen Reichstagswahlen für das "bürgerliche" Lager aufgrund der Gleichbehandlung aller Stimmen und der inzwischen voraussehbaren besseren Mobilisierung der sozialdemokratischen Wähler nicht mehr möglich sein würde. Den städtischen Honoratioren im Nationalliberalen Verein Bernburg, d. h. dem Kommerzienrat, dem Fabrikbesitzer, dem Amtsgerichtsrat, dem Buchbindermeister, dem Amtmann,[21] oblag es als stärkster "bürgerlicher" Kraft daher, die vor allem im Landkreis zu findenden Konservativen und die mehr kleinbürgerlich-akademischen Linksliberalen der Städte auf einen gemeinsamen Kandidaten, den bisherigen nationalliberalen Mandatsinhaber Prof. Friedberg aus Halle, festzulegen. Damit sollte der "bürgerliche" Erfolg schon im Hauptwahlgang gesichert werden.

Doch dieses Vorhaben wurde durch die antisemitische "Sonderkandidatur" eines der Deutsch-Sozialen Reformpartei angehörenden Apothekers Brox aus Glauchau in Sachsen, der dort Stadtverordneter und Vorsitzender des Gewerbevereins war, durchkreuzt. Im Ergebnis der Hauptwahl fehlten dem Nationalliberalen Prof. Friedberg die antisemitischen Stimmen zur absoluten Mehrheit. In der Stichwahl triumphierte dann infolge besserer Mobilisierung der Wählerbasis äußerst knapp der gleichfalls in Halle wohnende sozialdemokratische Schneidermeister Albrecht über Prof. Friedberg und gewann den Wahlkreis erstmalig für die Sozialdemokratie.[22]

In der Reichstagswahl 1903 sollte der Wahlkreis aber aufgrund einer jetzt tatsächlichen Einheit des "Bürgertums" gegen die Sozialdemokratie dieser wieder verloren gehen. Zur Erzielung dieser "bürgerlichen" Einheit bediente man sich in Anhalt jetzt allein diesem Zwecke dienender sogenannter "Reichstreuer Wahlvereine".[23] Siegreicher Kandidat der 1903 sowohl Linksliberale als auch Konservative unter ihrer Flagge wieder vereinenden Nationalliberalen war im übrigen der Generaldirektor der Deutschen Solvay-Werke, Carl Wessel. Er versinnbildlichte jetzt sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Dominanz der Deutschen Solvay-Werke in Bernburg.

Erst 1912 sollte das Reichstagsmandat in Anhalt II, wiederum infolge einer Abspaltung aus dem "bürgerlichen" Wählerlager, erneut an die Sozialdemokratie übergehen. Bei der dafür verantwortlichen "Demokratischen Vereinigung" handelte es sich um die am weitesten links stehende "bürgerliche" Gruppierung des Kaiserreichs. Ihre Wähler votierten in der Stichwahl dann auch zum Teil für die Sozialdemokratie.

 

Die Sozialdemokratie hatte ihren Wahlsieg von 1898 also indirekt den nominell beinahe unbedeutenden Antisemiten zu verdanken. Angesichts eines Stimmenvolumens von 3 % der gültigen Stimmen im Kreis könnte man dies leicht als 'antisemitisch-mittelständlerischen Bodensatz' abtun. Es lohnt jedoch ein genauerer Blick auf die lokale Verteilung der Wählerschaft dieser Partei. Diese konzentrierte sich in der 4.700 Einwohner zählenden Kleinstadt Güsten (19 % für Brox) und den benachbarten Gemeinden Giersleben, Osmarsleben und Rathmannsdorf (10 bzw. 9 %).[24] Der tiefere Grund dieser Konzentration ist in den politischen Konflikten in der Stadt Güsten selbst zu suchen, die auch auf die nähere Umgebung ausstrahlten. Bis 1893 war das politische Leben Güstens ausschließlich von der vor den Toren der Stadt ansässigen Rittergutsbesitzerfamilie Kraaz bestimmt worden. Nach dem "Volksblatt für Anhalt" wären die Mitglieder der Familie die "Güstener Repräsentanten des Systems Stumm" gewesen. So, wie der Freiherr von Stumm und Halberg an der Saar in fast unumschränkter Weise über seine Bergarbeiter herrschte, so hätte auch die Familie Kraaz ihre ökonomische Allmacht für politische Zwecke hemmungslos ausgespielt. Konkret wurde ihren Untergebenen z. B. der jeweils abzugebende Wahlzettel direkt von den Arbeitsinspektoren zugestellt.[25]

Um die politische Herrschaft der Familie Kraaz zu brechen war 1893 in Güsten ein Bürgerverein gegründet worden. Im Ergebnis dessen nahm das Stadtverordnetenkollegium jetzt eine unabhängige Stellung ein. Über geschickt vorgebrachte Drohungen verstand es aber der Güstener Vertraute der Familie Kraaz, Sanitätsrat Dr. Schettler, die gerade organisierte Opposition vorerst wieder abzuwürgen. Anscheinend war von ihm auch der Kreis-Schulrat Rümelin unter Druck gesetzt worden, so dass dieser sich im März 1896 genötigt sah, den Austritt des Rektors und der Lehrer aus dem Bürgerverein zu verlangen. Um der Sache weiteren Nachdruck zu verleihen, streute Schettler das Gerücht, dass bei einem eventuellen Rückzieher Rümelins die Angelegenheit dem herzoglichen Minister vorgetragen werde. Daraufhin traten sämtliche Lehrer aus dem Bürgerverein aus. Trotzdem wurden der Rektor und zwei weitere Lehrer, einer davon stellvertretender Stadtverordnetenvorsteher, aus der Stadt versetzt. Im Januar 1898 musste ein weiterer Lehrer wegen Versetzung sein Stadtverordnetenmandat niederlegen. Doch von den Repressionen waren nicht nur die Lehrer betroffen; ein Güterinspektor und ein Bahnmeister, beide etwa 18 Jahre in Güsten ansässig, wurden ebenfalls versetzt. Weiterhin erschienen die Güstener Chausseewärter beim Vorstand des Bürgervereins, um ihren Austritt mitzuteilen und eine Bescheinigung über ihren Austritt, die sie der Kreisdirektion in Bernburg vorzulegen hatten, entgegenzunehmen. Wohlgemerkt, es handelte sich hier weder um einen sozialdemokratischen noch um einen freisinnigen Verein! Auch im Jahr 1897 hielt der Mitgliederrückgang des Bürgervereins weiter an. Der trockene Kommentar des sozialdemokratischen "Volksblattes für Anhalt" zu diesen Verhältnissen der politischen Terrorisierung lautete dahingehend, dass einem die Güstener Liberalen angesichts der anderenorts auch von ihnen gezeigten Illiberalität nicht so recht leid tun könnten.[26]

Trotz der andauernden Schwächung des als Repräsentanten des liberalen Lagers anzusehenden Bürgervereins kam es Anfang 1898 zum offenen Konflikt mit dem als Repräsentanten der Konservativen zu verstehenden Bürgermeister, aus dem die beiden Vorstände des Bürgervereins, Ingenieur Rothe und Kaufmann Boas, siegreich als Stadtverordnetenvorsteher und Stellvertreter hervorgingen.[27] Doch die Auseinandersetzung schwelte weiter, zumal auch beide Lager in der Stadtverordnetenversammlung fast gleich stark waren.

Das sehr gute Wahlergebnis der antisemitischen Deutsch-Sozialen Reformpartei war eine direkte Folge dieser Güstener Verwerfungen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen war es anscheinend - wie sonst üblich - versäumt worden, die unteren Angestellten und Beamten effektiv in die "bürgerliche" Front einzubinden, sie waren 'sich selbst überlassen' worden und suchten sich eine ihnen geeignet erscheinende Parteirichtung. Zumindest legen die Berufe des Einberufers und des Leiters der antisemitischen Wahlversammlung in Bernburg diesen Schluss nahe; es handelte sich um einen Bahnassistenten und einen Postassistenten, beide aus Güsten.[28] Bemerkenswerterweise wäre für die Reichstagswahlen der lokale Konflikt eigentlich irrelevant gewesen, die Konservativen unterstützten den nationalliberalen Kandidaten wegen des vorauszusehenden knappen Ausgangs von Anfang an und an der antisozialdemokratischen Haltung der Antisemiten dürfte es auch keinen Zweifel geben. Doch stand den einer Mittelstandsideologie nachhängenden[29] Wählern der Deutsch-Sozialen Reformpartei in Güsten und Umgebung 1898 die Bedienung ihrer Aufstiegserwartungen näher als das sich in der Bekämpfung der Sozialdemokratie artikulierende 'bürgerliche Gesamtinteresse'. Welche Rolle der Antisemitismus der Deutsch-Sozialen Reformpartei dabei spielte, ist schwer zu beurteilen, er erscheint aber, auch wenn schon im Jahre 1893 in Güsten ein "Antisemitischer Verein" (eventuell auch "Verein gegen das Judentum" genannt) gegründet worden sein soll[30] - eher nachgeordnet. Es gibt zumindest keine Hinweise darauf, dass er die herausragende Motivation gewesen sein könnte, so wie auch von einer organisatorischen Verfestigung des Antisemitismus im Kreis Bernburg insgesamt bis dahin nichts bekannt ist. Beleg dafür ist auch die erwähnte Wahlversammlung in Bernburg, anscheinend verfügte die Partei in der Kreisstadt über keinerlei organisatorische Basis, anderenfalls hätte nicht ein Güstener als Einberufer fungieren müssen.

Auch die Zusammensetzung des Güstener Stadtverordnetenkollegiums im Jahre 1899 aus drei Kaufleuten, zwei Zimmermeistern, jeweils einem Ingenieur, Sanitätsrat, Schlossermeister, Uhrmacher(meister?), Fleischermeister und Maurerpolier spiegelt die Tatsache wider, dass die städtische Politik nach wie vor eine Angelegenheit der Honoratioren war.[31] Die hier nicht repräsentierten Arbeiter fanden ihre politische Heimat in der Sozialdemokratie, waren aber durch den Wahlrechtsraub von 1895 weitestgehend vom Wahlrecht zur Stadtverordnetenversammlung ausgeschlossen. Doch wo gliederten kleine Angestellte und Beamte sich ein? Der Weg zur Sozialdemokratie war ihnen aus ideologischen Gründen - Aufstiegserwartung hier, Verproletarisierungsprognose dort - versperrt. In der Regel ließen sie sich in das "nationale" Wählerlager integrieren, und auch 1898 war dies im Kreis Bernburg die Regel - nur eben Güsten, Giersleben, Osmarsleben und Rathmannsdorf zeigten, dass die Bindungen des "neuen Mittelstandes" an das "nationale" Wählerlager eher schwach waren, weil eine Artikulation eigener Interessen innerhalb dieses antisozialdemokratischen Zweckbündnisses nur schwer zu bewerkstelligen war.

Nach Harold D. Lasswell hat es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine "psychologische Verarmung der unteren Mittelklasse" infolge ihrer Einklemmung zwischen den das politische und gesellschaftliche Geschehen dominierenden Arbeitern und Großbürgern gegeben. Diese "psychologische Verarmung" sei die Basis "für die vielen Massenprotestbewegungen [gewesen], durch die sich die Mittelklassen rächen können." Er bezog allerdings seine Beschreibung der "unteren Mittelklasse" auf die "kleinen Kaufleute, Lehrer, Pastoren, Rechtsanwälte, Ärzte, Bauern und Handwerker".[32] Unter Kenntnis der lokalpolitischen Verhältnisse im Kreis Bernburg wäre dazu anzumerken, dass die genannten Berufsgruppen nur zum Teil für die benannte "psychologische Verarmung" in Beschlag zu nehmen sind. Rechtsanwälte, Ärzte, Pastoren und auch Lehrer sowie Handwerksmeister zählten zumindest in Teilen zur lokalen Honoratiorenschaft; es muss also auf jeden Fall die innere Differenzierung dieser Gruppen beachtet werden. Eine andere Sozialschicht jedoch, für die diese eingeklemmte Stellung zwischen Arbeiter und Großbürger wie für keine andere zutrifft, wird von Lasswell nicht in diese Reihe gestellt. Diese Schicht ist die der mit großen Aufstiegserwartungen angetretenen Angestellten und unteren Beamten. Dem sozialen Status nach größtenteils nicht besser als die Arbeiter gestellt, erwarteten sie vom "bürgerlichen" Lager, dem sie sich größtenteils zugehörig fühlten und das auch gezwungen war, sie für seine Ziele in Anspruch zu nehmen, vor allem eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Geltung, ihres Ansehens. Die fortdauernde Verweigerung dieses Geltungsgewinns musste, unabhängig von parallel dazu sich eventuell vollziehenden Statusverlusten, zu Konflikten führen. Dies schon deshalb, weil die Angestelltenschaft seit Beginn des Jahrhunderts die einzige noch absolut wachsende Sozialschicht war. Der Tag war absehbar, an dem Angestellte und Beamte die Mehrheit eines politischen Lagers stellen würden, das ihnen die nötige Geltung verweigerte. Tatsächlich brach dieser Konflikt nach der Novemberrevolution auch offen aus.

Eine die lokalpolitischen Verhältnisse kurz nach der Jahrhundertwende widerspiegelnde Erzählung des seinerzeitigen Bernburger Oberlehrers Gerhard Heine,[33] verdeutlicht die spezifische Stellung der neuen Mittelschichten. In Heines Erzählung werden die unteren Beamten als durch die den Honoratioreninteressen dienende antisozialdemokratische Blockpolitik vernachlässigt dargestellt, ihre Interessen fänden keine angemessene Vertretung[34] und sie verfügten auch über keine anerkannten profilierten Führungspersonen. Während die Beamten aber durchaus noch als vertretungswürdig wahrgenommen werden, kommen bei Heine - analog zur Darstellung bei Lasswell - kaufmännische, Büro- und Handels- sowie technische Angestellte, als eigenständig handelnde Subjekte der Politik - abgesehen von ihrem Wählerstatus - überhaupt nicht vor. Da Heines Erzählung mit Andeutungen und Überzeichnungen der Bernburger und anhaltischen Politik jener Jahre geradezu gesättigt ist und die in der Erzählung dargestellte politische Konstellation sogar nach Vergleich mit den lokalen Ereignissen auf das Jahr 1903 datiert werden kann, besteht kein Grund zu der Annahme, dass er in diesem Falle die bestehenden Verhältnisse nicht korrekt widergespiegelt haben könnte.

Doch gerade in jenen Jahren beginnt in Bernburg unter dieser Schicht mit dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband eine Organisation aktiv zu werden, die sich als einer der Aktivposten des Antisemitismus in Deutschland profilieren und das politische Feld für die NSDAP vorbereiten sollte. Als größte nichtsozialistische Gewerkschaft dominierte der DHV das Berufsfeld der kaufmännischen Angestellten und war zudem in der Provinz allgemein stärker vertreten als in den Großstädten. In seiner Rundumversorgung von Tarifvertragsgestaltung, Stellenvermittlung, Weiterbildung, Versicherung (Kranken- und Begräbniskasse), Geselligkeit, politischer Orientierung, Verbands-Sparkasse, Sportgruppen- und Jugendarbeit sowie Rechtsschutz boten sich durchaus Anknüpfungspunkte für die spätere nationalsozialistische "Volksgemeinschaft".

Die Bernburger DHV-Ortsgruppe wurde 1899 gegründet und profilierte sich sofort mit Aktionen gegen die Sonntagsarbeit, für den 8-Uhr-Ladenschluss, für die Einrichtung einer kaufmännischen Fortbildungsschule und kaufmännischer Schiedsgerichte.[35] Mit dem DHV begann in der Kreisstadt Bernburg auch die Geschichte des organisierten Antisemitismus. Über die 'normale' antisemitische Beeinflussung der Mitglieder hinaus ist 1907 das Bestehen des "Germanenhorts", einer "engere[n] Vereinigung in der [DHV-]Ortsgruppe" überliefert.[36] Es dürfte sich hierbei um eine Untergliederung des reichsweit agierenden "Bundes der Unbedingten" im DHV, der in besonderer Weise den deutschnationalen Gedanken zu fördern beabsichtigte und eine Elite der Organisation darstellen sollte, gehandelt haben.[37] Auch eine Grabschändung auf dem jüdischen Friedhof 1904[38] könnte auf das Bestehen antisemitisch-völkischer Gruppierungen hindeuten. Doch handelt es sich hier sämtlich um Vorgänge, die gleichsam unter der Oberfläche abliefen und so z. B. auch von Heine in seiner Erzählung aus der Perspektive eines politisch aktiven aber dieser Angestelltenschicht fernstehenden Beobachters nicht aufgegriffen wurden. Überhaupt gibt es in dieser ansonsten sehr kritisch die Zeitverhältnisse spiegelnden Erzählung keinen einzigen Hinweis auf die zeitgenössische gesellschaftliche Relevanz von Antisemitismus. Letzteres erlaubt die Vermutung, dass das Hervortreten des Antisemitismus in Güsten 1898 nur die Oberfläche des Geschehens markiert. Der Antisemitismus wurde lediglich als Medium benutzt, war aber nicht das Wesen der Sache selbst. Hinzu kommt, dass der Fokus der Aufmerksamkeit eben auf der Konfrontation beider politischer Lager lag und nicht auf deren inneren Widersprüchen. Zumal auch die Arbeiterschaft den Höhepunkt ihrer Ausdehnung gerade erreichte, die Expansion der Angestelltenschaft aber erst begonnen hatte.[39]

Doch auch die nach außen auf den ersten Blick so monolithisch erscheinende Sozialdemokratie war keinesfalls frei von inneren Spannungen. Freilich wurden diese angesichts der fortbestehenden Repressionen seitens des Staates und auch seitens der Arbeitgeber von der Öffentlichkeit ferngehalten. Waren es im "nationalen" resp. "bürgerlichen" Lager die unteren Angestelltenschichten, deren Loyalität gegenüber dem eigenen politischen Lager als am geringsten einzuschätzen ist und die potentiell auszubrechen drohten, so waren es auf der Gegenseite im "sozialistischen" resp. "proletarischen" Lager die den Angestellten sozial benachbarten hochqualifizierten industriellen Facharbeiterschichten, deren Loyalität gegenüber dem eigenen Lager brüchig war.

Waren Metallarbeiter noch um 1890 als die Aktivposten der sozialdemokratischen Bewegung in Bernburg hervorgetreten, so hatte sich dies innerhalb eines Jahrzehnts stark verändert. Verantwortlich dafür dürften einerseits die von den Arbeitgebern ausgehende Repression, andererseits aber auch die Organisationserfolge des ca. 1889/90 gegründeten Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereins der Maschinenbau- und Metallarbeiter gewesen sein.[40] Die Kandidatenliste zu den Vertreterwahlen zur Allgemeinen Ortskrankenkasse Bernburg im Jahre 1902 weist denn auch die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften als vor allem durch ungelernte Arbeiter und handwerkliche Facharbeiter vor allem des Bau-Holz-Gewerbes vertreten aus. Deren (Hirsch-Dunckersche?) "Gegner" waren vor allem Metallfacharbeiter und Korbmacher. Überschneidungen in der Berufsstruktur der Listen gab es kaum.[41] Die bei der örtlichen Polizei eingereichten An- und Abmeldungen zum Sozialdemokratischen Verein Bernburg zeichnen ein analoges Bild und weisen für die Jahre 1902/03 45 % ungelernte Arbeiter und nur 13 % Metallfacharbeiter aus. Bis 1907/08 ging der Anteil ungelernter Arbeiter zwar auf 33 % zurück, der Anteil der Metall-Facharbeiter blieb mit nunmehr 12 % aber nahezu konstant. Zweitgrößte Gruppe waren nunmehr die Korbmacher mit 19 % (1902/03: 4 %); an Bedeutung verloren hatten die Bauhandwerker mit 10 % der Mitglieder (1902/03: 15 %).[42]

Bei einer Übertragung der Organisationsraten der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften[43] auf die politische Ebene deutet sich in der Gesamtschau der Quellen an, dass der Kern der sozialdemokratischen Anhängerschaft von handwerklichen Arbeitern gebildet wurde, während die industriellen Arbeiter eher an deren Peripherie zu finden waren. Diese Situation war für Deutschland um die Jahrhundertwende insgesamt typisch.[44] Auch Verluste aus dem proletarischen Wählerpotential an die "bürgerlichen" Parteien waren durchaus die Regel und fielen hier, wie auch in industriellen Zentren anderswo, angesichts der bloßen Masse der Arbeiterschaft kaum ins Auge.

Sicher spielten bei dieser marginalen Bedeutung der Metallarbeiter innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung aber auch schichtenspezifische Abgrenzungsbedürfnisse und Interessenkonflikte eine Rolle. Im Gewerkschaftskartell der Freien Gewerkschaften in Bernburg kam es z. B. 1900 zu einem nicht weiter aufzuklärenden Konflikt der Metallarbeiter mit der Kartellmehrheit, wie er durchaus auch an anderen Orten Anhalts vor dem Ersten Weltkrieg an der Tagesordnung war. Dahinter stand in der Regel die Auffassung, dass den Metallarbeitern nicht die ihnen ihrer Meinung nach zukommende Beachtung (was meint: die Führung) gewährt wurde.

 

Der Blick auf die Zeit um die Jahrhundertwende zeigt, dass gerade wegen der starken Polarisierung innerhalb der beiden politischen Blöcke Spannungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen bestanden, die perspektivisch eine Abspaltung ganzer Gruppen bewirken konnten. Jedoch traten diese Spannungen nur punktuell zu Tage, beispielsweise als Unterstützung der Antisemiten gegen den "bürgerlichen" Einheitskandidaten in Güsten und Umgebung 1898 oder als Konflikt der Metallarbeiter mit der freigewerkschaftlichen Kartellmehrheit in Bernburg 1900.



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3. 1921-1926: Die Ära Hölzke

3.1 Erste Organisationsgründungen

Schon 1912/13 hatte sich die Bürgerblockpolitik des Kaiserreiches überlebt. Sowohl der Reichstagswahlkreis Anhalt II (Bernburg-Cöthen-Ballenstedt) als auch die Mehrheit in der Bernburger Stadtverordnetenversammlung waren trotz "bürgerlicher" Sammlungspolitik an die Sozialdemokratie verlorengegangen. Schon bei den Bernburger Stadtverordnetenwahlen 1911 war eine gemeinsame Liste der SPD und der Demokratischen Vereinigung - der am weitesten links stehenden "bürgerlichen" Gruppierung des Kaiserreichs - mit Erfolg angetreten. 1912 hatte die Demokratische Vereinigung auch zu den Reichstagswahlen einen eigenen Kandidaten aufgestellt. Zumindest ein Teil der demokratischen Wähler votierte in der Stichwahl auf Anraten ihrer Partei für den sozialdemokratischen Kandidaten und verhalf ihm damit zum Sieg über den Nationalliberalen. Aus der Bernburger Stadtverordnetenwahl des Jahres 1913 schließlich gingen die Sozialdemokraten als Sieger und mit jetzt 16 von 30 Mandaten als Inhaber der absoluten Mehrheit hervor. Diese Wahlniederlagen stellten für das "Bürgertum" schwere Demütigungen dar. Der 1895 zur Verhinderung von sozialdemokratischen Wahlerfolgen eingeführte Wahlzensus hatte im Zuge der allgemeinen nominellen Lohnsteigerung nunmehr seine Wirksamkeit verloren. In Reaktion darauf war vom anhaltischen Landtag eine erneute, ab 1914 wirksame Wahlrechtsverschlechterung beschlossen worden.[45] Durch die Aussetzung sämtlicher Wahlen während des Weltkrieges kam dieser erneute Wahlrechtsraub jedoch nicht mehr zur Anwendung.

In den schon reichlich einen Monat nach dem Novemberumsturz im Dezember 1918 durchgeführten Wahlen zur verfassunggebenden Landesversammlung triumphierte die SPD mit 58 % der gültigen Stimmen und bildete zusammen mit der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (34 %) eine Koalition, die - mit einer viermonatigen Bürgerblock-Unterbrechung 1924 - bis zum Frühjahr 1932 Bestand haben sollte.

Die Novemberrevolution hatte die Demütigung des "Bürgertums" weiter verstärkt; der ehemalige Korbmacher, sozialdemokratische Parteizeitungsredakteur und vormalige Stadtverordnetenvorsteher Max Günther wurde zum Kreisdirektor (Landrat) gewählt und die bis dahin vor allem als städtische Angelegenheit angesehene "Politik" hielt Einzug in die Landgemeinden.[46] In der Mehrzahl der Landgemeinden übernahmen die Sozialdemokraten die Mehrheit im Gemeinderat. Im Gegensatz zu Bernburg sollte auf dem Lande die Bürgerblockpolitik meist bis zum Ende der Weimarer Republik Bestand haben - schon wegen des allgemeinen Mangels an politischer Profilierung einerseits und wegen der übermächtigen Stellung einzelner Personen auf der "bürgerlichen" Seite andererseits.

In den ersten Stadtverordnetenwahlen nach der Novemberrevolution Anfang 1919 gelangte die Bürgerblockpolitik, in deren Mittelpunkt die Interessen der (meist nationalliberalen) Honoratioren standen, auch nach außen hin deutlich sichtbar an die Grenzen ihrer Bindungskraft. Das "Bürgertum" der Städte saß nunmehr in der selbst geschaffenen Ausgrenzungsfalle und angesichts der Zusammensetzung der Einwohnerschaft gab es auch kaum Aussicht, in überschaubaren Zeiträumen wieder in den Alleinbesitz der politischen Macht zu gelangen. Nichtsdestotrotz wurde die Feindschaft zur Sozialdemokratie in großen Teilen des "Bürgertums" weiterhin kultiviert. Anstelle von Parteienpolitik wurde weiterhin Lagerpolitik getrieben, eine "bürgerliche" Einheitsliste wurde nach wie vor als das Mittel angesehen, mit dem man der Bedrohung aus dem in der Nachkriegskrise schon bald in drei Parteien gespaltenen "sozialistischen" Lager beikommen wollte. Dieser Vorrang antisozialdemokratischer Politikausrichtung reproduzierte sich in der Weimarer Zeit ständig aufs neue; intransigentes Verhalten ging nicht von der seit 1918 im Land in Koalition mit der DDP regierenden SPD aus, sondern von den "bürgerlichen" Parteien.

Zur Bernburger Stadtverordnetenwahl im Februar 1919 traten neben der jetzt politisch dominanten SPD und der zu dieser Zeit noch unbedeutenden USPD sowie dem die rechtsliberalen und konservativen Kreise des "Bürgertums" repräsentierenden Bürgerverein auch die Deutsche Demokratische Partei und eine Angestelltenliste an. Die beiden letzteren kündigten somit die 'bürgerliche Solidarität' auf. Zur Verteidigung seiner Partei gegen die daraufhin erhobenen Vorwürfe brachte der der DDP angehörende Lehrer Fritsche vor, es wären naturgemäß "die rechtsstehenden Parteien, die ein leidenschaftliches Interesse an der Aufstellung der Kandidaten durch den 'Bürgerverein' [in Form einer Einheitsliste - T. K.] bekunden. Für sie hat die laut verkündete Devise 'Einigkeit macht stark' erfahrungsgemäß viel Verlockendes, da die erstrebte Einigkeit eben sie stark macht."[47]

Im Prinzip hätte auch die hinter der Angestelltenliste stehende Arbeitsgemeinschaft der Angestelltenverbände Bernburgs diese Argumentation unterschreiben können. Warum hätte es ohne beträchtliche Interessendivergenzen mit dem Bürgerverein sonst einer gesonderten Liste bedurft? An dieser Feststellung ändert auch die Tatsache nichts, dass die Angestellten und der Bürgerverein eine Listenverbindung eingegangen waren, und die Aufstellung einer gesonderten Angestelltenliste nach außen hin mit dem vorherigen Ausbrechen der DDP aus der 'bürgerlichen Solidarität' zu legitimieren versucht wurde.[48]

Die nächste Stadtverordnetenwahl im Jahre 1921 brachte den ersten direkten Vorläufer der NSDAP hervor, die Deutsch-soziale Partei.[49] Deren Ortsgruppe war kurz vor der Wahl gegründet worden und konnte ohne großen Wahlkampf sofort ein Mandat erringen. Entgegen der Angestelltenliste des Jahres 1919 gab es jetzt auch keine Listenverbindung mit der erneut aufgestellten "bürgerlichen" Einheitsliste mehr. Der Bruch mit dem etablierten "Bürgertum" war offensichtlich. Mit der Deutsch-sozialen Partei des Jahres 1921 trat erstmalig ein amorphes völkisch-nationalistisches Spektrum an die Öffentlichkeit, das in den Folgejahren an personellem Zulauf und organisatorischer Vielfalt gewinnen und 1923 in der erstmaligen Gründung einer NSDAP-Ortsgruppe münden sollte. Zwischen 1921 und 1923 und teilweise auch noch darüber hinaus existierten im Kreis Bernburg neben der Deutsch-Sozialen Partei der eher noch stärker antisemitische und schon durchweg das Hakenkreuz als Erkennungszeichen benutzende Deutschvölkische Schutz- und Trutz-Bund, der Jungdeutsche Orden,[50] der Bund Oberland, eine gleichfalls das germanische Sonnenrad als Symbol benutzende Treuschaft Lützow, deren Benennung eine Bedrohungslage analog der antinapoleonischen Befreiungskriege vor mehr als 100 Jahren simplifizierte[51] und aus der später die SA hervorgehen sollte, und ein Bund Wehrwolf, dessen Symbol ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen war. Auch der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und der deutschnationale Stahlhelm Bund der Frontsoldaten wie auch der Marineverein Bernburg sind zumindest in Teilen dieser Gruppe zuzurechnen. Der "Ring der Getreuen" im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband, eine geheime Vereinigung von Mitgliedern, die mindestens fünf Jahre Mitglied sein mussten, einen besonderen Beitrag bezahlten und selbst den Ortsverwaltungen als Mitglieder dieses Ringes nicht bekannt waren, verwandte zudem im Zentrum seines Emblems zwischen 1921 und 1925 das Hakenkreuz.[52]

Alle diese Organisationen waren durch Mehrfachmitgliedschaften bzw. durch ständigen Mitgliederaustausch und informelle Bündnisse miteinander und mit dem vor allem im Jahre 1923 im ländlichen Raum schnell an Boden gewinnenden nationalistischen Stahlhelm Bund der Frontsoldaten und den örtlichen Krieger- und Militärvereinen verbunden[53] und erneuerten ihren Zusammenhalt permanent durch zahlreiche "nationale" Feierlichkeiten wie Fahnenweihen neugegründeter Ortsgruppen, "Deutsche Tage" und dgl. Auch starke Querverbindungen zur "bürgerlichen" Jugendbewegung scheint es gegeben zu haben. So war der spätere NSDAP-Reichstagsabgeordnete und SA-Gruppenführer Rudolf Michaelis aus Hecklingen zwischen 1917 und 1923 Führer in der Deutschen Pfadfinderbewegung, im gleichen Zeitraum aber auch 1920 Angehöriger der Marinebrigade Ehrhardt und 1923 Mitglied der Schwarzen Reichswehr und der NSDAP.[54] Die Zugehörigkeit zur jeweiligen konkreten Organisation wurde in erster Linie nicht durch deren politisch-ideologische Zielsetzungen sondern eher durch Bekanntschaftskreise und durch die Loyalität bestimmten Führungspersonen gegenüber bestimmt.

Stempel Treuschaft Lützow, 3. Abteilung Dessau

Emblem Der Wehrwolf Bund deutscher Männer und Frontkrieger
Im Zentrum dieses völkisch-nationalistischen Spektrums stand bis 1923 die Doppel-Organisation aus Deutsch-sozialer Partei und 1922 gegründeter Treuschaft Lützow. Während die Deutsch-soziale Partei als legales politisches Instrument agierte, blieben die Existenz und paramilitärische Struktur der Treuschaft Lützow der Öffentlichkeit zumindest vorerst verborgen. Doch gerade sie wird, wenn man den späteren Ermittlungen Glauben schenkt, die mitgliederstärkere gewesen sein. Eine legale und auch öffentlich sichtbare Korona um diese beiden Organisationen herum dürfte Der Wehrwolf Bund deutscher Männer gebildet haben. Er stellte vor allem ideologisch eine vorweggenommene NSDAP im kleinen dar und hob sich aus dem restlichen völkisch-nationalistischen Spektrum durch die Betonung des Volksgemeinschafts-Gedankens heraus.[55]
Insofern erinnert er an das Gleichnis Ingmar Bergmans vom "Schlangenei", durch dessen dünne Schale man das schon fertig ausgebildete Reptil erblicken könne. Der Gründer und Führer dieses seit seiner Gründung im Januar 1923 in Halle/Saale residierenden Bundes, der Gymnasiallehrer Fritz Kloppe, stammte im übrigen aus Bernburg.[56]

Seit Anfang 1924 stand der Wehrwolf auch in einem formellen Bündnis mit dem Stahlhelm und sollte jene Personen organisieren, die durch ihre Jugend am Fronteinsatz gehindert worden waren.[57] In den turbulenten Herbsttagen des Jahres 1923, als der Kreis Bernburg das Zentrum sowohl der links- als auch der rechtsradikalen Bewegung in Anhalt war,[58] kam es zur ersten formellen Gründung einer Bernburger NSDAP-Ortsgruppe. In gewisser Weise wirkte sich hier auch die Nähe des deutlich radikalisierteren (preußischen) Staßfurt aus. Die Angaben über den genauen Termin dieser Ortsgruppengründung bewegen sich zwischen dem 11. September und dem 9. November. Auf jeden Fall wäre eine Bestätigung durch die Reichsleitung aufgrund des nach dem fehlgeschlagenen Münchener Hitler-Putsch erlassenen NSDAP-Verbotes nicht mehr möglich gewesen. Eine erneute Ortsgruppengründung, d. h. eine Legalisierung der bestehenden Gruppe, soll mit 67 Mitgliedern wahrscheinlich unter dem Namen Nationalsozialistische Freiheitspartei im März/April 1924 erfolgt sein.[59]

Die Treuschaft Lützow, die unter das seit 1923 bestehende reichsweite SA-Verbot fiel, wurde in Anhalt im September 1924 unter Umgehung dieses Verbotes und unter Ausbildung von militärischen Strukturen in den neu gegründeten Frontbann überführt, der zudem als Dachorganisation aller völkischen Wehrverbände gedacht war. Damit war eine neue Qualität der Organisationsanbindung erreicht; während die Treuschaft Lützow nur im mitteldeutschen Raum aktiv gewesen war handelte es sich bei dem von Ernst Röhm gegründeten Frontbann um eine reichsweite Organisation. Die Ausbildung der Frontbann-Mitgliedschaft, die zu großen Teilen mit der NSDAP-Mitgliedschaft identisch gewesen sein wird, erfolgte in Bernburg teilweise durch aktive Unteroffiziere der Reichswehr. Gegenüber dem Wehrwolf, dessen Gauleitung Anhalt sich bis Anfang 1926 weiterhin in Bernburg befand, bestand aber anscheinend wegen seiner Anbindung an den Stahlhelm inzwischen ein Unvereinbarkeitsbeschluss.[60]

Das stabilisierte rechtsradikale Spektrum konnte in den beiden anhaltischen Landtagswahlen des Jahres 1924 unter den Firmierungen Völkisch-Sozialer Freiheitsblock bzw. Nationalsozialistische Freiheitspartei zwei bzw. eines der 36 Mandate erlangen.[61] Auch in der Bernburger Stadtverordnetenwahl erlangten die Völkischen jetzt zwei Mandate.[62] Doch der Höhepunkt rechter Radikalisierung war vorerst überschritten, in den verschiedenen Wahlen des Jahres 1924 ging in Bernburg der Anteil der NSDAP-Vorläuferorganisationen von 11 % (4. Mai) auf 7 % der gültigen Stimmen (7. Dezember) kontinuierlich zurück. Öffentliche NSDAP-Versammlungen erzielten im "Bürgertum" keine Resonanz mehr.[63] Die Beruhigung der Verhältnisse in der "relativen Stabilisierung" in der zweiten Hälfte der 20er Jahre verfehlte auch seine Wirkung auf den rechten Rand des politischen Spektrums nicht. Nach der Aufhebung des NSDAP-Verbots 1925 wurden zwar im Kreis Bernburg erneut NSDAP-Ortsgruppen gebildet. Doch vorläufigen Bestand hatten nur die in Aderstedt (sogar noch vor der Bernburger Ortsgruppe gegründete[64]) und die in der Kleinstadt Güsten; die Ortsgruppe Freckleben ging nach kurzer Zeit wieder ein. Auch in Bernburg selbst stagnierte die Mitgliederzahl der Ortsgruppe 1925/26 bei etwa 70 Mitgliedern,[65] verminderte sich wahrscheinlich sogar, und spätestens nach dem Weggange des Ortsgruppenleiters Hölzke kam 1928 deren Tätigkeit wohl gänzlich zum Erliegen. Auch in der Landeshauptstadt Dessau stand die Organisation der NSDAP in jener Zeit vor dem Zusammenbruch, die Mitgliederzahl ging dort gleichfalls auf ein Minimum zurück.

Neben der NSDAP selbst wurde schon 1925 in Bernburg ein - freilich mitgliederschwacher - Völkischer Frauenbund gegründet, der 1926 in den Deutschen Frauenorden, eine Vorläuferorganisation der Nationalsozialistischen Frauenschaft, überführt wurde.[66]

Die NSDAP blieb im ersten Mitgliederaufschwung bis 1926 im wesentlichen auf die Kreisstadt beschränkt. In den Landgemeinden konnten in jenen Jahren Radikalisierungstendenzen noch durch die Deutschnationalen, resp. den Stahlhelm aufgefangen werden, zumal auch der Wehrwolf 1924 zumindest zeitweise in diese Front eingebunden war. In Oberpeißen z. B. bestand eine allem Anschein nach sehr starke Wehrwolf-Gruppe, ohne dass Tendenzen zur Bildung einer NSDAP-Ortsgruppe zu erkennen wären. Von 124 Personen, für die im Zeitraum 1921 bis 1926 im Untersuchungsgebiet eine Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Vorgängerparteien nachgewiesen werden konnte, wohnten allein 84 in Bernburg, weitere 25 in Aderstedt vor den Toren der Kreisstadt, 12 in Güsten und Amesdorf. Eine weitere relativ starke Mitgliedschaft bestand in Staßfurt-Leopoldshall, der wohl auch die drei Mitglieder der Nachbarstadt Hecklingen zuzurechnen sind.[67] Es wäre verfehlt, diese frühen Mitglieder der Jahre 1921 bis 1926 durchweg auch späterhin in Aktivistenfunktionen der NSDAP zu erwarten; zum einen gab es schon in dieser Periode eine starke Mitgliederfluktuation, zum anderen trat ein großer Teil der einmal ausgetretenen, ausgeschlossenen oder gestrichenen Mitglieder der Partei überhaupt nicht mehr oder erst relativ spät wieder bei.

Zentrale Figuren der Organisationsphase zwischen 1921 und 1926 waren der Justizsekretär am Amtsgericht Bernburg, Gustav Hölzke, und der Syndikus der land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgeberverbände in Bernburg, Dr. Robert Tesch. Hölzke hatte seit 1921/22 den Aufbau der Treuschaft Lützow betrieben und fungierte parallel dazu 1923 als Gauvorsitzender Anhalt des Wehrwolf. Dr. Tesch - völkisch organisiert seit 1910 - war seit 1921 Ortsgruppenführer Bernburg und Gauleiter Sachsen-Anhalt-Thüringen des dann 1922 formell aufgelösten Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes und Verleger des bis April 1925 zwei mal wöchentlich erscheinenden anhaltischen Parteiorgans "Der Freiheitskampf". Die Rivalität zwischen Hölzke und Dr. Tesch führte 1925 zum zeitweiligen Bestehen zweier NSDAP-Ortsgruppen in Bernburg, die jeweils den Anspruch erhoben, die 'wahre' nationalsozialistische Organisation zu sein. Als Führer der NSDAP-Ortsgruppe setzte sich schließlich Hölzke in erster Linie wegen der Protektion des anhaltischen NSDAP-Führers, Gaugeschäftsführer Hauptmann a. D. Loeper, und dessen Verbindungen zur NSDAP-Reichsleitung gegen seinen Konkurrenten durch.[68] Die Oppositionsgruppe um Dr. Tesch wurde von der Reichsleitung, obwohl ihre Mitgliedschaftsanmeldungen dort eher eingingen als die der Hölzke-Gruppe, nicht anerkannt.[69]

Seit 1926 verloren die Bernburger Nationalsozialisten ihre Führungspersönlichkeiten. Dr. Tesch verließ nach weiteren persönlichen Scharmützeln mit Hölzke, ausgetragen in der lokalen Presse und auch öffentlich handgreiflich vor der Post,[70] Bernburg im April 1926 und ging nach Schlesien.[71] Hölzke wurde 1928 im Ergebnis einer Reihe von Disziplinarverfahren aus dem anhaltischen Staatsdienst entlassen. Zuvor schon war er auch in der eigenen Partei wegen seines - aus der Sicht der Opponenten - amoralischen Lebenswandels und nicht ausreichender Vorbildhaftigkeit stark in die Kritik geraten und hatte, offensichtlich, um die innerparteilichen Wogen zu glätten, schon 1926/27 den Vorsitz in der Ortsgruppe zeitweise zumindest formal abgeben müssen.[72] Auch der Führer der Aderstedter NSDAP-Ortsgruppe, der Steiger Karl Möhring, verließ Aderstedt 1926. Innerhalb kurzer Zeit war die Organisation ihrer Führerschaft entkleidet, was neben der allgemeinen Beruhigung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse als mitverursachend für deren Niedergang angesehen werden muss. Die Bernburger NSDAP brachte in der Folgezeit keine regional bzw. überregional bedeutsamen Persönlichkeiten mehr hervor, worin der hauptsächliche Grund für ihre relativ späte Reorganisation erst 1930 zu suchen ist.

In der dauerhaften Existenz völkisch-nationalistischer Gruppen in Bernburg spiegelte sich lediglich in extremer Weise die Verfassung des "Bürgertums" insgesamt. So trat unter den Angestellten des Bernburger Amtsgerichts nicht nur der NSDAP-Ortsgruppenführer Gustav Hölzke mit einer extremen politischen Positionierung hervor, sondern auch die augenscheinlich weit auf der Rechten stehenden Amtsgerichtsräte Hachtmann und Dr. Röver, letzterer auch als lokaler Wehrwolfführer.

Der von den völkisch-nationalistischen Gruppen gepflegte und weithin auf Resonanz stoßende Stil der politischen Auseinandersetzung dokumentiert sich in der "Mitteldeutschen Presse" (Staßfurt), dem Organ des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, mit der insbesondere ländliche Arbeitgeber im Kreis Bernburg auch ihre Beschäftigten flächendeckend 'versorgten', und zu deren Standardrepertoire Leitartikel wie "Der jüdische Wurm an der Wurzel der deutschen Eiche" gehörten.[73] In einem relativ kurzen, gegen die Bernburger sozialdemokratische "Volkswacht" gerichteten Artikel vom 10. Januar 1922 wurde z. B. deren Redakteur Budnarowski mit den Titulierungen "Jude mit dem Runkelrübenkopf", "Maulheld und Dreckjude", "Lumpenjude", "galizischer Jude" bedacht. Nur am Rande sei bemerkt, dass Budnarowski kein Jude war und es dem Redakteur der "Mitteldeutschen Presse" nur darum ging, alle Feindesmerkmale vereinigt auf eine Hassperson darzustellen. Schon 1923/24 wurden Juden, aber auch politisch links stehende Einwohner in den Straßen der Stadt Bernburg wie auch in den Orten des Kreisgebietes von nicht selten mit "Spazierstöcken" (und mitunter auch anderen Waffen) ausgerüsteten Gruppen von Jugendlichen und jungen Männern belästigt und verprügelt. Die Täter sind in erster Linie dem Wehrwolf, aber auch der "Treuschaft Lützow", der die Jugendarbeit für den Stahlhelm besorgenden Halbwüchsigen-Vereinigung Scharnhorst (Bund der Jungmannen) und dem Stahlhelm selbst zuzuordnen. Die flächendeckende Gründung von Reichsbanner-Ortsgruppen im gesamten Kreis Bernburg ist als Abwehrmaßnahme gegen derartige Vorfälle anzusehen, es gab in jedem Falle ein zeitliches Nacheinander von Stahlhelm, der nach eigenen Angaben schon Ende 1924 in allen Orten Anhalts festen Fuß gefasst hatte,[74] und Reichsbanner.[75] Ein Stahlhelmeigener Rückblick aus dem Jahre 1926 bekannte sich dann auch nur wenig verblümt dazu, die politische Polarisierung erst in das bis dahin in der Nachkriegskrise gemäßigte und im wesentlichen erschütterungsfreie Anhalt hineingetragen zu haben.[76] Noch während des sogenannten Kapp-Putsches im März 1920 war es in Bernburg und Umgebung völlig ruhig geblieben.[77] Die besagte, vor allem über den Stahlhelm hereingetragene, politische Polarisierung und Radikalisierung bedeutet jedoch nicht, dass unter dem Bestehen dieser Polarisierung nicht auch vom Reichsbanner an der Gewaltspirale gedreht worden wäre; die Kultivierung gegenseitiger Feindschaft dürfte in den meisten Fällen lokal eine starke Eigendynamik erlangt haben.

Der in diesem Zusammenhang schwerwiegendste gewalttätige Vorfall ereignete sich im Juli 1923. Der Stahlhelm und die rechts von ihm stehenden Organisationen glaubten zu wissen, dass anlässlich des "Antifaschistentages" am 29. Juli die Revolution in Bernburg ausgelöst werden sollte. Kommunisten und Sozialdemokraten wussten freilich nichts davon, was den Stahlhelm und Gefolgschaft jedoch nicht daran hinderte, in Anmaßung von Polizeibefugnissen in der ganzen Stadt Patrouille zu gehen und die Passanten auf Waffen zu untersuchen. Nachdem sich keiner der politischen Gegner provozieren ließ schoss in der Nacht schließlich ein dem Stahlhelm angehörender 43-jähriger Bankbote, Teilnehmer des Chinafeldzuges 1900/01 und des Weltkrieges seit 1914, mit seinem mitgeführten Dienstrevolver auf eine Gruppe Kommunisten. Er verletzte einen von ihnen und erhielt im nachfolgenden Handgemenge mit einem Passanten, einem ehemaligen Kommunisten, der ihm die Waffe zu entringen versuchte, selbst einen Schuss aus der eigenen Waffe, an dessen Folgen er ein halbes Jahr später verstarb.[78]

Der Einfluss der völkisch-nationalistischen Gruppen reichte in Bernburg bis in die rechtsliberale Deutsche Volkspartei, deren Parteisekretär Joseph Schmid von der "Volkswacht" sogar als geistiger Kopf des völkischen Spektrums angesehen wurde. Er machte durch Aussagen wie: "Die Familie Cohn regiert die Republik, aber die Volkserhebung kommt, der Sturm bricht los." von sich reden.[79] Nach längerer Zeit wurde er durch die Deutsche Volkspartei entlassen und fand als Stahlhelm-Kreisleiter neue Beschäftigung. Ein weiterer prominenter Überläufer aus der DVP war der Ingenieur und Fabrikbesitzer August Schweinefuß, der 1919 im Vorstand der DVP-Ortsgruppe und 1921 noch auf der "Vereinigten Bürgerliste" zur Stadtverordnetenwahl zu finden war[80] und 1924 für die Nationalsozialistische Freiheitspartei - so die Firmierung während des NSDAP-Verbots - in die Stadtverordnetenversammlung einzog.

Zur Zeit des Münchener Hitlerputsches im Oktober 1923, als Angehörige des Stahlhelm, des Wehrwolf und der Treuschaft Lützow aus Bernburg und anderen Orten mit unbekanntem bzw. geheimgehaltenem Ziel verschwanden und sich in die Schwarze Reichswehr einreihten,[81] sah selbst der der DVP nahestehende und die "bürgerliche" Mehrheitsmeinung vorgebende "Anhalter Kurier" in Bayern den "Sammelpunkt all derer, die noch an den deutschen Gedanken glaubten" und die "undeutschen Ideen des Marxismus" zu bekämpfen beabsichtigten. Deshalb: "hinaus aus der Regierung mit allen, die von Marx nicht los können und ihrem internationalen demokratischen [! - T.K.] Anhang. Berlin hat die letzte Staatsnotwendigkeit nicht in Erbpacht, wenn dort kein Sinn mehr ist für das, was Deutschland nottut, oder kein Mut, es durchzuführen, dann soll eben München führen."[82]



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3.2 Mitgliederstruktur und Eintrittsmotivationen der frühen NSDAP-Mitglieder

Die soziale Zusammensetzung der NSDAP und ihrer Vorgänger- bzw. Ersatzorganisationen im Zeitraum zwischen 1921 und 1926 gestaltete sich im Untersuchungsgebiet nicht einheitlich, sondern wies zwei unterschiedliche Ausprägungen auf: den "Normalfall" Bernburg/Güsten/Amesdorf/Hecklingen und die "Ausnahme" Aderstedt. War die Partei im "Normalfall" ihrer Berufsstruktur nach mehrheitlich eine Partei der neuen und alten Mittelschichten, in der allein schon die kaufmännischen Angestellten und die Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes jeweils ein Fünftel der Mitgliedschaft ausmachten, so war die NSDAP in Aderstedt eine fast reine Arbeiterpartei. Auch hinsichtlich des Durchschnittsalters gibt es große Differenzen: 30 Jahre im "Normalfall" Bernburg/Güsten/Amesdorf/Hecklingen, 42 Jahre in Aderstedt. Und schließlich gab es in Aderstedt keine Frauen in der Organisation, im "Normalfall" aber wenigstens 7 % (die jedoch alle aus Bernburg kamen).[83] Diese unterschiedlichen Ausprägungen von Parteimitgliedschaft bedürfen differenzierter Erklärungen, für Aderstedt bestanden offensichtlich andere Entstehungsbedingungen.

Im Kern war die NSDAP - auf den "Normalfall" Bernburg/Güsten/Amesdorf/Hecklingen bezogen - eine Partei der unteren Angestellten und Beamten, in denen wiederum die kaufmännischen Angestellten eine zentrale Position einnahmen. Für die Existenz der NSDAP und die Dominanz der unteren Angestellten- und Beamten in ihr war eine Kombination aus verweigerter gesellschaftlicher Anerkennung, angespannter Erwerbslage und erheblicher völkisch-antisemitischer Vorbelastung ebendieser unteren Angestellten- und Beamtenschichten, insonderheit der kaufmännischen Angestellten, maßgeblich. Obwohl die Angestelltenliste zu den Bernburger Stadtverordnetenwahlen 1919 noch keine direkte organisatorische oder personelle Verbindungslinie zum bald darauf in Bernburg agierenden völkisch-nationalistischen politischen Spektrum aufweisen sollte war mit ihr doch schon dessen sozialer Rahmen umrissen: von den elf Kandidaten der Angestelltenliste waren sieben kaufmännische Angestellte.[84]

Die Kandidatenliste der Deutsch-sozialen Partei zu den Stadtverordnetenwahlen 1921 bewegte sich im gleichen Rahmen und zeigte eine unterbürgerliche Profilierung mit proletarischem Einschlag. Ihre sechs bisher in der lokalen Politik nicht hervorgetretenen Kandidaten gaben als Berufe Wagenschreiber, Materialienverwalter, Vorarbeiter, Reserve-Lokomotivführer, Angestellter und Kontorist an.[85] Die Liste der Deutsch-sozialen Partei repräsentierte jene Schichten, die auf der "Vereinigten Bürgerliste" zu kurz kamen, und dokumentierte damit auch eine soziale Trennlinie innerhalb des gegenüber der Arbeiterbewegung einig sein sollenden "Bürgertums". Die Zusammensetzung des Bernburger "Bürgertums" scheint nämlich im 1921er Wahlvorschlag "Vereinigte Bürgerliste"[86] auf den Kopf gestellt. Dieser liest sich wie eine Fortsetzung der Honoratiorenpolitik des Kaiserreiches: allein 17 der 30 Kandidaten waren Fabrikbesitzer, Firmeninhaber, Direktor, Handwerksmeister, Händler, Apotheker, Gastwirt, Arzt oder Rechtsanwalt. Selbst bei großzügiger Auslegung der Berufsangaben sind jedoch insgesamt nur neun Angestellte, Beamte und Lehrer auf der Liste auszumachen (vier weitere Kandidaten waren Frauen bzw. Rentner).

Wie schon für 1919 stellt sich auch für das Jahr 1921 wieder die Frage, ob die Differenzen der rechten 'Abweichler', in diesem Falle der Deutsch-sozialen Partei, inhaltlicher oder personeller Natur waren. Einen direkten Hinweis darauf gibt es nicht. Einige Indizien deuten jedoch darauf hin, dass es sich im Kern tatsächlich um inhaltliche Differenzen handelte. Die sozialdemokratische Lokalzeitung "Volkswacht" berichtete, die programmatische Kernaussage der Deutsch-Sozialen in Bernburg liefe auf die Abwehr einer 'jüdisch-marxistisch-imperialistischen Weltverschwörung' hinaus. Doch hätte es deswegen nicht eines eigenständigen Auftretens bedurft. Antisemitismus und Antisozialdemokratismus sowieso waren auch links von der Deutsch-Sozialen Partei in überreichlichem Maße anzutreffen. So zeigte sich denn auch die "Volkswacht" weniger wegen der Deutsch-Sozialen als wegen der Präsenz einiger schon als "Judenfresser" bekannter Persönlichkeiten auf der 1921er "bürgerlichen" Einheitsliste, die sie im übrigen ob ihrer Profillosigkeit in ihrer Spannweite von linksliberal bis konservativ als "Kreuzung aus Karpfen und Kaninchen" bezeichnete, äußerst besorgt. Tatsächlich scheint von einem nicht unbedeutenden Teil des "Bürgertums" die doppelte Demütigung des Jahres 1918 - Weltkriegsniederlage und innenpolitischer Machtverlust - mit einer Aktivierung unterschwellig vorhandener antisemitischer Denkmuster verarbeitet worden zu sein. Einzig die linksliberale Deutsche Demokratische Partei kann unter den "bürgerlichen" Parteien in Bernburg als frei von Antisemitismus bezeichnet werden.[87] Sie war jedoch innerhalb des Bernbürger "Bürgertums" unbedeutend und ordnete sich seit 1921 wieder eher dem 'bürgerlichen Gesamtinteresse' unter, unternahm also nicht - wie in der Landeshauptstadt Dessau - den Versuch, eine die politischen Lager partiell überbrückende Funktion einzunehmen.[88]

Die Existenz der Deutsch-Sozialen wäre daher nur zu einem geringeren Teil daraus zu erklären, dass diejenigen, denen der in der "bürgerlichen" Einheitsliste vertretene 'normale' Nationalismus und Antisemitismus als nicht ausreichend erschien, in der Gemeinderatswahl 1921 die radikalere DSP unterstützten. Viel bedeutender war die mangelnde Bereitschaft des "vereinigten Bürgertums", den unterbürgerlichen Schichten über eine adäquate Präsenz auf der Liste auch eine entsprechende Geltung nach außen zu verschaffen. Dies provozierte die Gründung der DSP mit einem von Beginn an erheblichen Masseneinfluss.[89] Die von der DSP vertretenen sozialdemagogischen Forderungen bildeten nicht die eigentliche Grundlage, sondern lediglich die Legitimierung ihrer Existenz, die Möglichkeit, sich von den anderen "bürgerlichen" Parteien abzuheben.[90] Die Zusammensetzung der Kandidatenliste entsprach dabei jedoch nicht der selbstbenannten Zielgruppe, der Arbeiterschaft.[91] Wenn auch über die erste öffentliche Versammlung berichtet wurde, dass noch am selben Abend eine Anzahl Arbeiter der Partei beigetreten sei,[92] so sagt das - so es denn der Wahrheit entsprach - über die tatsächliche Zusammensetzung der Mitgliedschaft nicht viel aus.

Zudem befanden sich die unteren Angestelltengruppen, insbesondere wieder die kaufmännischen Angestellten, bereits seit Kriegsende in einer schwierigen sozialen Lage, die geeignet war, eine Radikalisierung hervorzurufen. Schon Anfang 1919 warnte der Arbeitsnachweisverband Sachsen-Anhalt vor weiterem Zustrom in die völlig überlaufenen kaufmännischen Angestelltenberufe, sei es von aus dem Heeresdienst oder auch von aus der Schule Entlassenen. In Bernburg selbst gelang es nicht, die aus dem Heeresdienst entlassenen Angestellten wieder in ihre ehemaligen Tätigkeiten einzugliedern; die während des Krieges eingestellten Hilfskräfte waren anscheinend nicht bereit, ihre Positionen zu räumen. Durch den Städtischen Arbeitsnachweis Bernburg gemachte Arbeitsangebote wie Ochsentreiben in Dröbel, Kohlenschaufeln auf der Zuckerfabrik Ilberstedt oder Arbeit beim Wegebau wurden als offene Brüskierung empfunden. Das Vaterland wäre dem nun stellungslosen Kriegsteilnehmer zu Dank verpflichtet, aber stattdessen würden andere Menschen ihm seine Arbeit streitig machen, die diesen Erwerb noch nicht einmal dringend nötig hätten, und die Stadtverwaltung würde sich weigern, solche Personen zu entlassen und Kriegsteilnehmer dafür einzustellen.[93]

Diese angespannte Erwerbslage erfuhr im Übergang von der Nachkriegskrise zur allgemeinen Stabilisierung noch eine weitere zeitweilige Verschärfung. In Bernburg und Umgegend herrschte 1923/24 eine im Vergleich zum Reich exorbitant hohe Arbeitslosigkeit, die auch die Angestellten nicht verschonte. Die entsprechenden Zahlen lagen seit Anfang 1923 über dem Reichsdurchschnitt und erreichten bis zum elfeinhalbfachen des Reichswertes (Anfang 1924)!

Unterstützte Erwerbslose pro 1.000 Einwohner im ersten Halbjahr 1924 im Arbeitsamtsbezirk Bernburg und im Deutschen Reich

Verantwortlich für diesen Extremwert zeichneten in erster Linie Entlassungen in der Kaliindustrie. Nachdem in der Inflation noch gute Geschäfte zu machen waren wurden mit der Währungsstabilisierung und der damit verbundenen Verteuerung der Arbeitskraft seit Ende 1923 die Belegschaftszahlen rapide reduziert.[94]

Für die bereits benannte Verbindung von verschärftem Antisemitismus mit unbefriedigtem Geltungsbedürfnis spricht, dass der auf der "bürgerlichen" Einheitsliste kandidierende Bernburger Sekretär des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes durch die sozialdemokratische "Volkswacht" als "Oberhäuptling der Antisemiten" angesehen wurde.[95] Daraus wäre vorsichtig auf ein überproportionales Vorhandensein einer antisemitischen Grundeinstellung in den Kreisen der unteren Angestelltenschaft zu schließen, Weiterhin erscheint es möglich, dass sich einige extreme Vertreter nicht mit der Kandidatur des DHV-Sekretärs zufrieden geben wollten.

Der im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband traditionell stark verankerte Antisemitismus ließ sich auch durch die Frontlinien in den Arbeitskämpfen ständig aufs neue legitimieren. Aus Bernburg ist vom Jahresende 1921 der Vorgang überliefert, dass sich die Firmen des Textilhandels - im Gegensatz zu denen des Lebensmittel- und des Eisenwarenhandels - unter ihren Wortführern Baruch und Levy der Allgemeinverbindlichkeit des Landestarifvertrages widersetzten und erst durch den Schlichtungsausschuss zu dessen Einhaltung gezwungen werden mussten. Außerdem wären die Verhandlungen durch das unkooperative und betrügerische Verhalten des Bernburger Vorsitzenden des sozialdemokratischen Zentralverbandes der Angestellten (ZdA) verschleppt worden.[96] Selbst wenn sich dieser Arbeitskampf nicht so, wie hier durch die "Mitteldeutsche Kaufmannspost", das Organ des DHV, kolportiert, abgespielt haben sollte, so kommt es doch auf die propagandistische Wirkung der Nachricht an. Bekräftigt wurden zwei Grundüberzeugungen, die vom "raffenden jüdischen Kapital" und die vom ehrlosen "Marxismus", der den notleidenden Angestellten in den Rücken fällt.

In einem anderen Fall sahen sich die industriellen kaufmännischen Angestellten Anfang 1922 im Schlichtungsausschuss einer fast geschlossenen Front von Arbeitgebervertretern und Arbeitnehmervertretern (Arbeiter) gegenüber, die - auf Vorschlag der letzteren - Töpferverdienste zur Bemessungsgrundlage bei der Festlegung "angemessener Gehälter" für Angestellte nahmen.[97] Auch hier war es wieder der "Marxismus", der verhindern half, dass der Angestellte ein seiner Leistung entsprechendes Einkommen erhält. Der Zentralverband der Angestellten hat denn auch angesichts solcher Frontstellungen unter den kaufmännischen Angestellten kaum Fuß fassen können; bei den Kaufmannsgerichtswahlen des Jahres 1921 in Bernburg entfielen auf ihn gerade zwei der zehn Sitze, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband (DHV) und der liberale Gewerkschaftsbund der Angestellten (GdA) erlangten jeweils vier.[98]

Es ist kaum überraschend, dass unter den lokalen Angestelltengewerkschaften in dieser Zeit eine deutliche positive Resonanz auf den Nationalsozialismus nur für den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband nachzuweisen ist. Unter den neun Kandidaten des im wesentlichen vom DHV repräsentierten Gesamtverbandes deutscher Angestelltengewerkschaften (Gedag) zu den Angestelltenversicherungswahlen im Januar 1922 finden sich zwei Personen (ein Handlungsgehilfe und ein Buchhalter), die im Jahre 1924 Unterstützungsunterschriften für die Liste der Nationalsozialistischen Freiheitspartei zu den Stadtverordnetenwahlen leisten sollten. Für die beiden anderen Richtungen - AfA-Bund und GdA - ist in zu dieser Zeit eine Parteinahme für den Nationalsozialismus noch nicht zu beobachten.[99]

Bei einer Analyse der Kandidatenaufstellung der SPD zu den Gemeinderatswahlen kann zudem das Jahr 1921 als der Beginn eines sich über den weiteren Verlauf der Weimarer Republik fortziehenden Rechtstrends in der Angestelltenschaft ausgemacht werden. Kamen in Bernburg, Nienburg, Neundorf und Rathmannsdorf summarisch 1919 noch 26 % aller SPD-Gemeinderatskandidaten aus der Angestelltenschaft, so ging ihr Anteil schon 1921 auf 22 % zurück, um dann bei 17 % (1924) bzw. 18 % (1927/31) zu stagnieren.[100] Der Abwendung der Angestellten von der Sozialdemokratie ist selbst in deren Domänen schon sehr früh nachzuverfolgen. Stimmten im Versicherungsamt Bernburg in der Betriebsratswahl vom Dezember 1921 noch 22 der 23 Wählenden für den sozialdemokratischen Zentralverband der Angestellten und nur einer für die gemeinsame Liste von Deutschnationalem Handlungsgehilfenverband und liberalem Gewerkschaftsbund der Angestellten, so waren schon ein halbes Jahr später im Juni 1922 nur noch 17 der 21 Wählenden für den ZdA zu gewinnen.[101]

Die Entstehung der Aderstedter NSDAP folgt einem gänzlich anderen Schema als im Rest des Kreises. Einzig in Aderstedt wurde die NSDAP zur Arbeiterpartei. Sie wies damit eine Sozialstruktur auf, wie sie auch bei ländlichen deutschnationalen Ortsgruppen in jenen Jahren vorgekommen sein soll.[102] Bei einer Arbeiterbevölkerung von reichlich zwei Dritteln der Einwohnerschaft hatte es die Sozialdemokratie in Aderstedt nur in den Wahlen zwischen 1918 und 1920 geschafft, dieses Potential auszuschöpfen bzw. sogar zu überschreiten (78 % bzw. 68 %). Danach pendelte sich ihr Wählerstimmenanteil wieder auf die schon aus dem Kaiserreich bekannten Werte um 50 % ein. Die anscheinend relativ geschlossene Gruppe derjenigen Arbeiter, die die SPD vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht hatte erreichen können, wandte sich jetzt wieder von ihr ab und sah in der NSDAP ihren Vertreter.[103] Von dem schon in der Vorkriegszeit in der lokalen Politik in Gegnerschaft zur SPD tätigen Steinmetz, Landwirt und späteren Bürgermeister Karl Wilhelm sen. ist überliefert, dass er zwischenzeitlich bis Anfang der 20er Jahre der SPD angehörte, bevor er vor allem unter dem Einfluss seines Sohnes, des Elektrikers Karl Wilhelm jun. (später NSDAP-Ortsgruppenleiter in Aderstedt) zum Nationalsozialismus übertrat.[104] Die Abgrenzung beider Aderstedter Arbeitergruppen ist nach außen hin etwas unscharf, es scheint jedoch ein schwacher Trend dahingehend bestanden zu haben, dass bei der SPD tendenziell eher die besser qualifizierten und nach Bernburg einpendelnden Arbeiter zu finden waren, während die NSDAP eher als die Vertreterin der niedriger qualifizierten und in den Steinbrüchen, in der Landwirtschaft und im Kalischacht direkt am Orte beschäftigten Arbeiter anzusehen ist. Die "Volkswacht" wusste zur Gemeinderatswahl 1927 aus Aderstedt zu berichten, dass die neunköpfige "Nationale Liste" der NSDAP mit zwei Ausnahmen aus Beschäftigten der örtlichen Steinbruchfirmen Meißner und Hoier bestand.[105] Von einem eventuell ausgeübten Druck seitens dieser Arbeitgeber zur Präsentierung einer gewünschten politischen Haltung ist jedoch nichts bekannt, auch sind die Betriebsinhaber selbst zu keinem Zeitpunkt als Nationalsozialisten nachweisbar, so dass eher von besonderen engen Kommunikationsbeziehungen in dieser Beschäftigtengruppe ausgegangen werden muss. Die NSDAP-Liste aus der Gemeinderatswahl des Jahres 1927 wies mit der gleichfalls Steinbruchbeschäftigte enthaltenden SPD-Liste doppelt so häufig Überschneidungen in den Berufsangaben auf wie mit der "Unpolitischen Liste" und stand sozialstrukturell faktisch zwischen beiden, einzig ein Kandidat, ein kaufmännischer Angestellter, fand keine berufliche Entsprechung auf den benachbarten Listen.[106]

Neben den lokalen politischen Konstellationen und der politischen Meinungsbildung in Großgruppen sind es im einzelnen aber erst Faktoren der Persönlichkeit und der Biographie, die die Hinwendung zur NSDAP wesentlich mitbestimmten. Für die Mehrzahl der frühen NSDAP-Mitglieder war der Erste Weltkrieg das einschneidendste Erlebnis in ihrem Leben gewesen. Es ist nun interessant zu sehen, dass die Personen an der Spitze der NSDAP im militärischen Bereich keinesfalls Mannschaftsdienstgrade innehatten: Hölzke war Vizewachtmeister, der Aderstedter Ortsgruppenleiter Möhring Oberleutnant. Interessant ist in dieser Hinsicht auch die Mitgliederliste des Marinevereins Bernburg. Für den Mitgliederbestand des Jahres 1930 sind - über den gesamten Zeitrum der Existenz der NSDAP - 25 Parteibetritte nachzuweisen. Knapp ein Viertel dieser Personen (6) findet sich schon unter den bis 1926 erstmalig eintretenden NSDAP-Mitgliedern, darunter die Spitzenkandidaten zu den Stadtverordnetenwahlen 1921 und 1924.[107] Es liegt der Schluss nahe, dass auch ein Äquivalent für die ehemals in militärischen Führungspositionen gefundene Bestätigung jetzt in der NSDAP gesucht wurde. Im Gegenzug liegen keine Indizien dafür vor, dass es eventuell gesellschaftliche Entwurzelung resp. Schwierigkeiten bei der Führung eines normalen zivilen Lebens waren, die in dieser Frühphase der lokalen Entwicklung ausschlaggebend für die Hinwendung zur NSDAP gewesen wären. Andersherum konnte aber das Engagement in der NSDAP in dieser Hinsicht Schwierigkeiten verursachen, wie z. B. die vermehrten Disziplinarverfahren Hölzkes ausweisen.

Diesem beschriebenen Geltungsdrang benachbart ist der unbedingte Aufstiegswille, der in diesen Kreisen - unbeschadet tatsächlich vorhandener Kenntnisse und Fähigkeiten - immer wieder zu beobachten ist. Nichts illustriert diesen unbedingten Aufstiegswillen besser als das nachfolgende Inserat aus der "Mitteldeutschen Presse" im Oktober 1922, das sich schon optisch durch zwei einleitende Hakenkreuze von anderen Inseraten abhob:

"19jähriger, sehr solider, strebsamer national und völkisch denkender junger Mann sucht irgendwelche Stellung als Arbeiter in der Technik im Büro oder eine Vertrauensstellung in einem Ort wo selbiger ein Technikum oder Ingeneur oder Fachschule nebenbei besuchen kann[.] Arbeitet seit 1919 praktisch als Schlosser, Dreher, Elektromonteur und hat beim Eisenbahnerstreik im Febr. ds. J. als Technischer-Nothelfer eine Lokomotive geführt und hat oberrealschulbildung. Arbeitet augenblicklich als Arbeiter auf einem großen Werke da er sich sein Studium selbst verdient und ist nicht organisiert.
Gefällige Angebote an die Exp. der Mitteldeutschen Presse unter 'Hakenkreuz'."[108]



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3.3 Biographisches Beispiel: Emma Hentschel (Dessau)

Insgesamt ist es aufgrund des weitgehenden Fehlens biographischer Quellen kompliziert, die Eintrittsmotivationen der frühen Mitgliedschaft darzustellen. Aus dem gesamten Kreis Bernburg steht keine einzige illustrierende Biographie zur Verfügung, was angesichts einer Zahl von weniger als 200 bis zum Jahre 1928 von der "Bewegung" erfasster Personen auch kaum erstaunt. Ersatzweise ist es jedoch möglich, auf die Biographie einer frühen Nationalsozialistin aus der Landeshauptstadt Dessau zurückzugreifen, deren Entwicklungsgang eine Reihe von Rückschlüssen auf die Bernburger Situation zulässt. Die 1936 - also äußerst zeitnah und ohne den späteren Zwang zu Retuschen - niedergeschriebenen Erinnerungen Emma Hentschels stellen daher einen Glücksfall für die historische Forschung dar.[109]


Emma Hentschel (um 1925)
Emma Hentschel (um 1925) [110]
Emma Hentschel wurde 1881 in Heyersdorf in der preußischen Provinz Posen geboren und entstammte einem alten schlesischen Bauern- und Mühlenbesitzergeschlecht. Man kann also unterstellen, dass die Familie nicht ganz unvermögend, wenn nicht sogar tonangebend im Dorfe war.[111] Über die Zahl der Geschwister ist nichts überliefert; auf jeden Fall erbte sie aber nicht den Hof und zog 1905 nach ihrer Heirat mit einem Lokführer in die Großstadt Posen.

Dort kam sie - zuvor schon glühende Bismarck-Verehrerin - mit den Ideen des ehemaligen Hofpredigers Adolf Stöcker in Berührung, die in ihrer Mischung aus Antisemitismus und sozialkonservativer Reformpolitik sie weiterhin beeinflussen sollten. Nach außen hin trat sie jedoch politisch nicht hervor, was jedoch nicht weiter verwundert; ihr Mann war Beamter, schon von daher war Zurückhaltung geboten, außerdem wurden jeweils im Jahresabstand drei Kinder geboren und schließlich war im Deutschen Reich Frauen eine politische Aktivität überhaupt erst seit 1908 erlaubt.

Weiter radikalisieren sollte sich ihre politische Haltung im Gefolge des Ersten Weltkrieges, als Posen in Erfüllung des Versailler Vertrages an Polen abgetreten wurde. In dieser Zeit wurden sie und ihr Mann nach eigenem Bekunden infolge der von polnischer Seite gegenüber dem deutschen Bevölkerungsteil forcierten scharfen Repression und systematischen Verdrängungspolitik Fanatiker; "wilder Hass" gegen die "verräterische marxistische Regierung" in Berlin, die sie an die Polen ausgeliefert hätte, hätte von ihnen Besitz ergriffen. Über konkrete Verfolgungen seitens der Polen gegenüber den Hentschels ist jedoch nichts bekannt. Um der zweifellos auch ohne konkrete persönliche Pressionen diskriminierenden Lebenslage zu entgehen schloss sich die Familie Hentschel 1920 dem Massenexodus an und kehrte, wie der größte Teil der deutschen Bevölkerung Posens,[112] 'heim ins Reich', nach Dessau.

In Dessau trafen sie auf eine relativ entspannte Atmosphäre, die kaum etwas von den in der Nachkriegskrise nur wenige Kilometer entfernt sich abspielenden auch bewaffneten Kämpfen ahnen ließ. Vielmehr wehte hier - so Emma Hentschel - "noch ein verspätetes Hoflüftchen". Dass diese Ruhe gerade von den verhassten 'Marxisten' in der Landesregierung gewährleistet wurde, die einerseits jeden Streik schnell vor einer eventuellen Radikalisierung zu beenden suchten und andererseits mit hohem Einsatz bemüht waren, die im restlichen Mitteldeutschland stark präsente Reichswehr aus dem Lande fernzuhalten, realisierten die Hentschels anscheinend nicht.

Die Katastrophe traf die Familie 1923: der Mann starb an den Folgen eines Arbeitsunfalls. Emma Hentschel stand allein mit drei minderjährigen Kindern und musste in der Folge zusehen, wie das Familienvermögen in der Hyperinflation wertlos wurde und auch die Witwenpension zum Leben nicht mehr ausreichte. In dieser Situation brachte ihr gerade 16 Jahre alt werdender Sohn Walter im November 1923 den nationalsozialistischen "Völkischen Beobachter" mit den Berichten über Hitlers fehlgeschlagenen Putsch an der Münchener Feldherrnhalle mit nach Hause. Walter Hentschel hatte wohl schon länger im völkisch-nationalistischen Spektrum verkehrt. Ansprechpartner für ihn war der SA-Vorläufer "Treuschaft Lützow". Emma Hentschel hatte von alldem infolge von Trauer und Inflation - wie auch vom Bestehen einer NSDAP-Ortsgruppe in Dessau seit September 1923 - anscheinend nichts wahrgenommen, es ist aber auch nicht anzunehmen, dass sie es missbilligt hätte. Jedenfalls entschied sie nun, dass dies in Zukunft die politische Richtung der Familie sein sollte, las alle verfügbare Literatur und begann, die nationalsozialistischen Versammlungen zu besuchen.


Emma Hentschel hatte in ihrem Lebensverlauf bislang zwei gesellschaftliche Abstiege hinnehmen müssen: den ersten von der Tochter des Dorfpatriarchen zur Frau eines im wesentlichen in der Anonymität der Großstadt untergehenden Lokführers, den zweiten von der materiell zumindest auskömmlich lebenden Beamtenehefrau zur um ihre und ihrer Kinder materielle Existenz kämpfenden und letztlich doch am Rande der Gesellschaft stehenden Witwe. Die Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Bewegung sollte ihr, deren bisheriger Lebensweg durchaus auch als Abfolge von Zurücksetzungen und Demütigungen gesehen werden kann, neues Selbstvertrauen geben. Die Erlangung dieses neuen Selbstbewusstseins beschreibt sie anlässlich des geschlossenen Auszug der nationalsozialistischen Versammlungsteilnehmer aus einer öffentlichen Versammlung der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, als man den nationalsozialistischen Diskussionsredner nicht sprechen lassen wollte: "Es war ein wundervolles Gefühl, zum ersten Male unmittelbar die Gemeinschaft zu spüren, als wir mit den anderen um einer gemeinsamen Idee willen demonstrativ den Saal verliessen." Im Spätsommer 1924 wurde sie dann formell Mitglied der Nationalsozialistischen Freiheitspartei und nach Aufhebung des NSDAP-Verbots findet sich im März 1925 in der Meldung über die ersten Mitglieder der neugebildeten Ortsgruppe neben dem späteren Gauleiter Wilhelm Loeper und 13 anderen auch ihr Name. Sie erhielt damals die sehr niedrige Mitgliedsnummer 6.992.

In der Folge sollte sie völlig in der Bewegung aufgehen. Emma Hentschel, die sich und die Familie mit Näharbeiten über Wasser hielt, wurde zu einer Art 'Mutter der Kompanie', die Organisationsarbeiten besorgte, anfallende Näharbeiten ausführte, auswärtige prominente Redner und durchreisende Parteigenossen beherbergte, später auch Waffen und belastende Dokumente versteckte.[113] Daneben besuchte sie natürlich die Parteitage und -treffen.



Anmeldung der Dessauer NSDAP-Neugründungsmitglieder 1925 bei der Parteizentrale [114]

Auch ihre Kinder, die neben dem Studium eigenen Erwerbstätigkeiten nachgehen mussten, schlossen sich, sobald sie die staatlichen anhaltischen Gymnasien und die dort gewährte Schulgeldfreiheit hinter sich gelassen hatten, der NSDAP an. Die Tochter Dorothea wurde 1926 vom "Völkischen Beobachter" als erste nationalsozialistische Lehrerin bezeichnet, der Sohn Walter sollte später während eines Studienaufenthaltes in den USA die dortige NSDAP-Auslandsorganisation mit aufbauen. Insgesamt schaffte sie es, den selbst erlittenen sozialen Abstieg durch ihre Kinder wieder zu kompensieren. Tochter Dorothea avancierte im Dritten Reich zur Gaugeschäftsführerin des Nationalsozialistischen Lehrerbundes in Magdeburg-Anhalt und später zur Funktionärin des NSLB an dessen Sitz in Bayreuth, Sohn Walter erreichte im Reichsluftfahrtministerium die Stufe eines Oberregierungsrates und Tochter Katharina wurde Auslandslehrerin in Guatemala und später wohl auch in Spanien.

Doch es wäre zu kurz gegriffen, die seinerzeitige Hinwendung Emma Hentschels zum Nationalsozialismus und ihr dauerhaftes Verbleiben in der Bewegung nur aus der Enttäuschung über die eigene Lebenslage erklären zu wollen. Vielmehr verfolgte sie sehr konkrete Gesellschaftsvorstellungen für das kommende "Dritte Reich". Diese verbanden sich mit der von ihr in der Rückschau verklärten Stellung ihres Vaters in ihrem Heimatdorf. Sie sah ihren Vater, in jungen Jahren preußischer Garde-Ulan, als den allseits gerechten und wohltätigen Patriarchen des Dorfes, der bei allen Arbeiten im weißen Hemd - eine Lichtgestalt! - voranging und deren Beginn mit dem Satz "Das walte Gott" anwies. Ein Patriarch, in dessen Obhut man sich stets begeben konnte, weil seine Entscheidungen stets richtig waren. Diese Rolle übertrug sie auf Adolf Hitler, der die von Klassenkämpfen zerrissene deutsche Gesellschaft so organisieren sollte wie die aus ihrer Sicht heile Welt ihres kleinen idyllischen Dorfes. Diese Sichtweise auf die Zukunft Deutschlands entsprach der von der NSDAP propagierten "Volksgemeinschaft". Auch die übliche irrationale ekstatische Führerverehrung war ihr nicht fremd. Noch 1936 bezeichnete sie eine halbminütige Begegnung mit Adolf Hitler während des Reichsparteitages 1927, dem sie zuvor regelrecht hinterhergerannt war, als den erhebendsten Augenblick ihres Lebens.

Emma Hentschel hat - mit Ausnahme eines kurzen Intermezzos als Kassenwartin - nie eine Funktion in der NSDAP bekleidet. Doch daraus eine relative Bedeutungslosigkeit schließen zu wollen wäre völlig verfehlt. Gerade Personen ihres Zuschnitts halfen in ihrem ausdauernden und fanatischen Wirken und in ihrer ständigen Verfügbarkeit die Organisationskontinuität einer von inneren Streitigkeiten und großer Mitgliederfluktuation zerrissenen Partei besonders in den Jahren vor der Weltwirtschaftskrise zu sichern. Ohne diese Aktivisten wäre der rasante Mitglieder- und Wähleraufschwung der NSDAP 1930 und schließlich der nationalsozialistisch-rechtsbürgerliche Wahlsieg in den anhaltischen Landtagswahlen vom April 1932 nicht möglich gewesen. Gleichzeitig wird auch anhand des Lebenslaufes Emma Hentschels deutlich, dass die im Kaiserreich und im Umfeld des Ersten Weltkrieges erfahrenen Prägungen von großer Bedeutung für eine spätere Hinwendung zum Nationalsozialismus waren.

Nach 1933 spielte Emma Hentschel, auch infolge von Krankheit, in der Dessauer NSDAP kaum mehr eine Rolle. 1937 verzog sie mit einer ihrer Töchter nach Bayreuth und ist auch 1943 dort noch nachweisbar. Dann verliert sich ihre Spur.



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4. 1930/31: Der Durchbruch

4.1 Reorganisation und politischer Aufstieg

Die beiden Bernburger Lokalzeitungen, die sozialdemokratische "Volkswacht" und der liberale "Anhalter Kurier", meldeten im Januar 1930, dass sich die Ortsgruppe Bernburg des Bundes Oberland aufgelöst und ihre Mitglieder sich einer anderen "nationalen Gruppe" angeschlossen hätten. Sie würden aber weiterhin im alten Heim, dem Hause des Hauptmanns a. D. Freiherrn Ulrich von Bothmer, Prokurist bei den Metallwerken Kessler & Sohn, zusammenkommen wollen. Beiden Zeitungen war entgangen, dass es sich bei der "anderen nationalen Gruppe" um die NSDAP handelte, die in den vergangenen drei Jahren aus dem öffentlichen Leben Bernburgs verschwunden und nunmehr völlig unbedeutend war.[115] In der Zeit des "Dritten Reiches" verfasste Darstellungen der lokalen NSDAP-Geschichte versuchen zwar, eine ungebrochene Organisationskontinuität und bedeutende Aktivität zu suggerieren, doch handelt es sich hier durchgängig um Übertreibungen.[116] 1927/28 hatte es funktionierende NSDAP-Ortsgruppen im Kreis Bernburg lediglich noch in Aderstedt vor den Toren Bernburgs und wahrscheinlich auch in der Eisenbahner-Kleinstadt Güsten an der Bahnstrecke Staßfurt-Aschersleben gegeben. Zu den 1927 stattgefundenen Bernburger Stadtverordnetenwahlen und den Kreistagswahlen war die NSDAP nicht mehr angetreten. In dieser Zeit kann das vor den Toren Bernburgs gelegene Aderstedt als der Wahrer der nationalsozialistischen Organisationskontinuität im Kreis Bernburg gelten. Nicht nur, dass dort zur Gemeinderatswahl 1927 die einzige nationalsozialistische Liste im Kreis aufgestellt wurde, auch die zehn Positionen umfassende Kandidatenliste der NSDAP zur anhaltischen Landtagswahl 1928 enthielt zwei Kandidaten aus Aderstedt, jedoch keinen aus Bernburg![117] In dieser Wahl konnte sie wiederum eines der 36 Mandate erlangen, das an den Dessauer Gauleiter und späteren Reichsstatthalter Hauptmann a. D. Wilhelm Loeper fiel.[118] Auch der Stahlhelm unterlag im Kreis Bernburg zur gleichen Zeit einer ähnlichen Organisationskrise, ohne dass die NSDAP dies für sich hätte ausnutzen können.[119]

In den Jahren vor 1930, als die NSDAP im völkisch-nationalistischen Spektrum des Kreises Bernburg eher eine untergeordnete Rolle spielte, wurde dieses Spektrum in erster Linie vom Wehrwolf Bund deutscher Männer und Frontkrieger repräsentiert. Auf dem Höhepunkt seiner Organisationsentwicklung lassen sich 1927 im Kreis Bernburg 13 Wehrwolf-Ortsgruppen nachweisen. Nach einer vorübergehenden Schwäche 1928/29 waren 1930/31, mit erneut einsetzender Radikalisierung, wiederum acht Ortsgruppen, teilweise auch mehrere Orte umfassend, existent. Mit dem Aufstieg der NSDAP verschwanden diese jedoch. In der Kreisstadt Bernburg scheint die Neugründung vom Frühjahr 1930 keinen langen Bestand gehabt zu haben und ist schon 1931 nicht mehr nachweisbar. 1932 gab es im Landkreis nur noch Ortsgruppen in Güsten und Gerbitz, 1933 nur noch die Gerbitzer. Die Mitgliedschaft des Wehrwolf diffundierte in andere Organisationen, zu einem größeren Teil zur NSDAP, zu einem geringeren Teil auch zum Stahlhelm. Von einem mehrheitlichen, direkten und organisierten Übergang der Mitglieder zur NSDAP kann jedoch nicht die Rede sein.[120]

In Bernburg selbst war weiterhin mindestens seit 1927 der in der Freikorps-Tradition der Nachkriegszeit stehende Bund Oberland wieder aktiv. Allerdings dürfte auch er kaum mehr als 20 bis 30 Mitglieder umfasst haben. Beiden, dem Wehrwolf und dem Bund Oberland, die im übrigen eng kooperierten, kommt somit aus retrospektiver Sicht eine Platzhalterfunktion für die NSDAP zu, sowohl was die personellen als auch was die programmatischen Kontinuitäten betrifft.[121] Mit dem Übergang des größten Teiles der Mitglieder des Bundes Oberland zur NSDAP bestand Anfang 1930 in Bernburg wieder eine Keimzelle für die Reorganisation der NSDAP. Die formelle NSDAP-Mitgliedschaft des vorherigen Oberland-Führers von Bothmer datiert vom 1. April 1930.[122] Kurz darauf fungierte er als SA-Führer in Bernburg.

Ein Grund für die vorherige relative Schwäche der NSDAP in Bernburg noch Ende 1929 dürfte im Fehlen einer geeigneten Führungspersönlichkeit gelegen haben, erst von Bothmer scheint diese Lücke ausgefüllt zu haben. Auch waren die politischen Unterschiede zwischen den einzelnen Organisationen nur gradueller Natur, so dass die augenscheinlich größere Aktivität von Wehrwolf und Bund Oberland über eine gewisse Zeit für diese den Ausschlag gegeben hatte.

Angesichts der noch kurz zuvor zu beobachtenden Schwäche der Partei stellte der NSDAP-Wahlerfolg in den Reichstagswahlen vom 15. September 1930 zumindest eine sehr große Überraschung dar. Von lediglich 2 % der gültigen Stimmen in der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 hatte sie sich innerhalb von zwei Jahren auf jetzt 14 % steigern können und wurde faktisch aus dem Nichts drittstärkste Partei im Kreise hinter der SPD und der KPD. Woher kamen aber plötzlich diese Wähler? Eine populäre Legende, dass vor allem die vorherigen Nichtwähler den Aufstieg der NSDAP ermöglicht hätten, kann hier von vornherein ausgeschlossen werden. Selbst unter der Annahme, dass sämtliche der gegenüber 1928 neu hinzugekommenen Wählerstimmen der NSDAP zugefallen wären, hätten sie lediglich ein reichliches Drittel des NSDAP-Stimmenvolumens bilden können. Vielmehr rekrutierte sich der Stimmenzuwachs der Nationalsozialisten zum größten Teil aus dem Wählerpotential der Parteien des restlichen "nationalen" Wählerlagers. Doch nicht alle "bürgerlichen" Parteien waren gleichmäßig von dieser Wählerwanderung in Richtung der Nationalsozialisten betroffen. Während Deutsche Volkspartei, Deutschnationale Volkspartei und Deutsche Staatspartei jeweils zwischen einem Drittel und der Hälfte ihres vorherigen Wählerpotentials verloren, blieben Zentrumspartei und Wirtschaftspartei stabil. Stabil zeigte sich in der Summe auch das "sozialistische" Wählerlager. SPD und KPD hatten zusammen 1928 56 % der gültigen Stimmen bekommen, jetzt 55%. Lagerintern hatte die SPD leicht an die deutlich kleinere KPD abgeben müssen. Zwischen den Ergebnissen in der Kreisstadt, wo SPD und KPD beide noch leicht hatten gewinnen können, und den Ergebnissen im Landkreis tat sich jedoch eine Schere auf. Angesichts auch deutlicherer Verluste der SPD im Landkreis muss davon ausgegangen werden, dass dort auch ehemalige SPD-Wähler in geringerem Umfang zum Wahlerfolg der NSDAP beitrugen. Nur in einem Falle jedoch (Neundorf) hatten ehemalige KPD-Wähler offensichtlich einen beträchtlichen Anteil am Aufstieg der lokalen NSDAP.[123]


Reichstagswahlergebnisse im Untersuchungsgebiet am 14. September 1930,
Anteil der Parteien in % der gültigen Stimmen
[124]

 

 KPD 

 SPD 

Deut- sche Staats- partei

Zen- trum

DVP

Wirt- schafts- partei

DNVP

Deut- sches Land- volk

Deut- sche Bauern- partei

Konser- vative Volks- partei

NSDAP

Gewinn / Verlust des "sozialistischen" Lagers
(KPD + SPD) gegenüber
20. Mai 1928 in Prozentpunkten

Bernburg

11,1

39,6

2,0

2,0

16,1

8,0

3,3

0,8

0,0

0,9

16,2

 0,9

"5 Orte"[125]

24,9

32,8

1,9

1,8

8,9

8,9

5,5

2,4

0,1

0,4

12,5

-3,5

"Dörfer"[126]

13,4

46,0

1,2

1,2

8,0

2,7

5,5

9,9

0,6

0,3

11,2

 0,7

Gesamt

15,5

39,4

1,8

1,8

12,0

6,8

4,5

3,6

0,2

0,6

13,9

-0,4



Reichstagswahlen vom 14.09.1930: Verluste und Gewinne der NSDAP und des restlichen "nationalen Lagers" im Kreis Bernburg 
(Orte in Prozentpunkten gegenüber 20.05.1928)


Obwohl die Wahlergebnisse des Vorjahres noch etwas anderes auszusagen schienen befand sich die SPD außerhalb der Kreisstadt auch ohne das Vorhandensein einer politisch ins Gewicht fallenden NSDAP schon Ende 1929 in der politischen Defensive. Ein Teil der Bevölkerung des Kreises Bernburg war zu diesem Zeitpunkt schon wieder auf den Stand des Kaiserreichs zurückgeworfen worden, das eine freie politische Meinungsäußerung nicht zugelassen hatte. Der Güstener Holzhausfabrikant und Stahlhelm-Ortsgruppenführer Lohmüller 'überzeugte' z. B. im Dezember 1929 die bei ihm beschäftigten Arbeiter von der Notwendigkeit des Besuchs einer Anti-Young-Plan-Versammlung.[127] Auch ein in der sozialdemokratischen Zeitschrift "Das Freie Wort" veröffentlichter Bericht aus dem Nachbarkreis Köthen dürfte durchaus Gültigkeit für die Verhältnisse im Kreis Bernburg beanspruchen:
"Landarbeiter im Joch! Die Einzeichnungen zum Volksbegehren [gegen den Young-Plan] auf dem Lande sind in viel größerem Umfang unter Zwang erfolgt, als selbst die Zahl der ungültigen Stimmen vermuten läßt. Auch hier in Mitteldeutschland war das Hauptwerbemittel für Hugenbergs Volksentscheid die Drohung mit der Entlassung. Und davor zittert der Landarbeiter; denn er hat meistens einen Schein unterschrieben, durch den er sich selbst aus der Arbeitslosenversicherung herausgebracht hat."[128]

So findet sich denn auch unmittelbar vor dem Volksentscheid gegen den Young-Plan in der "Volkswacht" folgender Aufruf:

"Wen Terror zwingt, wer bestimmt damit zu rechnen hat, daß wirtschaftlich starke Elemente so gewissenlos sein werden, ihm unerträgliche wirtschaftliche Schädigung zuzufügen, falls er sich am 22. Dezember nicht an der Abstimmung über das 'deutsche' Volksbegehren beteiligt, der macht den Stimmzettel ungültig! [...] Keine Stimme den Hugenbergern!"[129]

Die NSDAP konnte während des Jahres 1930 ihre Mitgliedschaft verdoppeln. Sind per Ende Dezember 1929 im Untersuchungsgebiet 87 registrierte Mitglieder nachweisbar - was in etwa wieder dem Mitgliederstand des Jahres 1925 entsprach - so waren es ein Jahr später bereits 192.[130] Diese Steigerung vollzog sich relativ gleichmäßig. Zwar ist zum 1. September 1930 - also im unmittelbaren Reichstagswahlkampf - eine deutliche Häufung von Eintritten festzustellen, doch fielen dafür in den beiden Monaten davor und danach die Eintrittszahlen schwächer aus. Es trat also unter dem Eindruck der Zuspitzung im Reichstagswahlkampf niemand ein, der nicht auch sonst eingetreten wäre.[131]

Der entscheidende Impuls der Radikalisierung ging von Bernburg aus. Waren unter den Mitgliedern Ende 1929 erst 49 % Bernburger (und ein weiteres Viertel Aderstedter), so kamen von den während des Jahres 1930 im Untersuchungsgebiet Eintretenden bereits 71 % aus der Kreisstadt. Gleichzeitig gewann die Partei aber auch immer mehr Positionen im ländlichen Raum; für elf weitere Orte sind Eintritte registriert.

1931 stieg die NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg weiter; es konnten im Untersuchungsgebiet 242 Personen mit Neu- bzw. Wiedereintritten nachgewiesen werden.[132] Die Partei wuchs jetzt ins Territorium hinein: Waren 1930 noch 71 % der Eintritte in Bernburg erfolgt, so sind 1931 der Kreisstadt nur noch 44 % der Neueintritte zuzuschreiben. Der Rest verteilt sich auf die Kleinstädte und Dörfer des Landkreises, wo im Vorfeld der Kommunalwahlen im Herbst 1931 einige Ortsgruppen gegründet wurden.

Zur schnellen Ausbreitung der NSDAP in der Kreisstadt Bernburg 1930/31 dürfte die kleinstädtische Siedlungsweise entscheidend beigetragen haben. Anders als in Großstädten wohnten die Aktivisten der politischen Lager eng beieinander, im Einzelfall sogar im selben Haus. Zwar war der Süden der Stadt - wie für 1931 anhand der Wohnstraßen der Stadtverordnetenkandidaten und der Zustimmungsunterschriften Leistenden festzustellen ist - deutlich stärker von Aktivisten der SPD und der KPD bewohnt und das Stadtzentrum sowie dessen westliche Erweiterung mehr ein Einflussgebiet der "bürgerlichen" Parteien, doch eine Konstituierung politisch 'reiner' Wohn- bzw. Quartiersmilieus erfolgte nicht. Selbst in den Gebieten, in denen die Dominanz eines Lagers am weitesten fortgeschritten war - für das "sozialistische" Lager das von Grönaer und Hallescher Straße gebildete Dreieck südlich des Waisenhausplatzes, für das "nationale" Lager das Karree Annenstraße-Kaiserstraße-Schloß-Saale - wohnten jeweils auch Aktivisten der Gegenseite. Eine eindeutige Konzentration auf bestimmte Quartiere ist von daher auch für die NSDAP nicht festzustellen.



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4.2 Struktur der Mitgliedschaft und Platz der NSDAP im Parteiensystem

Die Mitgliederzahl der NSDAP erscheint, gemessen an der größten Partei im Gebiet, der SPD, und auch gemessen an dem in der Reichstagswahl 1930 aktivierten Wählerpotential als sehr gering; auf ein SPD-Mitglied entfielen sechs Wähler, auf ein NSDAP-Mitglied 36.[133] Insgesamt ist diese Mitglieder-Wähler-Relation jedoch typisch für eine radikale Partei in der Aufstiegsphase. Die NSDAP des Jahres 1930 kann als fast vollständig aus Aktivisten bestehend angesehen werden, während im Gegensatz dazu der größere Teil der SPD-Mitglieder als eher inaktiv einzuschätzen ist.[134] Diese nationalsozialistischen Parteiaktivisten waren die Meinungsmultiplikatoren, mit deren Wirken sich in erster Linie der Wahlerfolg des 15. September 1930 verband. Eine Analyse dieser Personengruppe ermöglicht es, den "Explosionsherd" resp. jene Schichten zu finden, von denen die Radikalisierung im "nationalen" Lager 1930/31 ausging.

In einer ersten Draufsicht weist sich die NSDAP-Mitgliedschaft jener Jahre (fast) durchgängig als männlich und protestantisch aus. Geschlecht und Konfession scheiden daher als Merkmale, mit denen die Mitgliedschaft gegenüber der Durchschnittsbevölkerung zu differenzieren wäre, aus. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei der NSDAP um eine radikale Partei im Aufstieg handelte, überrascht es nicht, sie im Kreis Bernburg als eine fast reine Männerpartei vorzufinden. Nur 4,6 % der Ende 1929 vorhandenen Mitglieder und 2,5 % bzw. 2,1 % der 1930 bzw. 1931 Eintretenden waren Frauen.[135] Auch nicht überraschend ist - angesichts eines Protestantenanteils unter der Bevölkerung von etwa neun Zehnteln - das Fehlen von Hinweisen auf eine nennenswerte Mitgliedschaft von Katholiken.[136]

Eine eindeutige Eingrenzung des "Explosionsherdes" 1930/31 gestattet hingegen die Analyse der Altersstruktur der Mitgliedschaft. Die altersmäßige Zusammensetzung stellt den Schlüssel zum Verständnis der NSDAP vor 1933 dar. Mit einem Durchschnittsalter von 32 Jahren unter allen Mitgliedern Ende 1929, von 30 Jahren unter den 1930 Eintretenden und von 33 Jahren unter den Eintretenden 1931 war die NSDAP relativ jugendlich und in dieser Jugendlichkeit - wie anderswo auch - nur mit der KPD zu vergleichen.[137] Den beiden Geburtsjahrzehnten von 1893 bis 1912 entstammten von den 1929er Mitgliedern 75 %, von den 1930 bzw. 1931 Neueintretenden 81 % bzw. 69 %, wobei die größte Verdichtung der Mitgliedschaft unter den Geburtsjahrgängen von 1901 bis 1910 anzutreffen war. Diesen zehn Jahrgängen gehörten 53 % der Mitglieder Ende 1929, sowie 43 % bzw. 40 % der Neueintretenden 1930 bzw. 1931 an.[138]

Die Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912, aus denen die NSDAP ihren Mitgliederkern rekrutierte, umfassten 45 % aller männlichen Einwohner im Kreis (1933).[139] Somit lieferte die Existenz dieser geburtenstarken Jahrgänge den "Sprengstoff" für die "Explosion" in den Jahren 1930/31. Es ist davon auszugehen, dass die innergenerationelle Kommunikation die Ausprägung der spezifischen Altersstruktur der NSDAP in diesen Jahren und ihre nachfolgende schnelle Ausbreitung innerhalb des "bürgerlichen" Lagers zumindest begünstigt hat. Ihr kam noch vor der nationalsozialistischen Versammlungsaktivität die größere Bedeutung für den Aufstieg der NSDAP zu.[140]

Im Vergleich der verschiedenen unter der Mitgliedschaft vertretenen Berufsgruppen zeigen sich weitere Verjüngungen auf der proletarischen Seite der Mitgliedschaft. Die geschlossene Jugendlichkeit der Mitglieder aus handwerklich ausgebildeten Facharbeitergruppen, denen zudem eine gewisse Exklusivität zu eigen war, wie Schlosser, Schmiede, Dreher, Tischler, Bildhauer, Elektriker, Kraftfahrer und Autoschlosser, überstieg die vorerwähnten Durchschnittswerte noch erheblich.[141] Auf der "bürgerlichen" Seite der Mitgliedschaft waren von dieser Auffälligkeit nur einzelne Berufsgruppen betroffen, so im Jahre 1930 die kaufmännischen Angestellten, Ingenieure und restlichen Angestellten (Laborant, Gutsbeamter, Landmesser, Betriebsleiter, Bauführer, Krankenwärter, Zahntechniker, Steiger) sowie Kleinfabrikanten und Ärzte. Relativ schwach in den Geburtsjahrgängen 1901 bis 1910 vertreten waren dagegen v. a. Landwirte und Gutsbesitzer, selbständige Handwerks- und Gewerbetreibende sowie Angestellte/Beamte des öffentlichen Dienstes, wobei hier zumindest für die ersten beiden Gruppen in Rechnung zu stellen ist, dass diese Berufe in der Regel nicht schon mit 19 Jahren (Geburtsjahrgang 1910) ausgeübt wurden. Unter den Eintretenden des Jahres 1931 zeigt sich über alle Arbeitergruppen hinweg (mit Ausnahme der Arbeiter im öffentlichen Dienst) eine noch stärkere Präsenz der proletarischen Mitglieder in den Geburtsjahrgängen 1893 bis 1912 und 1901 bis 1910.[142] In gleichem Maße jugendlich waren auf der "bürgerlichen" Seite in diesem Jahre lediglich die landwirtschaftlichen Angestellten. Die noch größere Jugendlichkeit der proletarischen Mitglieder ist im Zusammenhang mit den kürzeren Ausbildungszeiten zu sehen; Arbeiter wurden dadurch früher mit dem Arbeitsmarkt konfrontiert, früher wirtschaftlich selbständig und folgerichtig auch politisch eher mündig. Die Resonanz auf die NSDAP unter jungen Facharbeitern korrespondierte zudem zumindest zum Teil mit einem Rückgang des Einflusses der SPD unter diesen Personengruppen.[143]

Hinsichtlich des Berufsprofils der Mitgliedschaft hatte die NSDAP ihren Platz an der Grenzlinie der beiden relativ stark gegeneinander abgeschotteten politischen Lager, des "sozialistischen"/"proletarischen" und des "nationalen"/"bürgerlichen" Lagers. Doch - und das ist sehr bedeutsam - sie entstand zumindest in Bernburg auf der "nationalen" Seite der Lagergrenze, eine andere Interpretation lassen das vorstehend dargestellte Wahlergebnis der Reichstagswahlen 1930 und auch die nachfolgend dargestellten Mitgliederverhältnisse der Bernburger Parteien nicht zu. Im Landkreis gelang es ihr unter der Vorbedingung nicht so scharf gezogener Lagergrenzen eher als in Bernburg, Wähler und eventuell auch Mitglieder aus dem "sozialistischen" Lager zu gewinnen. Die Positionierung an der Lagergrenze erklärt denn auch zum Teil die hohe Wachstumsgeschwindigkeit schon vor 1933; sie konnte sich - wenn auch mit unterschiedlicher Intensität - in zwei Richtungen gleichzeitig ausbreiten.

Im Regelfall lässt sich eine solche interpretative Einordnung der NSDAP in die Parteienlandschaft deshalb nicht belegen, weil es nicht gelingt, ausreichende Belege für die Zusammensetzung der restlichen Parteien zu erbringen. Das ist auch für Bernburg der Fall, doch ist es möglich, anhand der überlieferten Kandidatenlisten zur Stadtverordnetenwahl im Herbst 1931 und der Zustimmungsunterschriften zu den einzelnen Wahlvorschlägen leistenden Personen die beschriebene Quellenlücke zu füllen. Somit lässt sich der Kreis der jeweiligen Parteiaktivisten im Herbst 1931 hinreichend beschreiben. Unterstellt werden muss jedoch, dass sich die Verhältnisse in der Gesamtmitgliedschaft der Parteien im groben Rahmen jeweils so verhielten, wie unter den hier erfassten Parteiaktivisten und Unterstützern. Im Falle der NSDAP ist eine Überprüfung möglich, die nur geringe Abweichungen ergibt; für die anderen Parteien muss es bei der Annahme bleiben.

Der Vergleich der Kandidatenlisten und Zustimmungsunterschriften in Bernburg 1931 präsentiert sich die NSDAP in einer Mittelstellung, wie sie schon anhand der Wahlergebnisse seit 1924 zu vermuten war. Sie stand nicht nur in einer summarischen Betrachtung, sondern auch im detaillierten Nachvollzug sozialstrukturell an der Grenzlinie der beiden überkommenen politischen Lager. Unter den acht zur Bernburger Stadtverordnetenwahl im Herbst 1931 aufgestellten Listen kann unter formalen sozialstatistischen Kriterien - aber eben nur nach diesen ! - lediglich die "Katholische Gemeinde" (d. h. die Zentrumspartei) den Charakter einer allumfassenden "Volkspartei" für sich beanspruchen. Die innere Strukturierung ihrer Aktivisten bildete die Relation der Bevölkerungs-Großgruppen fast spiegelbildlich ab. Das erstaunt insofern nur wenig, als soziale Statuszuweisungen für das Bekenntnis zu dieser anderswo ein eigenes politisches Lager bildenden Partei nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben dürften. Die Anordnung der übrigen sieben Parteien nach dem durchschnittlichen sozialen Status der auf ihren Listen vertretenen Kandidaten sowie der für diese Listen Zustimmungsunterschriften leistenden Personen zeigt in aufsteigender Linie von "niedrigem" bis "hohem" Sozialstatus zwei Arbeiterparteien (KPD und SPD)[144], drei Parteien des neuen Mittelstandes (NSDAP, "Bürgerliste" - d. h. DVP - und Deutsche Staatspartei), eine Partei des alten Mittelstandes ( "Mittelstandsvereinigung" - d. h. Wirtschaftspartei) und eine Partei, die von altem Mittelstand und Oberschicht geprägt wurde ("Nationale Liste" - d. h. DNVP).[145]


Soziale Zusammensetzung der Kandidaten und Zustimmungsunterschriften Leistenden zur Stadtverordnetenwahl in Bernburg 1931 (in %)[146]

 

KPD

SPD

NSDAP
[147]

DVP [Bür- ger- liste]

Deut- sche Staats- partei

DNVP [Natio- nale Liste]

Wirt- schafts- partei [Mittel- stands- vereinig.]

Zentrums- partei [Katho- lische Gemein- de]

Bevölke- rungsanteil 1933 (ml.Erwerbstätige und Erwerbslose)
[148]

1-9: Arbeiter gesamt

98

86

37

2

10

21

15

64

64

1 Landarbeiter

6

0

0

0

0

3

2

2

 

2 ungelernte Arbeiter

55

33

13

0

0

6

0

19

3 Hausangestellte

0

0

0

0

0

6

0

0

4-9 Facharbeiter und
Angelernte gesamt

37

52

24

2

10

6

12

43

4 Metallfacharbeiter und
-angelernte

16

26

9

0

6

3

5

15

5 Bau- und Holz-facharbeiter
und -angelernte

10

10

1

0

0

0

0

8

6 Facharbeiter und Angelernte
des polygraphischen Gewerbes

0

1

0

0

0

3

0

0

7 Bergleute

0

4

1

0

0

0

2

0

8 andere Facharbeiter

12

11

11

2

0

0

2

17

9 Arbeiter im öffentlichen Dienst

0

1

1

0

3

0

2

4

10-15 Angestellte gesamt

2

13

50

71

68

21

17

25

23

10 kaufmännische Angestellte
und Handlungsgehilfen

2

1

30

38

13

3

10

8

 

11 Lehrer

0

0

0

2

39

6

0

2

12 Angestellte und Beamte
öffentlicher Dienst (außer
Lehrer)

0

4

5

29

13

3

7

6

13 landwirtschaftliche Angestellte

0

0

0

0

0

0

0

0

14 Werkmeister

0

0

0

2

3

3

0

4

15 andere Angestellte

0

8

14

0

0

6

0

6

16-19 Selbständige gesamt

0

1

13

26

23

55

68

11

13

16 Handwerk und Gewerbe

0

0

12

17

16

39

66

8

 

17 Fabrikbesitzer und
Direktoren

0

0

0

7

3

6

2

2

18 Landwirte und Gutsbesitzer

0

0

0

0

0

0

0

0

19 freie Berufe

0

1

1

2

3

9

0

2

20 Schüler und Studenten

0

0

0

0

0

3

0

0

Summe 1-20

100

100

100

100

100

100

100

100

100

absolut

51

84

76

42

31

33

41

53

---



Stadtverordnetenwahl in Bernburg 1931: Die Stellung der NSDAP zwischen den traditionellen politischen Lagern

Die NSDAP bildete in Bernburg 1931 den "Brückenkopf" des "bürgerlichen" Lagers direkt gegenüber der SPD und half somit, die Lagergrenze weiter in das bisherige 'Territorium' des Feindes hinein zu verschieben. Ihre Schnittstellenfunktion zwischen SPD und DVP dokumentiert sich an den Arbeiter- und Angestelltenanteilen auf den jeweiligen Listen. Hatte die SPD 86 % Arbeiter aufzuweisen, so waren es bei der NSDAP 37 % und bei der DVP 2%. Anders im Sektor der Angestellten und Beamten: 13 % bei der SPD, 50 % bei der NSDAP und 71 % bei der DVP. Hinzuweisen ist außerdem darauf, dass bei der NSDAP sich die Relation von Facharbeitern/Angelernten zu Ungelernten sich noch etwas günstiger als bei der SPD gestaltete und die NSDAP tendenziell ihre Arbeiter-Aktivisten stärker aus anderen Facharbeitergruppen bezog als die SPD, insbesondere aus solchen nichtindustrieller Ausrichtung.[149] Angesichts der ins Höchstmaß gesteigerten Feindschaft nach links kann von einer Erosion der bestehenden Lagergrenze trotz der sozialstrukturellen Schnittstellenfunktion der NSDAP zwischen SPD und DVP nicht die Rede sein.

Sozialstrukturell am ähnlichsten war der NSDAP zudem die "Bürgerliste", d.h. die DVP. Das dokumentiert sich nicht nur in einer Angestellten- und Beamten-Mehrheit, die es im übrigen auch noch bei der Deutschen Staatspartei gab, sondern in erster Linie darin, dass bei beiden Parteien die kaufmännischen Angestellten die numerisch dominierende Gruppe bildeten.[150] Auch die Deutsche Staatspartei hatte noch gewisse sozialstrukturelle Ähnlichkeiten zur NSDAP aufzuweisen. Beide "liberale" Parteien wurden zudem in starkem Maße auch von sozialen Gruppen getragen, die zu diesem Zeitpunkt unter den hier erfassten Aktivisten der NSDAP noch relativ schwach vertreten waren (Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes bei der DVP, Lehrer bei der Staatspartei), andererseits aber in bedeutendem Maße für die Eintrittswelle in den Jahren 1932/33 verantwortlich zeichnen sollten.[151] Offensichtlich hat die NSDAP vor allem im Generationenübergang das Erbe der liberalen Parteien übernommen und mehrheitlich Personen an sich angezogen, die selbst oder deren Eltern unmittelbar nach der Novemberrevolution Parteigänger der Deutschen Demokratischen Partei und später der Deutschen Volkspartei waren. Die massive Option für die NSDAP anfangs der 30er Jahre erscheint so in erster Linie als Umorientierung des in seiner Mehrheit über keine traditionelle Loyalitätsbindung an eine Partei verfügenden "neuen Mittelstandes", also hauptsächlich der Angestellten und Beamten.[152] In diese Umorientierung waren augenscheinlich auch Personen sozial benachbarter Schichten durch Kommunikationszusammenhänge wie Arbeitsplatz, Verwandtschaft, früheren gemeinsamen Schulbesuch und gemeinsame Freizeitaktivitäten eingebunden, die subjektiv ihre soziale Lage als gleichartig einschätzten.

Die NSDAP begann ihren Siegeszug unter den zahlenmäßig den größeren Teil des "nationalen" Lagers stellenden unteren Angestellten und Beamten. Ihre Besonderheit lag jedoch darin, dass sie in schneller Folge bis 1933 alle Sozialschichten, die mehrheitlich dem "nationalen" politischen Lager zuzurechnen waren, dominieren konnte, während die Arbeiterschaft und die Katholiken nur an der Peripherie erfasst wurden.

Es handelt sich bei der für Bernburg 1931 festgestellten Zwischenstellung der NSDAP an der politischen Lagergrenze um keinen Zufallsbefund; sondern um den auch in weiteren Orten des Untersuchungsgebietes festzustellenden Normalzustand. So finden sich in Aderstedt vor den Toren Bernburgs bei der gleichen Gemeinderatswahl 1931 analoge Verhältnisse. Der Arbeiteranteil unter den Kandidaten lag bei 100 % im "sozialistischen" Lager, 40 % bei der NSDAP und 14 % im restlichen "nationalen" Lager.[153] Auch unter den Güstener Gemeinderatskandidaten waren gleiche Relationen vorzufinden: 86 % Arbeiter im "sozialistischen" Lager, 25 % bei der NSDAP, 16 % auf den Listen des "nationalen" Lagers. In Güsten hatte die NSDAP außerdem mit 63 % den höchsten Angestelltenanteil aller Listen aufzuweisen.[154] Einzig die Stadtverordnetenkandidaten und Zustimmungsunterschriften Leistenden in Hecklingen folgen nicht diesem Muster. Zwar bestätigt sich in der Kategorie der Selbständigen auch hier die Zwischenstellung der NSDAP; im "sozialistischen" Lager gab es einen Selbständigenanteil von 3 %, in der NSDAP von 23 % und im restlichen "nationalen" Lager von 45 %, doch ordnete sich die NSDAP, was den Arbeiter- und den Angestelltenanteil angeht, zwischen KPD und SPD ein. Allerdings bezog die NSDAP ihre Arbeitermitglieder vor allem aus den Reihen der Landarbeiter und der handwerklichen Facharbeiter, während SPD und KPD ihren eindeutigen Schwerpunkt bei ungelernten Arbeitern und Metallfacharbeitern hatten, so dass sich hier eine Entgegensetzung von im Orte beschäftigten Arbeitern (NSDAP) und in das nahe Staßfurt-Leopoldshall auspendelnden Arbeitern und Angestellten (SPD und KPD) andeutet.[155] Die Verhältnisse in den kleineren Orten des Landkreises sind durch die geringere Ausprägung von Partei- und Milieustrukturen und die Praxis der Aufstellung von "bürgerlichen" Einheitslisten nicht in einer solchen Eindeutigkeit aufzuklären wie hier für Bernburg, Aderstedt, Güsten und Hecklingen geschehen. Insgesamt konnte die NSDAP im Herbst 1931 erst in neun von 34 Wahlorten des Kreises Bernburg eigenständige Kandidatenlisten präsentieren. Die relative Schwäche der NSDAP außerhalb der Kreisstadt erklärt sich einerseits aus einer allgemein geringeren Organisationsneigung ländlicher Bevölkerung, andererseits aber augenscheinlich auch aus der geringeren Präsenz spezifischer - zumeist städtisch angesiedelter - Trägerschichten der Partei. Für Sandersleben z. B. ist überliefert, dass die NSDAP-Ortsgruppe erst wenige Tage vor der Wahl im Oktober 1931 gebildet worden war und sich aufgrund ihrer personellen Schwäche nicht in der Lage sah, eine eigene Liste aufzustellen.[156]

Die Sozialstruktur der NSDAP im gesamten Untersuchungsgebiet deckt sich im wesentlichen mit den für die Bernburger Stadtverordnetenwahlen 1931 vorgestellten Angaben für die Parteiaktivisten. Ende 1929 betrug der Anteil der Angestellten und Beamten an der Parteimitgliedschaft insgesamt 48 %, sank dann jedoch unter den Neueintritten 1930 und 1931 auf 41 % bzw. 36%. Der Arbeiteranteil hingegen stieg von 40 % unter allen Mitgliedern Ende 1929 auf 46 % unter den Neueintritten 1930, um dann wieder auf 40 % unter den Neueintritten 1931 abzufallen. Die restlichen Mitglieder verteilen sich auf Selbständige aller Art, v. a. Handwerksmeister, Kleinfabrikanten und selbständige Kaufleute, sowie Schüler und Studenten. Auch für den im Zeitraum 1929 bis 1931 vorliegenden Höchststand proletarischer Einfärbung der Partei ist somit eine "bürgerliche" Parteimehrheit zu konstatieren.

Bei näherer Untersuchung erweist es sich, dass die willkürliche Grenzziehung zwischen den (versicherungsrechtlich definierten) Großgruppen Arbeiter und Angestellte/Beamte eher geeignet ist, den Blick für die Gemeinsamkeiten der NSDAP-Mitgliedschaft zu verstellen. Immerhin stellten in der Summe Facharbeiter und Angestellte/Beamte jeweils genau zwei Drittel der 1930 und 1931 Eintretenden, unter den Ende 1929 vorhandenen Mitgliedern waren es sogar drei Viertel. Auf der proletarischen Seite hat es den Anschein, als wenn es in erster Linie Arbeiter mit handwerklicher Ausbildung aus Klein- und Mittelbetrieben, also "untypische" Arbeiter waren, die der NSDAP angehörten. Oftmals kam ihnen auch eine gewisse Exklusivität zu (Elektriker, Autoschlosser, Kraftfahrer). Bei einigen besteht zudem der Verdacht bzw. ist nachgewiesen, dass sie späterhin selbständige Handwerksbetriebe führten. Weiterhin sind bestimmte Facharbeiter-Berufsgruppen nur sehr gering vertreten (Bergleute, Maurer) oder fehlen ganz (Druckereiberufe, Facharbeiter und Angelernte der Produktionsbereiche in der Chemischen Industrie). Zwei der insgesamt elf Schlosser des Jahres 1930 sind späterhin als Lokführer bzw. Reservelokführer registriert. Auch bei den als Landarbeiter in der Statistik aufgeführten Mitgliedern handelt es sich in der Regel nicht um einfache Landarbeiter, sondern mehrheitlich um solche etwas herausgehobener Funktionen (Geschirrführer, Gärtner, Bereiter, Schafmeister) oder um "landwirtschaftliche Gehilfen", d. h. in der Familienwirtschaft beschäftigte Söhne von Landwirten.

Die erstellte Statistik berücksichtigt zudem nur den momentanen beruflichen Status, nicht aber den beruflichen Entwicklungsgang. Insbesondere auf der proletarischen Seite der Mitgliedschaft gab es jedoch einige Mitglieder mit deutlich ausgeprägten wechselhaften Erwerbsbiographien. Beispielhaft dafür soll Otto Tauchmann aus Bernburg, geboren 1893, stehen. Tauchmann trat der nationalsozialistischen Bewegung spätestens 1924 bei und war Kandidat des Völkisch-Sozialen Freiheitsblocks in der Landtagswahl vom Juni 1924. Zu dieser Zeit gab er an, Arbeiter zu sein. 1925 zählte er zur Oppositionsgruppe des Dr. Tesch. Da diese Gruppe nicht anerkannt wurde bedurfte es eines erneuten (erfolgreichen) Eintrittsversuchs im August 1926. Die Mitgliederkartei vermerkte ihn anlässlich dieses Eintritts als "Boten". Nach einem Austritt im April 1929 erfolgte ein Wiedereintritt zum Jahresbeginn 1930 und bald darauf ein Ausschluss zum 1.6.1930. In dieser Zeit und in den nächsten Jahren firmierte er als "Handelsmann". Bei seinem Wiedereintritt 1940 schließlich gab er als Beruf "Helfer" an.

Die sich in den Parteiein- und -austritten Tauchmanns dokumentierende Diskontinuierlichkeit in der Zugehörigkeit zur Partei war durchaus ein allgemeines Kennzeichen der Jahre vor 1933. Von den 118 für das Jahr 1930 nachgewiesenen neueingetretenen Mitgliedern konnten für 18 vorherige Mitgliedschaften und für 34 ein späterer Austritt, Ausschluss bzw. eine Streichung sowie für 25 von den letzteren ein noch späterer Wiedereintritt nachgewiesen werden.[157]



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4.3 Eintrittsmotivationen

Angesichts der über lange Zeit geringen gesellschaftlichen Akzeptanz der NSDAP auch in "bürgerlichen" Kreisen stellt sich die Frage, was den Massenzulauf in sehr kurzen Zeiträumen auslöste. Eine monokausale Antwort darauf gibt es nicht, vielmehr scheint nicht nur ein Weg zur NSDAP geführt zu haben.

Eintritte während der Reorganisationsperiode von 1929 bis einschließlich 1931 waren vorwiegend ideologisch fundiert, wobei die Empfänglichkeit für nationalsozialistische Ideologie mit einer bestimmten Lebenslage stark zunahm. Als Elemente dieser Lebenslage schälen sich heraus: ein Geburtsjahrgang in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende, eine Herkunftsfamilie ohne Affinität zur sozialdemokratischen oder kommunistischen Arbeiterbewegung, ein Mittelschul- oder Realgymnasiumsbesuch, ein kleinstädtisches Lebensumfeld, eine berufliche Tätigkeit als unterer bis mittlerer Angestellter oder handwerklich-nichtindustrieller Facharbeiter vorwiegend in Klein- oder Mittelbetrieben und ein Jahreseinkommen vor der Weltwirtschaftskrise zwischen 1.200 und 1.500 Mark.[158] Jenseits dieser objektivierbaren Faktoren der Lebenslage sind für eine frühe Affinität zur NSDAP auch Faktoren der Persönlichkeitsstruktur und der Biographie verantwortlich. Hierunter fallen eine bereits länger andauernde Organisierung im völkischen Umfeld oder in der "bürgerlichen" Jugendbewegung, eine eventuelle Beteiligung an Freikorps-Aktionen in der Nachkriegskrise, eine durch ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis geprägte Persönlichkeit, eine deutliche Aufstiegsorientierung bei gleichzeitiger Wahrscheinlichkeit des dauerhaften gesellschaftlichen Abstiegs gegenüber der Vätergeneration, die Erfahrung von gravierenden Zurücksetzungen im bisherigen biographischen Verlauf und - vor allen anderen Faktoren am bedeutsamsten - eine auch jenseits von eventuell bestehender eigener Arbeitslosigkeit subjektiv wahrgenommene akute soziale Unsicherheit infolge der einsetzenden Weltwirtschaftskrise.[159] Keiner der Nationalsozialisten der Jahre 1930/31 wird alle diese Merkmale auf sich vereinigt haben. Doch je mehr von ihnen auf eine Person zutrafen, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit einer NSDAP-Mitgliedschaft anzusetzen. Im übrigen gelten, bezogen auf eine bloße Anhängerschaft zum Nationalsozialismus, diese Merkmale analog auch für die von einer Mitgliedschaft noch weitestgehend ferngehaltenen Frauen.

Die beschriebene, für eine NSDAP-Mitgliedschaft prädestinierende Lebenslage war vor allem bei Angestellten und Beamten anzutreffen. Die Angestelltenschaft war die einzige Beschäftigtengruppe in Deutschland, die im Gefolge weiter fortschreitender betrieblicher Arbeitsteilung noch einen erheblichen reellen Zuwachs verbuchen konnte, insgesamt hatte sich ihre absolute Zahl in Deutschland in weniger als einer Generation mehr als verdoppelt.[160] Gleichzeitig büßte der Angestelltenberuf dadurch, dass er zum Massenberuf geworden war, seine Exklusivität ein. Diametral entgegengesetzt dazu standen die Aufstiegserwartungen der größtenteils jungen Angehörigen dieser Berufsgruppe. Die Aufstiegsfixierung dieser Klientel wird anhand der Kandidatenlisten und Zustimmungsunterschriften der NSDAP und ihrer Vorläufer zu den Stadtverordnetenwahlen in Bernburg sinnfällig. Bei der Überprüfung der dortigen Berufsangaben mit Hilfe des Adressbuches stellen sich einige Personen, die in den Listen sich selbst als "Angestellte" bezeichneten, im Adressbuch als schlichte Handlungsgehilfen heraus. Auch unter den "Kaufleuten" war nur der geringere Teil tatsächlich selbständige Händler.

Ein auf der Kreisseite der "Volkswacht" im Mai 1932 erschienener Artikel zeigte sich erstaunlich gut über die Motive des NSDAP-Mitgliederkerns orientiert: "Die jungen Nationalsozialisten sind die aktivsten und fanatischsten Anbeter des Hakenkreuzes. Sie sind aber auch der radikalste und am schwersten zu befriedigende Trupp im Gefolge Adolf Hitlers. Diese jungen Menschen aus zumeist wohlbehüteten Familien, die nun nicht als Kaufmann oder Bankangestellter, nicht als Techniker oder Landwirt, nicht als Beamte oder Lehrer eine Existenz finden können, wurden in ihrer Erregtheit darüber und in ihrer politischen Unerzogenheit (Schule und Eltern haben hier völlig versagt) die leichte Beute politischer Abenteurer. Die Naziapostel haben dieser Jugend alles und jedes Erdenkliche verheißen: je weniger konkret die Versprechungen waren, desto stärker ist die stimmungsmäßige Zuneigung. Diese Jugend will nicht wissen, wie wir aus unserer Not herauskommen, sie will glauben, nur glauben [! - T.K.] an ein schöneres Reich."[161]

Der Angestellte wünschte sich deutlich vom Arbeiter abzuheben; die Forderung der Angestelltenverbände in der Weimarer Republik lautete einhellig dahin, den Angestellten einen "standesgemäßen" Lebenswandel zu ermöglichen. In der Realität aber war das in den wenigsten Fällen gewährleistet. Der Angestellte mochte zwar mehr scheinen wollen als der Arbeiter, tatsächlich war er ihm aber materiell mehr oder weniger gleichgestellt, er war, was seine Einkommenssituation anging, letztlich ein Prolet mit weißem Kragen. Eine für Bernburg 1920 zusammengestellte Einkommensübersicht zeigt, dass lediglich die höchste Kategorie der gewerblichen Angestelltenentlohnung keine proletarische Entsprechung mehr kannte. Insbesondere die hochqualifizierte Metallarbeiterschaft, aber auch die meistenteils lediglich angelernten und zuvor andere Berufe ausübenden Fabrikarbeiter der chemischen Industrie ließen in ihren Einkünften große Teile der Angestelltenschaft weit hinter sich. Zudem zeigt die Statistik hohe Unterschiede zwischen den verschiedenen Angestelltenkategorien. Während den "technischen Angestellten" und mit Abstrichen auch der Kategorie der "Betriebsbeamten, Werkmeister und ähnlichen Angestellten" von der Einkommensseite her tatsächlich eine gewisse Exklusivität zukam, konnten andererseits schon 1920 "kaufmännische Angestellte" mehrheitlich und "Büroangestellte" sogar fast ausschließlich lediglich Facharbeiterlöhne der Metallindustrie für sich beanspruchen.[162]


Einkommen von Angestellten und Arbeitern in der gewerblichen Wirtschaft Bernburgs 1920
(nur männliche Beschäftigte)
[163]


Monatsein- kommen
Angestellte in %
innerhalb der betreffenden Einkommensstufe liegende durchschnittliche Arbeiterlöhne
Gesamt
kauf- männi- sche Ang.
techni- sche Ange- stellte
Betriebsbe- amte, Werk- meister und ähnliche A.
Büro- ange- stellte
bis 200 M
1
3
0
0
0
Eisen und Metall: Lagerarbeiter (jung)
201 bis 250 M
1
0
3
1
0
Eisen und Metall: Hilfsarbeiter, Kernmacher, Gießer, Handarbeiter für Metall (alle jung), Transportarbeiter
251 bis 300 M
1
2
0
0
0
 
301 bis 400 M
4
6
0
4
5
Baugewerbe: Bauhilfsarbeiter (jung); Eisen und Metall: Schlosser, Dreher, Schmied (alle jung), Schweißer, Hilfsarbeiter, Maschinenarbeiter für Holz, Handarbeiter, Dreher; Holzgewerbe: Hilfsarbeiter
401 bis 500 M
11
16
5
6
14
Eisen und Metall: Lagerarbeiter, Maler, Former für Eisen u. Stahl (jung), Schlosser (jung, Stücklohn), Gießer, Fräser, Schmiede, Hobler; Chemie: Handwerker (jung); Nahrungs- und Genußmittelindustrie - Müllereien: Speichereiarbeiter, Lagerarbeiter, Kutscher
501 bis 600 M
13
11
5
12
62
Eisen und Metall: Kernmacher, Mechaniker, Schmelzer, Maschinenwärter, Gußputzer (auch im Stücklohn), Schlosser (auch im Stücklohn), Bohrer (auch im Stücklohn), Handarbeiter für Holz, Handarbeiter im Stücklohn, Werkzeugmacher, Tischler, Former für Rot- und Gelbguß, Tischler, Schleifer (alle im Stücklohn); Chemie: Fabrikarbeiter (auch im Stücklohn)
601 bis 750 M
26
29
15
27
14
Holzgewerbe: Maschinenarbeiter; Eisen und Metall: Monteure, Klempner (beide auch im Stücklohn), Dreher, Handarbeiter für Holz, Kernmacher, Former für Rot- und Gelbguß, Tischler, Schleifer (alle im Stücklohn); Chemie: Fabrikarbeiter (auch im Stücklohn)
751 bis 1.000 M
31
24
47
36
5
Baugewerbe: Poliere; Holzgewerbe: Tischler, Polierer (beide im Stücklohn); Chemie: Handwerker im Stücklohn
über 1.000 M
12
8
26
14
0
 

Die Chance des Angestellten auf eine "standesgemäße" Abhebung von der Arbeiterschaft lag nur im allmählichen Aufstieg im Betrieb und in der in den Tarifverträgen festgelegten steigenden Vergütung mit zunehmendem Lebensalter. Beides wurde aber schon vor der Weltwirtschaftskrise immer unwahrscheinlicher. Zum einen gab es in der Industrie wie auch im Handel immer weniger Aufstiegspositionen, zum anderen begannen die Betriebe, Angestelltenpositionen wegzurationalisieren und nur noch befristete Einstellungen vorzunehmen. Schon vor dem "Schwarzen Freitag" 1929 bestand eine starke Angestelltenarbeitslosigkeit, die dann sprunghaft zunahm. Die Folge war, dass eine ganze junge Angestelltengeneration potentiell zu verelenden drohte und - sehr wichtig - aus Geldmangel einfach keine Familie gründen konnte. Hans Fallada hat die Lebensumstände dieses unteren Angestelltenmilieus in seinem 1932 erschienenen Roman "Kleiner Mann - was nun?" eindringlich geschildert.

Die Angst vor dem sozialen Abstieg, vor der Vereinzelung und dem Ausgeliefertsein an ein Schicksal, das kaum zu beeinflussen schien, führte große Teile der Angestelltenschaft - und von ihnen ausstrahlend auch benachbarter sozialer Schichten - auf der Suche nach einer positiven Zukunftsgewißheit dahin, die Verantwortung für das eigene Leben an eine höhere Instanz zu delegieren. Als diese bot sich die NSDAP und v. a. ihr "Führer" Adolf Hitler an. Dabei dürfte in den Wahlen bis dahin der größte Teil der anhaltischen Angestelltenschaft für die liberalen Parteien votiert haben: 1918/19 für die Deutsche Demokratische Partei und seit 1920 zur Deutschen Volkspartei überwechselnd, von der sie seit 1930 zur NSDAP überging. Die liberalen Parteien hatten den Angestellten schon die "standesgemäße Lebensführung" nicht ermöglichen könne, als nun die Arbeitslosigkeit um sich griff orientierten sie sich neu. Dabei wirkte sich aus, dass die Angestelltenschaft schon von jeher stark nationalistisch eingestellt war, der die Mehrheit der kaufmännischen Angestellten repräsentierende Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband auch stark antisemitisch. Außerdem verfügten die Angestellten über keine traditionelle politische Loyalitätsbindung an eine bestimmte Parteirichtung; auch das erleichterte den Übergang zur NSDAP.

Der unter den kaufmännischen Angestellten tonangebende und schon in seinem Statut die Aufnahme von Juden ausschließende Deutschnationale Handlungsgehilfenverband[164] hatte der nationalsozialistischen Bewegung - wie schon für die Nachkriegskrise dargestellt - das Bett bereitet. Es verwundert daher nicht, dass sich einzig unter den in Bernburg im Herbst 1931 neu gewählten elf NSDAP-Stadtverordneten auch zwei DHV-Mitglieder befanden.[165] In der NSDAP-Gesamtmitgliedschaft Bernburgs Ende 1931 war immerhin ein Viertel aller Mitglieder kaufmännische Angestellte.

Die massive Option von Handels- und Buchhaltungsangestellten für den Nationalsozialismus wird auch auf die Bekanntschafts- und Verwandtschaftskreise und die dort zu findenden Angestellten und Beamten anderer Berufsfelder durchgeschlagen haben. Wie die Ergebnisse der Angestelltenversicherungswahlen ausweisen unterlag die gesamte Angestelltenschaft in der Weimarer Zeit einem deutlichen Rechtstrend. Herrschte in der Stadt Bernburg insgesamt noch 1922 Gleichstand zwischen allen drei Gewerkschaftsrichtungen, so war schon 1927 der sozialdemokratische AfA-Bund eindeutig auf den letzten Platz verwiesen - und das trotz anzunehmender relativer Verbesserung der sozialen Lage der Angestellten zumindest der älteren Jahrgänge in der relativen Stabilisierung.[166] Der Rechtstrend unter den Angestellten dürfte sich auch nach 1927 weiter fortgesetzt haben. Im Landkreis Bernburg hingegen scheinen sich die Umschichtungen vorerst zwischen dem liberalen GdA und dem konservativen Gedag vollzogen zu haben. Aus dem Jahre 1932 sind dann jedoch verstärkte Eintrittsbewegungen in die GdA-Ortsgruppen berichtet, die als "Flucht" der Angestellten aus dem AfA-Bund in den GdA gedeutet werden können.[167]

Die Wahl der Vertrauensmänner zur Angestelltenversicherung in Stadt und Kreis Bernburg 1922 und 1927 (in % der gültigen Stimmen)[168]

  Jahr
AfA-Bund
GdA
Gedag
     
 
 
Bernburg 1922
35
34
31
  1927
21
37
42
   
 
 
 
Landkreis Bernburg [169] 1922 [170]
33
44
22
  1927
32
32
36
darunter:  
 
 
 
  - Bernburg-Land 1927
17
10
73
  - Güsten 1927
4
52
44
  - Nienburg 1927
27
38
35
  - Sandersleben 1927
52
15
33
  - Hecklingen 1927
53
12
35

Auch die Kandidatenaufstellung der SPD zu den Gemeinderatswahlen dokumentiert den beschriebenen Rechtstrend in der Angestelltenschaft. Kamen in Bernburg, Nienburg, Neundorf und Rathmannsdorf zusammen[171] 1919 noch 26 % aller SPD-Kandidaten aus der Angestelltenschaft, so ging ihr Anteil schon 1921 auf 22 % zurück, um dann bei 17 % (1924) bzw. 18 % (1927/31) zu stagnieren.

Auch die in der NSDAP sichtbar überproportional vertretenen nichtindustriell-handwerklichen Arbeiter, die in Teilen der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung von jeher fern standen, waren in den Kommunikationszusammenhang der niederen Angestellten- und Beamtenschaft einbezogen. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass in Teilen der Facharbeiterschaft, insbesondere unter den Metallfacharbeitern und -Angelernten ein ähnlicher Rechtstrend oder zumindest eine partielle Abwendung von der sozialistischen Arbeiterbewegung existierte wie unter den Angestellten. Bis 1927 hatte es eine beständige Zunahme des Anteils der Metallfacharbeiter und -Angelernten an den Kandidaten der SPD zu den Gemeinderatswahlen gegeben; in den kontinuierlich mit Quellen zu belegenden Orten Bernburg, Nienburg, Neundorf und Rathmannsdorf zusammen 1919 13 %, 1921 16 %, 1924 20 %, 1927 27%. Im Jahr 1931 jedoch fiel ihr Anteil wieder deutlich auf 20 % zurück. Es ist davon auszugehen, dass Entwicklungen an der Basis mit einer gewissen Verzögerung bis in die Parteiorganisationen und die hier dokumentierte untere Funktionärskategorie 'durchgereicht' wurden. Inwieweit nun aber Teile der hochqualifizierten Facharbeiterschichten - für die hier die Metallfacharbeiter exemplarisch stehen - sich in ihrer politischen Haltung direkt am Beispiel der Angestellten orientierten, ist angesichts der Unkenntnis über die konkreten Komunikationszusammenhänge im sozialen und politischen "Grenzgebiet" kaum zu beurteilen. Zumindest scheint sich aber ihre Bindung an die sozialdemokratische Partei gelockert zu haben, wenn auch offene Übergänge zum Gegner schon aufgrund des internen Gruppendrucks gering blieben.[172]


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4.3.1 Die "überflüssige Generation": Angestelltenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise

Schon im vorhergehenden Kapitel konnte exemplarisch für Emma Hentschel aus der Landeshauptstadt Dessau gezeigt werden, dass die Mitgliedschaft in der NSDAP zur Kompensation erlittener persönlicher Zurücksetzungen, Misserfolge, Frustrationen oder dgl. benutzt werden konnte. In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs treten diese jedoch kaum hervor und die Zahl der sich subjektiv als 'Verlierer' verstehenden ist überschaubar, so dass auch der Zulauf für extremistische Parteien gering bleibt. Das kennzeichnete die Situation in Bernburg zwischen 1925 und 1929. Die Weltwirtschaftskrise jedoch zerstörte massenhaft Aufstiegshoffnungen und löste durch Massenarbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Konkurse massenhafte soziale Abstiegsbewegungen aus. In späteren Befragungen, in erster Linie in den Entnazifizierungsverfahren nach 1945, wurde seitens der Anfang der 30er Jahre eingetretenen Parteimitglieder immer wieder die Bedeutung der grassierenden Arbeitslosigkeit und des damit verbundenen drohenden oder realen sozialen Abstiegs für diesen Schritt unterstrichen. Man könnte das durchaus als Versuch der nachträglichen Reinwaschung ansehen, wenn nicht auch andere zeitgenössische Quellen, die noch nichts von einer späteren Entnazifizierung wissen konnten, dies bestätigen würden.

Aus gesamtdeutscher Sicht hat Peukert die zwischen Jahrhundertwende und Beginn des ersten Weltkrieges geborenen Jahrgänge, die auch im Untersuchungsgebiet die stärkste NSDAP-Neigung aufzuweisen hatten, als die "überflüssige Generation" gekennzeichnet. Sie gehörten "zum größten Geburtenberg, den die deutsche Geschichte überhaupt verzeichnet"[173] und trafen bei Eintritt in das Erwerbsalter auf einen nicht mehr aufnahmefähigen Arbeitsmarkt, der ihrer nicht bedurfte: "Das demographische und sozioökonomische Signum dieser Generationserfahrung ist die Überflüssigkeit und Unbrauchbarkeit des Einzelnen, gemessen an der Kluft zwischen der geringeren Arbeitskräftenachfrage und dem dramatisch angeschwollenen Arbeitskräfteangebot."[174] Die "Jungerwachsenenarbeitslosigkeit" konzentrierte sich am stärksten bei qualifizierten Jungarbeitern in industriellen Hochburgen, also bei der Personengruppe, die auch im Untersuchungsgebiet den proletarischen Anteil der NSDAP-Mitgliedschaft charakterisiert. "Fragt man nun, was diese Struktur der Erwerbslosigkeit lebensgeschichtlich für einen Jugendlichen des Jahrgangs 1914 etwa bedeutete, so ist offensichtlich, dass seine eigene Lebensperspektive sich, wenn er Gleichaltrige oder etwas Ältere in seiner näheren Umwelt betrachtete, mit jedem Lebensjahr zu verschlimmern drohte. Ihm musste daher klar sein, dass die folgenden 10-15 Lebensjahre für ihn zu den arbeitsmarktmäßig ungünstigsten überhaupt in der damaligen deutschen Gesellschaft zählen mussten. Die von ihm überschaubare nächste biographische Zeitspanne nach Schulentlassung und Lehrabschluß war sozusagen abschüssig und endete ohne Zukunftsperspektive. Dies charakterisiert in ganz zentralem Maße die Erfahrungen der Massenarbeitslosigkeit dieser Altersgruppe, für die sich der allgemeine demographische Überhang und die sozioökonomische Krisensituation bedrohlich verknüpften."[175] Peukert wäre vor dem Hintergrund der ermittelten NSDAP-Eintrittszahlen hinzuzufügen, dass diese Beschreibung nicht nur auf die nach der Jahrhundertwende, sondern auch auf die im Jahrzehnt davor geborenen Jahrgänge, und nicht nur auf die tatsächlich arbeitslos werdenden jungen Erwachsenen, sondern auch auf die ständig von Arbeitslosigkeit Bedrohten zutraf.

Die Angehörigen dieser Jugendgeneration waren nach Peukert "in einen sozialen Leerraum gestoßen, auf den sie selbst reagieren mussten, wenn sie nicht in Depression verfallen wollten."[176] Sowohl die Zugehörigkeit zu sogenannten "Wilden Cliquen" als auch die massenhafte Zugehörigkeit zu den militarisierten Männerbünden aller Weltanschauungsrichtungen ist demzufolge als Versuch zu sehen, diese Leere zu füllen. Peukert weist darauf hin, "daß der totale Erfassungsanspruch, den diese Organisationen an ihre Mitglieder stellten, und die ideologische Perspektive einer totalen Alternative zum als bankrott erfahrenen 'System' angesichts der lebensweltlichen Erfahrungen dieser Generation Attraktivität besaßen. Es ist ganz charakteristisch, daß gerade die Altersgruppen der Jungerwachsenen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr überproportional in diesen Kampforganisationen vertreten waren, wie sie auch überproportional in der Statistik der Erwerbslosigkeit auftauchten."[177] Es ist davon auszugehen, dass auch die nicht von Arbeitslosigkeit betroffenen Angehörigen dieser Generation über die unter Altersgenossen intensivierte Kommunikation an dieser Erfahrung von Perspektivlosigkeit Anteil hatten und sich - relativ unabhängig vom tatsächlichen Status - in einer subjektiv gleichartigen Lage sahen.

Für einen Zeitgenossen wie Sebastian Haffner konnte die von Peukert beschriebene Sinnsuche dieser "überflüssigen Generation" sich durchaus als Abenteurertum darstellen. In seinen 1939 niedergeschriebenen Beobachtungen vermerkte er, dass gerade von den nicht mehr zur Einberufung gelangten Jahrgängen, die aber im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegskrise, als sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse ins Rutschen kamen, sozialisiert worden waren, der ungewohnte Frieden als Verunsicherung empfunden und auf der Suche nach Orientierung der Nationalsozialismus als Ordnungsfaktor interpretiert worden wäre: "Ungefähr zwanzig Jahrgänge junger und jüngster Deutscher waren daran gewöhnt worden, ihren ganzen Lebensinhalt, allen Stoff für tiefere Emotionen, für Liebe und Hass, Jubel und Trauer, aber auch alle Sensationen und jeden Nervenkitzel sozusagen gratis aus der öffentlichen Sphäre geliefert zu bekommen - sei es auch zugleich mit Armut, Hunger, Tod, Wirrsal und Gefahr. Nun, da diese Belieferung [nach 1923 - T.K.] plötzlich ausblieb, standen sie ziemlich hilflos da, verarmt, beraubt, enttäuscht und gelangweilt. Wie man aus eigenem lebt, wie man ein kleines privates Leben groß, schön und lohnend machen kann, wie man es genießt und wo es interessant wird, das hatten sie nie gelernt. So empfanden sie das Aufhören der öffentlichen Spannung und die Wiederkehr der privaten Freiheit nicht als Geschenk, sondern als Beraubung. Sie begannen sich zu langweilen, sie kamen auf dumme Gedanken, sie wurden mürrisch - und sie warteten schließlich geradezu gierig auf die erste Störung, den ersten Rückschlag oder Zwischenfall, um die ganze Friedenszeit zu liquidieren und neue kollektive Abenteuer zu starten."[178] Für den Nationalsozialismus hätten gerade diese seit der Jahrhundertwende geborenen Jahrgänge eine leichte Beute bedeutet: "Die Massenseele und die kindliche Seele sind sehr ähnlich in ihren Reaktionen. Man kann sich die Konzeptionen, mit denen Massen gefüttert und bewegt werden, gar nicht kindlich genug vorstellen. Echte Ideen müssen, um massenbewegende historische Kräfte zu werden, im allgemeinen erst bis auf die Fassungskraft eines Kindes heruntersimplifiziert werden. Und eine kindische Wahnvorstellung, gebildet in den Köpfen von zehn Kinderjahrgängen und vier Jahre hindurch in ihnen festgenagelt, kann sehr wohl zwanzig Jahre später als tödlich ernsthafte 'Weltanschauung' ihren Einzug in die große Politik halten.
Der Krieg als ein großes, aufregend-begeisterndes Spiel der Nationen, das tiefere Unterhaltung und lustvollere Emotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu bieten hat; das war 1914 bis 1918 die tägliche Erfahrung von zehn Jahrgängen deutscher Schuljungen; und das ist die positive Grundvision des Nazitums geworden. Von dieser Vision her bezieht es seine Werbekraft, seine Simplizität, seinen Appell an Phantasie und Aktionslust; und von ihr bezieht es ebenso seine Intoleranz und Grausamkeit gegen den innerpolitischen Gegner: weil der, der dieses Spiel nicht mitmachen will, gar nicht als 'Gegner' anerkannt, sondern einfach als Spielverderber empfunden wird. Und schließlich bezieht es von ihr seine selbstverständlich kriegsmäßige Einstellung gegen den Nachbarstaat: weil jeder andere Staat wiederum nicht als 'Nachbar' anerkannt wird, sondern nolens volens Gegner zu sein hat - sonst könnte ja das ganze Spiel nicht stattfinden!
Vieles hat dem Nazismus später geholfen und sein Wesen modifiziert. Aber hier liegt seine Wurzel: nicht etwa im 'Fronterlebnis', sondern im Kriegserlebnis des deutschen Schuljungen. [...] Die eigentliche Generation des Nazismus aber sind die in der Dekade 1900 bis 1910 Geborenen, die den Krieg, ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit, als großes Spiel erlebt haben."[179] "Jenseits der bloßen Demagogie und der Programmpunkte versprach er [Hitler - T.K.], deutlich und fühlbar ehrlich, zweierlei: die Wiederherstellung des großen Kriegsspiels von 1914-18; und die Wiederholung des großen sieghaft-anarchischen Beutezuges von 1922. Mit anderen Worten: seine spätere Außenpolitik und seine spätere Wirtschaftspolitik. Er brauchte dies nicht wörtlich zu versprechen; er konnte ihm sogar scheinbar widersprechen (wie in den späteren 'Friedensreden'): man verstand ihn doch. Und das schuf ihm seine wirklichen Jünger, den Kern der eigentlichen Nazipartei. Es appellierte an die beiden großen Erlebnisse, die sich der jüngeren Generation eingeprägt hatten. Es sprang als elektrischer Funke auf alle über, die heimlich diesen Erlebnissen nachhingen."[180] Auffällig ist, dass Haffner hier die Wirkungen der Massenarbeitslosigkeit weitestgehend ausblendet, was möglicherweise mit seiner eigenen, materiell gesicherten Herkunft in Verbindung steht.

Für das Untersuchungsgebiet fehlen originäre Aussagen, die dieses Muster bestätigen würden. Trotzdem ist es auch hier plausibel. Schließlich ist die höchste Sättigung an Nationalsozialisten in den betreffenden, von Haffner benannten Jahrgängen evident, sie stellten 1930/31 immerhin fast die Hälfte der Mitglieder und somit deren Alters-Kern.

Die vom Flensburger Gerhard M., geboren 1914 und Sohn eines geschäftlich durchaus erfolgreichen Fahrradhändlers, geschilderte Motivation seines Eintritts in die nationalsozialistische Bewegung 1931 bestätigt die Beobachtungen Haffners und dürfte in dieser oder ähnlicher Form auch für viele junge Parteimitglieder im Kreis Bernburg zu veranschlagen sein: "Da Vater mit dieser Partei sympathisierte, wurde auch ich diesen Gedankengängen nahegebracht. Anläßlich einer Versammlung, in die Vater mich mitnahm, sah ich dann die recht schneidigen Männer der SA zum ersten Male. Und ich muß sagen, dieses schneidige Exakte zog mich sofort an. Als ich dann hörte, daß diese Männer öfter Saalschlachten gegen Kommunisten schlugen, war ich gleich mit Begeisterung dabei, denn nichts haßte ich mehr als die Kommunisten, und zwar, weil ich mir unter diesen immer diese banditenhaft aussehenden Erwerbslosen vorstellte, bekleidet mit Schlägermütze, die Hände in den Taschen, [die] faul und pöbelnd an den Ecken standen.
Und diese SA-Männer standen nun in meinen Augen in wohltuendem Gegensatz zu diesem Gesindel, das ich immer aus tiefstem Herzen haßte. Außerdem lernte ich noch die Männer des Reichsbanners kennen, die der Sozialdemokratischen Partei nahestanden, auch diese waren mir sympathisch, denn auch hier herrschte anscheinend ein etwas disziplinierterer Dienst und besserer Ton. Da ich jedoch glaubte, als zukünftiger Geschäftsmann kein 'Sozi' sein zu können, neigte ich eben mehr zu den Nazis. Die Hauptsache: gegen die Kommunisten. [...] Vater hatte mich Ende 1931 einmal mit nach 'Bellevue' genommen, wo eine NS-Versammlung stattfand. Es sollte ein Pg. Kaufmann sprechen (der spätere Gauleiter Hamburgs). Der Saal war voll, und kurz vor Beginn marschierte eine Gruppe sogenannter SA-Männer geschlossen in den Saal und formierte sich vorn vor der Bühne. Diese Männer trugen alle Stiefelhosen und lange Stiefel, Koppel und Schulterriemen über ein weißes Hemd. Es waren alles gutgewachsene, große Kerle und hielten strenge Disziplin. Sie standen vorn, mit ernsten Gesichtern, entschlossen, jeden Ruhestörer sofort aus dem Saal zu werfen. Ich schaute wie gebannt auf diese Männer: Nun wußte ich, was mein Ideal eines jungen Menschen war: soldatische Haltung, soldatisches schneidiges Aussehen, Ernst und Entschlossenheit. Nun wußte ich auch, was ich haßte: Albernheit, Lässigkeit, überlanges Haar, zu saloppe Kleidung, kurz: den sogenannten 'Tanzbodentyp'. Weichliches Wesen, Albernheiten, zuvieles Lachen und Flachsen habe ich von jeher gehaßt, nur kannte ich den Gegenpol noch nicht. Aber was ich hier sah, entsprach meinem Wunschbild. Im selben Augenblick war mein Entschluß gefaßt: Ich wollte SA-Mann werden. Ich haßte die an den Straßenecken herumstehenden jungen Menschen, die für mich eben 'Strolche' waren. Sie hatten beide Hände bis an die Ellenbogen in den Taschen, die Mütze recht schief auf dem überlangen Haar, so standen sie zigarettenrauchend in Gruppen an den Straßenecken und pöbelten gelegentlich Vorübergehende an. Diese Menschen habe ich von jeher mit starker Abneigung bedacht. Und hier: Hier stand der Gegenpol. Ernst, diszipliniert, einheitlich, aber nett gekleidet. Am selben Abend habe ich mich dann gemeldet und mußte gleichzeitig Mitglied der NSDAP werden. Im Februar 1932 [mit gerade 18 Jahren - T.K.] wurde ich dann offizielles Mitglied. Die Aufgabe der SA-Stürme war der Schutz der Versammlungen, bei denen es meistens zu Schlägereien mit den Kommunisten kam."[181] An diesem Beispiel wird auch ein Stück Zeitgeist sichtbar, die Tatsache, dass die deutsche Gesellschaft sich partout nicht vom Patriarchalismus und insbesondere auch nicht vom Militarismus des Kaiserreiches trennen wollte, sondern ihn im Gegenteil weiter kultivierte. Die "bürgerlichen" Zeitungen dieser Jahre vermitteln oft den Eindruck, dass der Weltkrieg nicht vorbei, sondern nur kurz angehalten worden sei.

In den Jahren der Weltwirtschaftskrise in die NSDAP eingetretene Personen haben immer wieder auf die Bedeutung der Massenarbeitslosigkeit für diesen Schritt hingewiesen. Angesichts der überproportionalen Mitgliedschaft von Angestellten in der Partei muss daher die Angestelltenarbeitslosigkeit als wesentlich die Ausbreitungsgeschwindigkeit und die Zusammensetzung der Partei beeinflussend angesehen werden.

Die allgemeine Wahrnehmung der Arbeitslosigkeit war schon vor der Weltwirtschaftskrise zwischen Arbeitern einerseits und Angestellten andererseits sehr verschieden. In großen Teilen der Arbeiterschaft galten diskontinuierliche Erwerbsbiographien durchaus nicht als ehrenrührig, sondern waren auch außerhalb von Krisenzeiten Bestandteil des normalen Erwerbslebens, so z. B. allgemein bei ungelernten Arbeitern und saisonal bedingt bei Landarbeitern, Bauhandwerkern, Ziegelei- und Steinbrucharbeitern. Die Angestellten hingegen waren psychisch auf eine akut eintretende oder auch nur mittelbar drohende Arbeitslosigkeit nicht vorbereitet, sie traf sie somit wesentlich stärker. Schließlich waren sie unter anderem auch deshalb Angestellte geworden, um diesem Proletarierschicksal zu entgehen. Es ist hier allerdings zwischen verschiedenen Angestelltenkategorien zu differenzieren. Während auf technische Angestellte (und Beamte sowieso) die erstrebte Arbeitsplatzsicherheit auch tatsächlich zutraf, fanden sich kaufmännische und Büro-Angestellte schon vor der Weltwirtschaftskrise in einer deutlich unsichereren Stellung; fast zwei Drittel aller arbeitsuchend gemeldeten Angestellten im Bereich der Arbeitsamtsbezirke Dessau, Bernburg und Wittenberg kamen Ende 1928 aus der Kategorie der männlichen kaufmännischen und Büro-Angestellten.[182] Auch wenn ein statistischer Beleg mangels lokaler zeitgenössischer Erhebung an dieser Stelle nicht möglich ist, dürfte die Arbeitsplatzsicherheit eines Stammarbeiters in der Metallindustrie höher einzuschätzen sein als die eines kaufmännischen Angestellten. Freilich änderte dies nichts am Anspruch des letzteren auf soziale Absicherung.

Genaue Angaben über die konkrete Höhe der Arbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise liegen erst für Juni 1933 vor, als deren Maximum schon leicht überschritten war. In den Städten des Kreises Bernburg wurden zu diesem Zeitpunkt zwischen 22 % (Bernburg) und 33 % (Güsten) aller männlichen Angestellten als arbeitslos gezählt. Diese Werte lagen immer noch deutlich unter den Werten für die männlichen Arbeiter, die sich zwischen 36 % (Bernburg) und 53 % (Leopoldshall) bewegten.[183] Insgesamt war Anhalt nach Sachsen (der Höhe des Arbeiteranteils an der Bevölkerung folgend) das Flächenland mit der höchsten Wohlfahrtserwerbslosigkeit, wobei die Werte für Stadt und Kreis Bernburg ihrerseits wiederum über dem anhaltischen Durchschnitt lagen.[184]



Registrierte Arbeitslose im Arbeitsamtsbezirk Bernburg 
zwischen 1929 und 1937



Bedeutsamer als die absolute Höhe der Arbeitslosigkeit scheint jedoch ihre Steigerung seit Beginn der Weltwirtschaftskrise gewesen zu sein. Gegenüber dem Stand vom 31.12.1929 stieg im Arbeitsamtsbezirk Bernburg die Zahl aller arbeitsuchend Gemeldeten (Angestellte inbegriffen) in der Spitze auf 231 % (14. Januar 1933). Die Zahl der arbeitsuchend gemeldeten Angestellten innerhalb der Arbeitsamtsbezirke Dessau, Bernburg und Wittenberg erhöhte sich in der Spitze jedoch auf 460 % (31. Juli 1932) des Wertes von Ende 1929![185]




Allgemeine Entwicklung der Arbeitslosigkeit und Entwicklung der Angestelltenarbeitslosigkeit im AAB Bernburg 1929 bis 1932



Die hiervon ausgehende Traumatisierung dürfte nicht nur aktuell für die Radikalisierung in der Weltwirtschaftskrise, sondern auch nachfolgend im "Dritten Reich" bedeutsam gewesen sein. Die allgemeine Nachgiebigkeit im Falle von politisch motivierten Bedrohungen mit dem Hinweis auf einen möglichen Arbeitsplatzverlust ist nur vor dem Hintergrund der in der Weltwirtschaftskrise gemachten Erfahrungen vollends zu verstehen.
Doch die Arbeitslosigkeit erfasste nicht alle Angestelltenkategorien zeitgleich und insgesamt auch nicht gleichmäßig. Die männlichen kaufmännischen und Büro-Angestellten stellten zu keinem Zeitpunkt weniger als 47 % der Arbeitsuchenden, während die männlichen technischen Angestellten in der Spitze einen Wert von 28 % erreichten; die weiblichen Angestellten belegten einen zwischen 21 % und 30 % schwankenden Anteil. Tendenziell wurden männliche technische Angestellte später von der Arbeitslosigkeit betroffen als männliche kaufmännische und Büro-Angestellte.[186]



Zusammensetzung der in den Arbeitsamtsbezirken Dessau, Bernburg und Wittenberg als arbeitsuchend gemeldeten Angestellten 
nach Großgruppen 1928 bis 1932


Noch charakteristischer als die Verteilung auf die Angestellten-Großgruppen gestaltete sich die Altersverteilung der arbeitsuchenden Angestellten. Zudem wies sie starke Parallelen zur Alterstruktur der Angestellten in der NSDAP im Untersuchungsgebiet auf. Nach dem Stand vom 31. Dezember 1930 zählten 68 % der männlichen arbeitsuchenden Angestellten und 73 % der mit einer NSDAP-Mitgliedschaft 1929/30 registrierten Angestellten zur Kerngruppe der Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912. Bei einer weiteren Eingrenzung auf die beschriebenen Kernjahrgänge 1901 bis 1910 ergeben sich Werte von 41 % zu 43%.[187]


 Altersstruktur der Angestelltenarbeitslosigkeit in den Arbeitsamtsbezirken Dessau, Bernburg und Wittenberg 1930/31 (in % der als arbeitsuchend gemeldeten Angestellten in der jeweiligen Altersgruppe)[188]

Altersgruppe

männliche Angestellte
weibliche Angestellte
 
gesamt
kaufmännische und
Büro-Angestellte
technische Angestellte
gesamt
 
31.12.30
31.12.31
31.12.30
31.12.31
31.12.30
31.12.31
31.12.30
31.12.31

bis 18 J.

3
2
4
2
 
 
12
6

über 18 bis 21 J.

13

10

16
15
6
2
24
21

über 21 bis 25 J.

17
19
19
21
13
16
22
27

über 25 bis 30 J.

20
17
18
14
24
20
15
15

über 30 bis 40 J.

24
27
25
28
22
25
19
19

über 40 bis 45 J.

8
8
5
6
11
10
3
5

über 45 bis 60 J.

12
15
9
12
17
21
4
6

über 60 J.

4
3
3
2
7
5
1
 

Summe

100
100
100
100
100
100
100
100

Eine unter dem Schlagwort des "Problems der älteren Angestellten" in der Weimarer Republik allgemein diskutierte besondere Notlage "älterer" Angestellter jenseits eines Alters von 30 oder 35 Jahren ist anhand der vorliegenden Arbeitslosigkeitsstatistik nicht zu erkennen. Sie waren keinesfalls stärker von Arbeitslosigkeit und Deklassierung betroffen als ihre jüngeren Kollegen (so man davon ausgeht, dass sie sich in gleichem Maße wie diese erwerbslos meldeten).[189] Die beschriebene zeitgenössische Diskussion ist wohl in erster Linie als Forderung dahingehend zu verstehen, dass vor den jungen Angestellten erst die "älteren" Angestellten zu versorgen wären. Neben der allgemeinen Krise am Arbeitsmarkt und dem gleichzeitigen Auftreten geburtenstarker Jahrgänge auf diesem wird auch die Umsetzung dieser Forderung durch Arbeitgeber zu den überproportionalen Arbeitslosigkeitswerten unter der jungen Generation beigetragen haben.[190]



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4.3.2 "Volksgemeinschaft" als verklammerndes Element

Die Hinwendung zur NSDAP hat - aus einer Außensicht heraus - gemeinhin etwas irrationales. Die Weltwirtschaftskrise stellte jedoch einen großen Teil vor allem junger und vor allem "bürgerlicher" Menschen vor eine solche existentielle Bedrohung, dass sie dafür aus ihrer Erziehung und ihrer eigenen Lebenserfahrung heraus keine Bewältigungsmuster entwickeln konnten und eine 'Endzeitstimmung' entwickelten. In Reflektion dieser 'Endzeitstimmung' bestanden in der "bürgerlichen" Gesellschaft eine Reihe von Deutungsangeboten, die im wesentlichen von den drei Säulen Ablehnung des Versailler Vertrages, Volksgemeinschafts- und Führerglaube getragen wurden. Diese mussten von der NSDAP lediglich aufgegriffen, komprimiert und am geradlinigsten vertreten werden.

Die Grundlage dieses vom Nationalsozialismus ausgeformten Deutungsmustergebäudes bildete die vorhandene verfestigte nationalistische Grundeinstellung und die Stilisierung des Versailler Vertrages zum Universalschuldigen für alle negativen Entwicklungen der Nachkriegszeit - einschließlich der persönlichen Misserfolge, Enttäuschungen und Demütigungen. Also: Weil das Land vom "internationalen jüdischen Kapital" geknechtet ist gibt es Klassenkampf in Deutschland und geht es den Deutschen schlecht. Ergo: ich als Angestellter, Handwerker usw. bin schlecht bezahlt bzw. ohne Aufträge weil Deutschland vom feindlichen Ausland geknechtet wird. Oder in den Worten des NSDAP-Gauleiters Loeper 1930: "Die Quelle allen Elendes sei das Diktat von Versailles, das müsse beseitigt werden, wenn eine Wandlung zur Gesundung eintreten solle."[191] Die strikte Ablehnung des Versailler Vertrages, dokumentiert am eindrucksvollsten im Volksentscheid gegen den Young-Plan 1929, aber auch in lokalen Aktionen symbolischer Art, wie in der Abhaltung eines den Protest zum Ausdruck bringenden "Deutschen Abends" durch die Deutsche Volkspartei in Bernburg 1929 oder in der symbolischen öffentlichen Verbrennung des Young-Planes durch den Wehrwolf Güsten im März 1930,[192] war "bürgerliches" Gemeingut. Darauf ließ sich aufbauen, wie beispielsweise die Verlesung des Buches "Revolution 1933" von Martin Bochow in der Januar-Versammlung 1931 der Hecklinger Ortsgruppe des deutschnationalen Bundes Deutscher Frauen-Dienst (Königin-Luise-Bund) zeigt.[193] Die Botschaft des in belletristischer Form gehaltenen Propagandawerkes war ebenso simpel wie eingängig: Provoziert durch die Begehrlichkeiten des internationalen - insbesondere des amerikanischen - Kapitals und durch die Unfähigkeit einer republikanischen Politikerkaste würden sich die Lebensbedingungen des deutschen Volkes, v. a. der unteren Schichten (Arbeiter, Bauern, Kleingewerbetreibende), rapide verschlechtern. Eine letztendlich scheiternde kommunistische Revolution würde Deutschland in ein noch größeres Chaos stürzen und es letztendlich völlig dem Ausland ausliefern.[194] Hatte man einmal diese Prognose akzeptiert, so war man weiterhin bereit zu akzeptieren, dass Abhilfe nur dann geschaffen werden kann, wenn die inländischen Agenten der "jüdisch-bolschwewistischen-imperialistischen Weltverschwörung" kaltgestellt werden und das in der Folge dieses Vorgangs einige deutsche Volk auch gegen den äußeren Feind zusammensteht und die Ketten des Versailler Vertrages abwirft. Selbstredend war angesichts einer solcherart empfundenen Unrechtslage Gewaltanwendung jeglicher Art - natürlich immer in "Notwehr" - in jedem Falle legitimiert. Und ganz nebenbei wurde auch der Antisemitismus legitimiert. Bezogen auf die in einem Konkurrenz- oder auch Abhängigkeitsverhältnis zu Juden stehenden Personengruppen (z. B. Händler, kaufmännische Angestellte, Ärzte, Rechtsanwälte) bedeutet dies, dass in deren Projektion die 'unsauberen Praktiken' der jüdischen Konkurrenz bzw. Arbeitgeber für bestehende Arbeitslosigkeit und Aufstiegsblockierung verantwortlich zeichnen würden. Diese Sichtweise war beispielsweise für einen Handlungsgehilfen insofern naheliegender, als es dann noch einen Ausweg gab, die Beseitigung der "Judenherrschaft". Würde er aber andersherum (in marxistischer Denkrichtung) die zunehmende Konzentration als gesetzmäßig ansehen, sähe seine persönliche Perspektive schon subjektiv viel negativer aus. In der subjektiven Sicht der sich Radikalisierenden konnte sich der persönliche Aufstieg nur noch über einen radikalen gesellschaftlichen Wandel vollziehen; darin unterschied sich der NSDAP-Angestellte nicht wesentlich vom ungelernten KPD-Arbeiter.

Das in dieser Sichtweise nötige Zusammenstehen gegen den äußeren und inneren Feind wurde in den Begriff der "Volksgemeinschaft" gegossen, der im übrigen auch keine Erfindung des Nationalsozialismus war, sondern sich schon seit dem Weltkrieg in Gebrauch befand und von allen "bürgerlichen" Richtungen befürwortet wurde; die Unterschiede im Gebrauch dieses Terminus zwischen den rechten Organisationen waren lediglich gradueller Natur. Die Fiktion der "Volksgemeinschaft" wurde zum kleinsten gemeinsamen Nenner, zur verbindenden Klammer für recht unterschiedliche gesellschaftliche Interessen: "In ihrem, von vielen Schlagworten umgegebenen Rahmen konnte nahezu jeder die Erfüllung seiner sozialen Sehnsüchte erwarten: von den enttäuschten Kriegsheimkehrern über die Jugend zu den Angestellten, Beamten und Bauern bis zu den Großagrariern, der Wirtschaft und dem Militär."[195]

Der Gemeinschaftsgedanke hatte in Deutschland einen theoriegeschichtlichen und Rezeptions-Vorlauf seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufzuweisen[196] und war nach dem Weltkrieg in unterschiedlicher Intensität zum "bürgerlichen" gedanklichen Allgemeingut avanciert: "Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass es ab der Jahrhundertwende, besonders aber nach 1918 nur noch ein beherrschendes geisteswissenschaftliches Thema gab: Die Gemeinschaft. Dabei soll die Streuung der Vorstellungen und Ziele nicht verwischt werden, die sich mit einer solchen Idee verknüpften. Gemeinschaftsutopien entwarfen die sozialistischen Gruppierungen genauso wie die nationalistischen, die völkischen wie die rassistischen, die berufsständischen wie die kirchlichen Verbände. Gerade diese Bandbreite unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen lässt sich als Indiz für die starke Hinwendung zum gemeinschaftlichen Ethos werten. Sie alle verband untereinander kaum ein ideologischer, weltanschaulicher oder religiöser Zusammenhang und doch ist bei so vielen dieser Traum von Einheit und Zusammengehörigkeit vorhanden. Die 'große Sehnsucht nach Gemeinschaft' hatte das deutsche Volk ergriffen."[197] Die von der NSDAP offerierte Volksgemeinschaft wurde nicht etwa zufällig von den potentiellen Anhängern aufgegriffen, sondern man suchte v. a. innerhalb der "bürgerlichen" Schichten angesichts der zunehmenden Krisensymptome nach einer Bewegung, die den nationalistischen Rausch des August 1914 und das verklärte Schützengrabenerlebnis des Ersten Weltkrieges, als es "nur noch Deutsche, und keine Parteien mehr" gab und der Klassenkampf beseitigt schien, wiederaufleben lassen könnte.[198] Insofern handelt es sich bei der Option für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft um das Unvermögen zur und die Angst vor der individuellen Wahrnehmung der eigenen Interessen, oder, wie der deutsche Soziologe Erich Fromm 1943 im amerikanischen Exil schrieb, die "Furcht vor der Freiheit". Man wollte keine Konflikte mehr lösen müssen; die Volksgemeinschaft sollte alle Unterschiede in Herkunft, Stand, Beruf, Vermögen, Bildung, Wissen und Kapital einebnen. Und eventuell auch einen Ausweg aus dem abzusehenden individuellen "Versagen" im Kampf um gesellschaftliche Positionen bieten, die eigene Niederlage ungeschehen machen.

Der Gemeinschaftsgedanke erfuhr seine Verbreitung vor allem durch die Jugendbewegung seit Beginn des Jahrhunderts.[199] Anhand der von Emma Hentschel[200] und dem Bernburger Ortsgruppenleiter Kurt Kleinau bekannten Daten bzw. ihrer eigenen Aussagen ist exemplarisch nachzuverfolgen, dass das in der Jugend aktiv rezipierte Liedgut der zeitgenössischen Laienspielbewegung in seiner Propagierung des Idylls, des kleinen Glücks, den Boden für die Annahme des Volksgemeinschaftsgedankens vorbereitet hat.[201] Im Kreis Bernburg trat mit der expliziten Betonung der "Volksgemeinschaft" besonders der Bund Wehrwolf hervor, der zeitweilig auch die Führungsfunktion im völkischen Organisationsspektrum übernahm und der NSDAP von allen Gruppierungen auch am ähnlichsten war.

Es steht außer Frage, dass die NSDAP äußerst aktiv für ihre Ziele geworben hat, doch hätte sie nie eine solche Bedeutung erlangt, wenn ihre späteren Trägerschichten nicht nach einer Partei dieses "volksgemeinschaftlichen" Zuschnitts gesucht hätten. Auch die anderen "bürgerlichen" Parteien, allen voran die Deutsche Volkspartei, spürten diese irrationale Massenstimmung und versuchten ihr zu entsprechen. Schon zu den Landtagswahlen im November 1924 hatte die "bürgerliche" Sammlungsliste (ohne NSDAP) als "Bürgerliche Volksgemeinschaft" firmiert, und im Kreis Bernburg trat z. B. die gemeinsame Liste der Rechten (incl. NSDAP) zu den Gemeinderatswahlen in Rathmannsdorf 1931 als Liste "Volksgemeinschaft" auf. Doch die "bürgerlichen" Parteien liefen den Ereignissen hinterher, die NSDAP war mit der aufkommenden Weltwirtschaftskrise letztendlich schneller und entschiedener.

Der unbedingte Glaube an die "Volksgemeinschaft" hob die Mitgliedschaft der NSDAP von der der übrigen "bürgerlichen" Parteien und auch von der SPD ab. Sehr häufig vorkommende persönliche Angriffe wegen der Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Bewegung scheinen unter frühen Nationalsozialisten selbst dann noch diesen Glauben verstärkt zu haben, wenn sie in der Rücksichtnahme auf die eigene soziale Lage den erzwungenen zeitweiligen Austritt aus der Partei zum Ergebnis hatten.[202]

Nur am Rande sei bemerkt, dass auf der Seite des politischen Feindes die KPD ein analoges Heils-Modell anzubieten hatte und auch in der Sozialdemokratie zwar nicht der Volksgemeinschafts-Gedanke, doch aber der Führer-Begriff eine gewisse Konjunktur erlebte. Es ist weiterhin darauf hinzuweisen, dass die relativ große Resistenz der stark katholisch und kommunistisch durchsetzten Milieus gegenüber dem Nationalsozialismus aus der Sättigung mit Glaubensinhalten eigener Heilslehren herrührte.

In einem gewissen Gegensatz zur Anbetung der "Volksgemeinschaft" stand eine weit verbreitete unterschwellige Verklärung des Kaiserreiches, artikuliert nicht nur von Älteren, die damit die Hoffnung auf die Wiederherstellung einmal gehabter Privilegien und verlorenen Sozialprestiges verbanden,[203] sondern auch von Jüngeren, die das Kaiserreich im Friedenszustand gar nicht mehr hatten wahrnehmen können. Die Tatsache, dass ein Teil der jetzt eintretenden NSDAP-Mitglieder die "goldenen" Vorkriegs-Zeiten des Kaiserreichs mangels Alters nicht mehr bewusst erlebt hatte, tat dieser Projektion keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: um so leichter konnte an das Bild glauben, wer die seinerzeitige Wirklichkeit nicht kannte. Freilich, das Kaiserreich hatte den betroffenen Schichten tatsächlich gesicherte Lebenspositionen geboten.


Brief eines Bernburger Kaufmanns an den Vorsitzenden der
Deutschen Volkspartei 1931

"Bernburg, den 13 Sept. 1931.
An den
Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei Herrn Dr. Dingeldey
in Berlin.
Sehr geehrter Herr Dr. Dingeldey.

Sie werden entschuldigen daß ich Sie mit Schreiben belästige. Ich bin ein kleiner Mann des Volkes, als Geschäftsmann dem kleinen Mittelstand angehörend bin ich z. Zt. 47 Jahre alt. Solange ich wahlberechtigt bin habe ich immer nur volksparteilich gewählt und dabei sieht es nun so aus als hätte man sich nur das eigene Grab gegraben. Bei den ganzen Parteigezänk, welches ich ja nur aus der Zeitung erlese sehe ich bisher niemals daß auch nur des kleinen Mannes gedacht wird, und grade dies ist doch ein sehr hoher Prozentsatz der volksparteilichen Wähler, und lebt und strebt in diesen Sinne. Da aber nun gar nicht einmal nach denen gefragt oder auch nur einmal zu deren Rettung auch nur einmal etwas getan wird, höre ich aus immer weiteren Kreisen es ist das letzte mal daß Sie in diesen Sinne gewählt haben. Mir liegt es fern zu tadeln oder Vorschläge zu machen nur gestatte ich mir einmal für den kl. Mittelstand darauf aufmerksam zu machen, die dauernde Steuerpressung hat den Kleinbetrieb gänzlich zum Erliegen gebracht. Treten Sie nun endlich einmal dafür ein daß der kleine Besitz und Betrieb durch Abgabenermäßigung geholfen wird, und durch Abgabe von Betriebskapital auf längere Frist geholfen wird. Wie schön war es in Deutschland in früherer Zeit. Da lies einer den anderen leben, der große und der kleine, und beide standen sich gut dabei, heute drängt sich alles nur an die Krippen und sucht einen Posten zu erwischen beileibe nur nicht arbeiten. Wielange soll dies noch dauern, wo sollen zuletzt noch Steuerzahler herkommen, dann doch nur kurz ein schreckliches Ende als ein Ende ohne Schrecken. Ich selbst benötige dringend ein kl. Kapital von 400 Mk. Vielleicht unterstützt die Volkspartei einmal einen langjährigen Wähler und guten Deutschen. Als Gegenleistung werde ich auch weiterhin bemüht sein wie bisher im Volksparteilichen Sinne in meinen Kreißen zu wirken. Es ist dies nicht nur ein Scherz grade unter Uns kleinen Leuten ist ein sehr guter Kern, der müste aber auch erhalten werden es ist ungefähr das Rückgrat der Armen[.] Nehmen Sie es nicht für ungut Herr Dr. Die Not for den Untergang treibt mich Namens des kleinen Mittelstandes zu diesen ungewöhnlichen Schritt. Ich hoffe Sie werden einen aufrechten deutschen Manne dies Vorgehen verzeihen, sowie mir geht es z. Zt. 100 000 kleiner Existenzen. Helfen Sie mir und ich wirke weiter im kleinen zum Wohle der Partei und das Ganzen.
In besonderer Hochachtung Hermann Haase
Bernburg, Saale, Stiftstr.53"[204]


Noch fragwürdiger als der Volksgemeinschaftsgedanke in seiner völligen Negierung gesellschaftlicher Widersprüche zeigte sich die darauf aufsetzende quasi-religiöse Überhöhung des "Führers".[205] Die Person des gesamtnational auftretenden "Führers" Adolf Hitler hob die NSDAP im Kreis Bernburg spätestens seit 1929 von den anderen völkischen Organisationen ab und sicherte ihr ihnen gegenüber auch in dieser Hinsicht einen nicht mehr aufzuholenden Vorteil, zumal es auch gelang, einen Teil des Hitler'schen Abglanzes auf den regionalen Stellvertreter, Gauleiter Wilhelm Loeper, zu übertragen. Hinzu kommt, dass z. B. der Wehrwolf als eigentlich ernst zu nehmender regionaler Konkurrent sich nicht annähernd so professionell zeigte wie die NSDAP und dessen aus Bernburg stammender "Führer" Fritz Kloppe in Halle nach wie vor einer Tätigkeit als Gymnasiallehrer nachging und es ablehnte, sich an Wahlen mit einer eigenen Liste zu beteiligen.



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4.3.3 Biographische Beispiele: Ulrich von Bothmer, Kurt Kleinau, Alfred F.

In der Hinwendung des Bund Oberland- und späteren Bernburger SA-Führers Hauptmann a. D. Freiherr Ulrich von Bothmer (geb. 1889) zur NSDAP wird die Zugkraft des Volksgemeinschafts-Gedankens deutlich. Bis 1929 war der Genralstabsoffizier des Ersten Weltkrieges, der es abgelehnt hatte, in die Reichswehr der Weimarer Republik übernommen zu werden und seit 1921 als kaufmännischer Angestellter der Metallwerke L. Kessler & Sohn in Bernburg tätig war, Parteigänger der Deutschnationalen Volkspartei gewesen. In seinen in den 50er Jahren niedergeschriebenen Erinnerungen bezeichnete er sich selbst aus seinem "ganzen Werdegang heraus [als] ein Kaisertreuer, treu dem Königshaus der Hohenzollern. Wohl sprachen mich die Ziele der NSDAP an. Ich sah in ihr den einzigen aussichtsreichen Gegner gegen Marxismus und Kommunismus und sah in dem Wollen der bürgerlichen Parteien einen Schrittmacher für den Marxismus, dem diese Parteien die breite Masse des Volkes über Not und Verzweiflung in die Arme trieb. Die Lehre 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz' fesselte so ganz mein Herz. [! - T.K.] - Ich gehörte innerlich schon lange zu diesen nationalen Sozialisten. Und doch fand ich den Weg zur Partei erst nach langem Widerstreben, weil mich die oft zu Tage tretende Ablehnung gegen Monarchie und Hohenzollerntreue abstieß. Erst als ich erkannte, dass die bürgerlichen Parteien, auch die königstreue DNVP, niemals in der Lage sein würden, den wertvollsten, unverdorbensten, am wenigsten von Fäulnis ergriffenen Teil des Volkes, die Arbeiterschaft, aus den marxistischen Fängen zu retten, verschrieb ich mich ganz der Partei. Es ging nicht um die Monarchie, sondern um das deutsche Volk, die Rettung Deutschlands vor dem Bolschewismus."[206] Damit übertrug er auch die früher dem Kaiser geltende unbedingte gläubige Gefolgschaft auf Adolf Hitler. Auch bei von Bothmer gingen Volksgemeinschaftsgedanke und Führergläubigkeit eine kaum aufzulösende Einheit ein. Ob der nach dem Ersten Weltkrieg erlittene individuelle gesellschaftliche Statusverlust, der Abstieg vom Offizier zum kaufmännischen Angestellten, bei von Bothmer auch die Akzeptanz der Volksgemeinschaft beförderte, ist nicht mehr aufzuklären.

Der spätere Bernburger Ortsgruppenleiter Bernburg-Wasserturm Kurt Kleinau steht beispielhaft für jene Mitglieder, die vor ihrem NSDAP-Eintritt noch nicht durch Mitgliedschaften im völkischen Spektrum hervorgetreten waren.[207] Kurt Kleinau wurde 1899 in Bernburg geboren und schlug nach dem Besuch des Gymnasiums und der Teilnahme am Ersten Weltkrieg wie schon sein Vater die kaufmännische Laufbahn ein, zuerst seit 1919 als Volontär im Kaliwerk Solvayhall, danach seit 1920 als kaufmännischer Lehrling in der Bernburger Eisenwarenhandelsfirma Riebe. Nach der Lehre wurde er angestellter Reisender einer Magdeburger Firma für Werkzeugmaschinen und Werkzeuge. Kurt Kleinau verstand sich in dieser Funktion als einer herausgehobenen Angestelltenkategorie zugehörig und legte großen Wert darauf, nicht mit einem einfachen Vertreter gleichgesetzt zu werden.[208] Aus der 1926 in einer wirtschaftlich sicheren Situation geschlossenen Ehe sollten vier Söhne hervorgehen. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise trafen Kurt Kleinau gleich zu deren Beginn; seine Magdeburger Firma musste liquidiert werden und er erhielt die Kündigung zum Jahresende 1929. Es gelang ihm aber, nach nur einem Vierteljahr von einer Leipziger Firma für Werkzeugmaschinen und Werkzeuge in gleicher Funktion eingestellt zu werden. Sehr wahrscheinlich hatte seine schnelle Einstellung bei einem artverwandten Unternehmen auch damit zu tun, dass er im Gegensatz zu anderen zu gleicher Zeit entlassenen Angestellten etwas anzubieten hatte, er nämlich über genaueste Kundenkenntnis verfügte und eventuell auch die Kundenkartei seiner Vorgängerfirma mit einbrachte. Allerdings verringerten sich in seiner neuen Stellung seine Bezüge um ein Viertel bis ein Drittel unter gleichzeitiger Ausweitung seines mit Reichsbahn und Fahrrad zu bereisenden Arbeitsgebietes, dessen größte Erstreckung von Wolfen-Bitterfeld bis nach Hannover-Kassel reichte. Eine akute materielle Notlage der Familie ist trotz des reduzierten Einkommens - auch angesichts der Tatsache, dass man kostengünstig im Haus der Schwiegermutter wohnte - zu keiner Zeit zu erkennen. Doch das Damoklesschwert des sozialen Abstiegs schwebte ständig über ihnen; nach einer Tagebuchaufzeichnung vom August 1932 war Kurt Kleinau auch in seiner neuen Leipziger Firma schon dreimal vorsorglich gekündigt worden und momentan schon seit einem Dreivierteljahr auf Kurzarbeit von 75 % gesetzt, was natürlich auch die Geldeinkünfte der Familie um ein weiteres Viertel reduzierte, d. h. das Arbeitseinkommen hatte sich gegenüber 1929 etwa halbiert. Normale Erwerbsverhältnisse sollten sich für ihn erst wieder 1934 ergeben.

Eine frühe wie auch immer geartete völkisch-antisemitische Prägung lässt sich bei Kurt Kleinau nicht ausmachen. Auch hatte er nach dem Weltkrieg keinem Freikorps angehört. Selbst über eine eventuelle vorherige Stahlhelm-Mitgliedschaft ist nichts bekannt. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass er möglicherweise frei von Nationalismus gewesen wäre, eher im Gegenteil, ein strammer Nationalismus gehörte zur Grundausstattung aller "bürgerlichen" Schichten. Seine Mitgliedschaft im liberalen Gewerkschaftsbund der Angestellten deutet darauf hin, dass er bei den Reichstagswahlen seine Stimme wohl der Deutschen Volkspartei oder gar der Deutschen Demokratischen Partei gegeben haben wird. Zudem gehörte er nach 1923 dem etablierten "bürgerlichen" Bernburger Ruderclub Hansa an. Trotzdem ist sein Eintritt in die NSDAP zum 1. November 1931 unter der Mitgliedsnummer 680964 nur auf den ersten Blick überraschend. Bei genauerer - retrospektiver - Betrachtung zeigt sich, dass er für eine NSDAP-Mitgliedschaft geradezu ideal vorbereitet war. Als Jugendlicher hatte er der Wandervogel-Bewegung angehört und in dieser Zeit wahrscheinlich auch die dort propagierte Gemeinschaftsvorstellung geteilt. Diese dürfte weitere Bestätigung in der Teilnahme am Weltkrieg 1917-1919 erfahren haben. Und schließlich gehörte er der die NSDAP tragenden Generation an, deren Mitglieder schon vor der Weltwirtschaftskrise in ihrem Aufstieg und nun auch in ihrer materiellen Existenz bedroht waren. Auch in seinem Falle besteht ein deutlicher Bezug zwischen dem drohenden sozialen Abstieg und der Hinwendung zur NSDAP; der Beginn seiner Kurzarbeit und der Eintritt in die NSDAP fielen zeitlich zusammen. Es könnte dies der Punkt gewesen sein, an dem ihm bewusst wurde, dass ein weiterer gesellschaftlicher Aufstieg und die damit angestrebte Geltung[209] ihm versagt bleiben und er in seinem Leben möglicherweise nie die gesellschaftliche Stellung seines (nicht in die NSDAP eingetretenen) Vaters erlangen würde, der die Position eines geachteten 1. Expedienten beim Kaliwerk Solvayhall bekleidet hatte und zur Skatrunde des Inhabers des jüdischen Bankhauses Gumpel zählte.[210]

Nun sind solcherlei soziale Abstiegsbewegungen, so unangenehm sie dem Betroffenen auch erscheinen mögen, durchaus normal und auch für die Gesellschaft insgesamt nicht problematisch, wenn sie sich mit Aufstiegsbewegungen die Waage halten. Dem war aber in der Weltwirtschaftskrise nicht so; vielmehr befand sich eine ganze Generation in einem vergleichbaren Abstieg und in einer nahezu identischen Widerspiegelung dieser Lage. Im Tagebuch Kurt Kleinaus liest sich der Vermerk über den NSDAP-Beitritt dann auch so, als hätte er etwas getan, was jetzt alle tun: "Auch ich stehe in der sogen. 'Braunen Armee'". Insofern ist anzunehmen, dass die Verhängung der Kurzarbeit für ihn nur den letzten Anlass zu einem Schritt bildete, der früher oder später auf jeden Fall zu erwarten gewesen wäre. Denkbar ist aber auch, dass seine Zugehörigkeit zu einer von ihm selbst als herausgehoben empfundenen Angestelltenkategorie ihn besonders radikal auf die bis vor kurzem kaum denkbare Verschlechterung seiner sozialen Situation reagieren ließ.

Wie viele andere dieser Eintrittsjahrgänge auch stürzte Kurt Kleinau sich fanatisch und ausdauernd in die Parteiarbeit. Im Zuge der Expansion der Partei stieg er im November 1932 zum Zellenleiter und im März 1934 zum Ortsgruppenleiter der neugegründeten Ortsgruppe Bernburg-Wasserturm auf. Seine beiden ältesten Söhne sollten später die Nationalpolitische Bildungsanstalt in Ballenstedt besuchen, deren Absolventen für Führungspositionen im Dritten Reich vorgesehen waren. Da seine Wohnung sich in einer Gegend mit starker Arbeiterbevölkerung befand machte ihn sein Engagement für die NSDAP gelinde gesagt nicht beliebter; die Familie wurde nach dem Parteieintritt des Mannes gemieden, die Frau auf offener Straße angespuckt, das "Nazischwein" war in der Wohngegend verhasst. Auch einige Aufträge gingen ihm dadurch verloren, dass er bei den potentiellen Kunden mit Parteiabzeichen am Rockaufschlag vorsprach. Andererseits war er wohl gerade durch seine großflächigen Geschäftskontakte als Multiplikator wichtig für die Partei. Insgesamt scheint er auch nach 1933, wie im übrigen auch die schon vorgestellte Emma Hentschel, keinen erkennbaren persönlichen materiellen Gewinn aus seiner Aktivistenrolle für die NSDAP gezogen zu haben. Nach seinem eigenen Bekunden sollte sich an der oftmals stark ablehnenden Haltung ihm als Nationalsozialisten gegenüber erst nach 1933 etwas ändern; man kann aber davon ausgehen, dass er hier zumindest in Teilen "geachtet" und "gefürchtet" verwechselt hat. Letzteres deutet aber auf den eigentlichen Gewinn hin, den er aus seinem Engagement für die "Bewegung" zog, er konnte damit - wie übrigens auch Emma Hentschel über die Positionen ihrer Kinder - die für ihn so wichtige gesellschaftliche Geltung erlangen.[211]

In ähnlicher Stärke wie bei Emma Hentschel war der unbedingte Führerglaube auch bei Kurt Kleinau ausgeprägt. In einer Tagebuchnotiz vom August 1932 schreibt er, nachdem er die grassierende Arbeitslosigkeit beklagt hat: "Zur Wiederaufrichtung des Glaubens an ein besseres Deutschland ist uns ein fast namenloser Führer entstanden, Adolf Hitler". Ein von ihm selbst verfasstes und auch veröffentlichtes Gedicht "Deutsche Weihnacht 1933" ist in seiner Aussage eindeutig, der "Führer" erscheint hier als 'Heiland', der die Deutschen ins 'gelobte Land' - sprich: die "Volksgemeinschaft" - führt, wo dann alle glücklich miteinander leben werden:[213]


Kurt Kleinau vor dem Abmarsch zum NSDAP-Reichsparteitag 1937
Kurt Kleinau vor dem Abmarsch zum
NSDAP-Reichsparteitag 1937
[212]
"Deutsche Weihnacht 1933

Draußen ist's finster,
Draußen ist's kalt,
Draußen steht schwarzer, schweigender Wald.

In uns aber leuchtet der Stern
Unseres Heilands, unseres Herrn
Der Menschheit zur Freude,
Der Menschheit zum Frieden,
Ist einst er gekommen
Zur Erde hienieden!

Draußen ist's finster,
Draußen ist's kalt,
Draußen - verlor sich die Menschheit bald!

Da sandte uns Gott
Den Führer aus Not,
Den wirklichen Kämpfer
Für Freiheit und Brot.
Er ist uns gesandt zur Erde hienieden,
Der Menschheit zu bringen einen wahrhaften Frieden!

Drum ist's uns nicht dunkel!
Drum ist's uns nicht kalt!
Denn der Führer führt uns,
Und das gibt uns Halt!

Er gab zurück uns das Gottvertrau'n!
So lasset uns alle mit ihm bau'n
Das heilige deutsche Reich hienieden,
Allen Menschen zum Wohlgefallen und Frieden!"



Alfred F. wurde 1908 als Sohn eines seit 1911 in Bernburg ansässigen Bäckermeisters geboren. In den Jahren 1915 bis 1923 besuchte er das Bernburger Karls-Realgymnasium bis zur Untertertia und trat danach bei der Firma Heinrich Koch Co. Zigarrenfabriken Bernburg, in die kaufmännische Lehre ein, bei er auch nach Beendigung der Lehrzeit bis Ende 1926 als Angestellter verblieb. Von Anfang 1927 bis Mai 1929 war er bei der Bernburger Bank AG als Angestellter beschäftigt, um dann im Juni 1929 als Bürobeamter in die Zentralverwaltung der Deutschen Solvay-Werke AG in Bernburg überzuwechseln. Eine über längere Zeit andauernde wirtschaftliche Notlage ist aus dieser lückenlosen und eher einen beruflichen Aufstieg markierenden Erwerbsbiographie kaum zu konstruieren. In gleicher Weise geradlinig wie seine Erwerbsbiographie vollzog sich sein politischer Werdegang. Anfang 1924 war er im Alter von 14 Jahren Mitbegründer des Scharnhorst, Ortsgruppe Bernburg, und trat im August desselben Jahres zum Jungwolf, der Jugendorganisation des Wehrwolf, über. 1925 wurde er dann dem Wehrwolf überwiesen, von dem aus er im Herbst 1926 zum Bund Oberland übertrat. Nach der Auflösung des letzteren trat er per 1. Januar 1930 im Alter von 21 Jahren in die NSDAP und im Juli 1931 auch in die SS ein. 1934 heiratete er die Tochter eines Bernburger Justizsekretärs, eine ehemalige "Wehrwolf-Opferschwester".[214]

Angesichts seines geradlinigen beruflichen Werdeganges stellt sich die Frage nach den Gründen für sein kontinuierliches aktivistisches Engagement im völkischen Spektrum. So man denn subjektiv so empfundene und auf eine politische Ebene projizierbare Zurücksetzungen als mit verursachend für eine Radikalisierung annimmt, bietet sich hierfür im Falle F.'s eher die Erwerbsbiographie des Vaters an. Der Vater ist in den Bernburger Adreßbüchern als selbständiger Bäckermeister zweifelsfrei nur bis 1913 nachweisbar; nach dem Ersten Weltkrieg gab es die Bäckerei F. nicht mehr.[215] Damit wäre auch zu erklären, warum Alfred F. nicht, wie es vom Sohn eines Bäckermeisters zu erwarten gewesen wäre, den Bäckerberuf erlernte und das Handwerk des Vaters fortführte, sondern die Angestelltenlaufbahn einschlug. Sofern man vor allem in persönlichen Demütigungen den Hauptgrund für die Radikalisierung sehen möchte, so bietet sich im Falle Alfred F.'s das zu vermutende familiäre Trauma des Statusverlustes an, das zudem durch den Sohn eine Überantizipation erfuhr. Der Vater selbst ist nicht als NSDAP-Mitglied nachweisbar.

*

Zusammenfassend ist für das Untersuchungsgebiet festzustellen, dass der typische Nationalsozialist der Aufstiegsphase eben nicht der sadistische, womöglich noch aus dem Lumpenproletariat stammende prügelsüchtige SA-Mann war, sondern ein relativ junger, eher weicher Kleinbürger, dessen Lebensentwürfe sich vor dem Hintergrund eines überfüllten Arbeitsmarktes und der Weltwirtschaftskrise als nicht realisierbar erwiesen. Fragt man nach dem Gewinn, den die in der Organisation bleibenden Mitglieder der Jahre 1930/31 aus ihrer Mitgliedschaft zogen, so war es über alle dargestellten Gruppen hinweg ein Zugewinn an Selbstwertgefühl und subjektiver Zukunftsgewißheit.



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5. 1932/33: Vorauseilender Gehorsam
 

"Das Bürgertum flattert nun einmal dahin, wo die Macht ist und wo es sich Vorteile erhofft [...]". Wilhelm Loeper, Landesinspekteur für Mitteldeutschland-Brandenburg, in einem Stimmungsbericht vom 11. November 1932 an die NSDAP-Reichsorganisationsleitung.[216]

5.1 Nationalsozialistische Machtübernahme in Anhalt

Am 24. April 1932 waren die anhaltischen Nationalsozialisten am Ziel. In den Landtagswahlen gewannen sie 15 der 32 Mandate und konnten in der Folge eine nationalsozialistisch-rechtsbürgerliche Regierung unter dem nationalsozialistischen Staatsminister Dr. Freyberg, bis dahin Rechtsanwalt im preußischen Quedlinburg, bilden.[217] Schon in den Kommunalwahlen im Oktober 1931, als die NSDAP in den Städten ihren Erfolg aus den Reichstagswahlen des Vorjahres wiederholen konnte,[218] hatte sich dieser Wahlsieg angedeutet.

Seit Dezember 1918 hatte die SPD in Koalition mit der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (Deutsche Staatspartei) und der Gruppierung der Bodenreformer nahezu ununterbrochen das Land regiert. Angesichts dieser in der Weimarer Republik nur noch in Hamburg in gleicher Weise anzutreffenden Regierungskontinuität erstaunt die mit dem nationalsozialistischen Wahlsieg sichtbar gewordene deutlich schnellere Faschisierung[219] des noch aus der Zeit des Kaiserreichs mit langen liberalen und rechtssozialdemokratischen politischen Traditionen versehenen Kleinstaates. Die Ursachen für diese anhaltische Vorreiterrolle sind einerseits struktureller Art. Die vergleichende historische Wahlforschung hat gezeigt, dass die NSDAP vor allem in Gebieten besondere Erfolge erzielen konnte, die protestantisch dominiert waren und eine kleinstädtisch-ländliche Siedlungsstruktur sowie einen hohen industriellen Entwicklungsgrad aufzuweisen hatten. In solcherart anfälligen Regionen war von vornherein die Schwäche zweier glaubensintensiver und somit vor dem Nationalsozialismus immunisierender Richtungen, des politischen Katholizismus (Zentrumspartei) und des Kommunismus, zu erwarten. Diese Voraussetzungen trafen auf Anhalt in fast schon idealer Weise zu. Die noch im Herzogtum wirksamen Traditionen kompromissorientierter Konfliktaustragung[220] traten angesichts einer zunehmenden Deregionalisierung der Politik und angesichts des Generationswechsels unter Politikern und Wählern im nunmehrigen Freistaat Anhalt inzwischen in den Hintergrund.

Doch neben diesen strukturellen Gründen waren es vor allem aus der politischen Entwicklung des Landes resultierende Ursachen, die für den NSDAP-Wahlsieg 1932 verantwortlich zeichneten. Über den ganzen Zeitraum der Weimarer Republik hinweg vollzog sich unter den Wählern des "bürgerlichen" resp. "nationalen" Wählerlagers eine Verlagerung des Schwerpunktes zu den rechts stehenden Parteien. Diese Verlagerung führte, korrespondierend mit der Entwicklung auf Reichsebene, aber in Anhalt von einem deutlich höheren Niveau ausgehend, zur Marginalisierung der an der Landesregierung beteiligten Deutschen Demokratischen Partei. Seit Beginn der Weimarer Republik bestand in der Mitte der anhaltischen Gesellschaft ein politisches Potential ohne traditionelle Loyalitätsbindungen an eine konkrete Partei. Sozial wurde dieses Potential vor allem repräsentiert durch die zahlenmäßig weiter anwachsende Schicht der Angestellten und Beamten. Es band sich 1918/19 an die DDP bzw. in geringen Teilen auch an die SPD, begann jedoch schon 1920 zur gerade gegründeten DVP hin abzuwandern. Diese fing es bis zum Ende der 20er Jahre auf, konnte es aber gleichfalls nicht dauerhaft an sich binden und verlor es nach 1928 bis hin zum Wahlsieg 1932 an die NSDAP. Den Regierungsparteien SPD und DDP war dadurch, dass die Radikalisierung des "nationalen" Lagers in den ihnen sozial am nächsten stehenden Sozialschichten stattfand, jede Ausdehnungsmöglichkeit genommen. Vielmehr verloren sie gerade dort - in der Mitte der Gesellschaft - weiter an Einfluss. Durch das Schwinden der Substanz des Koalitionspartners DDP war es der SPD schon nach den Landtagswahlen 1928 nur noch möglich gewesen, mit dieser eine Minderheitsregierung einzugehen. Von vornherein war diese Regierung auf die Stimmenthaltung der KPD oder einzelner rechtsbürgerlicher Abgeordneter angewiesen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten schwanden in dem gleichen Maße, wie bei den Oppositionsparteien die Obstruktionspolitik Oberhand gewann.[221] Diese fragile Konstruktion führte mit zunehmender Radikalisierung der politischen Auseinandersetzungen in der Weltwirtschaftskrise zur Regierungsunfähigkeit.

Die Demontage des parlamentarischen Systems vollzog sich schon seit 1928 durch die rechtsbürgerlichen Parteien zu einer Zeit, als die NSDAP noch ohne politische Bedeutung war. Damit bereiteten DVP und DNVP den Boden für deren Erfolg. Und sie taten dies viel wirkungsvoller als es die Schimpftiraden des zu dieser Zeit einzigen NSDAP-Landtagsabgeordneten, Gauleiter (und später NS-Reichsstatthalter) Hauptmann a. D. Wilhelm Loeper, im anhaltischen Landtag vermocht hätten. Auslösend für den rigiden Konfrontationskurs seitens der Deutschen Volkspartei scheint das von der SPD 1928 abgelehnte Koalitionsangebot - die SPD wollte nicht ohne den bewährten Koalitionspartner DDP regieren, was wiederum die DVP nicht tolerieren wollte - gewesen zu sein. Im Kreis Bernburg wurde diese strikte Konfrontation in erster Linie durch die führende "bürgerliche" Zeitung, den "Anhalter Kurier" des Herrn Zweck von Zweckenburg, umgesetzt.[222]

Das Jahr 1930 ist als das Jahr der irreversiblen Weichenstellung in Richtung der nationalsozialistischen Herrschaft in Anhalt anzusehen. Die SPD war durch den lange verschleppten Konkurs des von ihr begründeten Anhaltischen Siedlerverbandes, durch eine Korruptionsaffäre und ein wirtschaftspolitisches Kompensationsgeschäft zum Schaden der Region um Leopoldshall im Zusammenhang mit dem Verkauf der Anhaltischen Salzwerke an die Preußag und durch den aus wahlarithmetischen Gründen angestrebten Anschluss Anhalts an Preußen schwer kompromittiert. Hinzu kamen etliche kleinere Skandale, wie etwa in der Landeshauptstadt Dessau die Eingemeindung der Dörfer Jonitz, Naundorf, Scholitz, Pötnitz und Dellnau, die wiederum eigentlich die Wahlchancen der SPD hatte verbessern sollen. Mit den per Gesetz dem Dessauer Gemeinderat aus diesen Dörfern zugeteilten Vertretern wurden dann je ein sozialdemokratischer und ein demokratischer Stadtrat auf die Dauer von zwölf Jahren gewählt, was zum dauerhaften Auszug der Rechtsparteien aus dem Gemeinderat führte.
Das von der rechten Seite des politischen Spektrums strapazierte Wort vom "Bonzentum" ließ sich auch auf Ebene des Kreises Bernburg durchaus verifizieren. 1928 wurden dem Reichsbannervorsitzenden und ab 1930 auch Vorsitzenden des SPD-Ortsvereins Bernburg, Oberstadtsekretär Ewald Lichtenberg, Unterschlagungen in seiner Funktion als Vorsitzender des Mietervereins Bernburg in Höhe von mehreren tausend Mark nachgewiesen, die für ihn allerdings wegen der allgemeinen Konfusion im Mieterverein strafrechtlich ohne Folgen blieben.[223] Schon im August 1927 war der Parteisekretär für den SPD-Unterbezirk Anhalt II (Bernburg-Köthen-Ballenstedt), Fritz Jungmann, wegen Unterschlagung aus der Partei ausgeschlossen worden.[224] Ende 1929 musste sich der Nienburger SPD-Stadtrat Gödicke mit - im wesentlichen unberechtigten - Vorwürfen auseinandersetzen, er hätte gleichzeitig die Bezüge als besoldeter Stadtrat und Arbeitslosenunterstützung erhalten.[225] Kurz darauf wurden Anfang 1930 im Bereich des Konsumvereins Bernburg Unterschlagungen aufgedeckt. Ein Kassierer und ein Lagerhalter aus Hecklingen schossen sich daraufhin eine Kugel in den Kopf.[226] 1930 war schließlich auch das Jahr des Konkurses des Anhaltischen Siedlerverbandes. Schon Ende 1929 hatte seitens der Bernburger SPD offiziell festgestellt werden müssen, dass sich der von ihr initiierte Siedlerverband mit dem Projekt Friedrichshöhe - von den Gegnern nach der Bauform "Zickzackhausen" getauft - übernommen habe.[227] Kurz: die Partei war durch die sich häufenden Skandale schwer diskreditiert.

Der vor allem mittels Pressekampagnen und Verleumdungsklagen vorgetragene konzentrierte Angriff der Rechtsparteien gereichte jedoch in den Reichstagswahlen des Jahres 1930 nur zu einer Stärkung der NSDAP. Die DVP als bisher führende Kraft des "bürgerlichen" politischen Spektrums orientierte sich unter dem Eindruck des Aufstiegs der NSDAP gänzlich um und ordnete sich ihr mehr und mehr unter. Ein letzter Versuch, mittels eines - gescheiterten - Volksbegehrens zur Landtagsauflösung Anfang 1931 die Initiative zurückzugewinnen, schlug fehl. Die Nationalsozialisten hatten von Anfang an klargestellt, dass sie sich nicht vor den volksparteilichen Karren spannen lassen würden. Die NSDAP wurde zur neuen integrierenden Kraft des "bürgerlichen" Spektrums. Den politischen Kräften rechts der regierenden Koalition ging es - wie 1924, als schon einmal eine "bürgerliche" Einheitsliste existierte - um die Ausschaltung der Sozialdemokratie. Alle anderen Fragen erwiesen sich demgegenüber als sekundär.[228]

Der akute Abstieg der anhaltischen Sozialdemokratie in die politische Zweitrangigkeit begann nach den Gemeinderats- und Kreistagswahlen im Herbst 1931. Für die Sozialdemokraten gab es auf kommunaler Ebene keinen politischen Gestaltungsspielraum mehr, durch die Umschichtung im "bürgerlichen" Lager zugunsten der NSDAP waren "die Schreier an die Stelle praktischer Politiker getreten".[229] Die nationalsozialistisch-bürgerlichen Mehrheiten verhinderten die Mitarbeit von "Marxisten" in den Kommissionen und verweigerten die bis dahin übliche Wahl eines Vertreters der zweitstärksten Partei (d. h. jetzt in der Regel der SPD) zu Vizevorsitzenden; es begann die Suspendierung von sozialdemokratischen Angestellten und Beamten. In den Kommunalparlamenten selbst kam es zu von den NSDAP-Abgeordneten angezettelten Prügeleien. Die Minderheitskoalition von SPD und Staatspartei auf Landesebene sah sich durch die oppositionellen Parteien von links und rechts blockiert. Ende 1931/Anfang 1932 wurde die Regierung Deist-Weber mehrfach über Misstrauensvoten gestürzt und anschließend mit absoluter Mehrheit wiedergewählt.[230] Rechtsbürgerliche, Nationalsozialisten und Kommunisten[231] verhinderten zusammen die Verabschiedung eines Etats für 1932, so dass nur ein Notetat beschlossen werden konnte. Und nicht zuletzt belegen zahlreiche Beleidigungs- und andere Verfahren, dass die Justiz in Anhalt zu diesem Zeitpunkt schon streng rechts Urteile fällte.[232]

Schon seit April 1931 war die Bernburger Stadtverordnetenversammlung nicht mehr arbeitsfähig. In Stellvertretung der dort zwischen 1928 und 1931 nicht vertretenen NSDAP betätigte sich vor allem der deutschnationale Fraktions- und Ortsgruppenvorsitzende Dachpappen-Kleinfabrikant Dr. Philipp als Untermineur demokratischer Verfahrensweisen und sorgte maßgeblich dafür, dass die Rechtsfraktionen und die Kommunisten die Bürgermeisterwahl sabotierten. Kennzeichnendes Merkmal der die Demontage des parlamentarischen Systems vorantreibenden Politiker war in erster Linie deren Profillosigkeit. Für Bernburg sind in jenen Jahren lediglich zwei über die Stadtgrenzen hinaus profilierte Politiker auszumachen: der "Volkswacht"-Redakteur und Stadtverordnetenvorsteher (bis 1931) Budnarowski und der von der Rechten ebenfalls heftig befehdete demokratische Oberbürgermeister Gothe.

Nach den Gemeinderatswahlen vom Oktober 1931 waren KPD und SPD in den Kommissionen der meisten Gemeinderäte nicht mehr vertreten, sie wurden durch die nunmehrigen nationalsozialistisch-bürgerlichen Mehrheiten ferngehalten. In der Stadt Bernburg standen elf nationalsozialistischen und fünf 'Rest'-bürgerlichen lediglich noch zehn sozialdemokratische und vier kommunistische Stadtverordnete gegenüber, wobei auch jetzt noch SPD und KPD angesichts der über Jahre beiderseits sorgfältig kultivierten Feindschaft sich zum abgestimmten Vorgehen bis zum Ende im Jahre 1933 unfähig zeigten.

Die Möglichkeiten zur Verhinderung der nationalsozialistischen Machtübernahme in Anhalt waren von vornherein äußerst begrenzt. Die NSDAP stellte nach der Landtagswahl vom April 1932 mit ihren 15 Landtags-Mandaten einen derartig großen Block dar - 19 Mandate waren für eine Mehrheit nötig -, dass eine Regierungsbildung ohne sie kaum möglich war. Es hätten schon KPD, SPD, DDP, DVP und der Anhaltische Hausbesitz ein Bündnis schließen müssen, um die NSDAP von der Regierung fernzuhalten. Ein vollkommen utopisches Projekt, schließlich liefen gleich zwei 'Feindeslinien' durch diese gedachte Gruppierung. Doch war die Regierungsbildung der NSDAP nicht unausweichlich. Die vom ehrgeizigen Dessauer Rechtsanwalt Dr. Eisenberg[233] geführte Deutsche Volkspartei hätte es in der Hand gehabt, durch ihre Verweigerung nur eine Minderheitsregierung aus NSDAP, DNVP und Hausbesitz zuzulassen; hätte der Hausbesitz sich auch noch verweigert wären Neuwahlen die unweigerliche Folge gewesen. Das konnte jedoch nicht in der Intention der DVP liegen. Man hatte seit mehr als einem Jahrzehnt daran gearbeitet, die verhasste Sozialdemokratie endlich abzuservieren. Aus welchem Grunde sollte man sich jetzt dem endgültigen Sieg verweigern - auch wenn dieser von einer anderen Partei erzielt worden und man selber nur noch Zaungast des Geschehens war?

Die weitere Entwicklung sollte zeigen, wie ähnlich sich Deutsche Volkspartei und NSDAP inzwischen waren. Anfang Juli 1932 trat die anhaltische Landesorganisation der Deutschen Volkspartei - ihre Kapitulation vor der NSDAP besiegelnd - aus der Partei aus. Im Anschluss daran wurden Ortsgruppen der "Nationalliberalen Partei" gegründet. Auf deren Dessauer Gründungsversammlung erklärte der Landtagsabgeordnete Dr. Eisenberg, die Nationalliberale Partei "sehe ihre Aufgabe nicht in der Bekämpfung irgendeiner nationalen Bewegung. So stelle sie sich 100prozentig hinter den Geist der Nationalsozialisten gegen die Erfüllungspolitik [der Forderungen des Versailler Vertrages - T. K.], setze sich 100prozentig ein für den Grundsatz 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz' und für den Ausgleich zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. In diesem Sinne sei seine Partei 100prozentig nationalsozialistisch. Dagegen lehne die Nationalliberale Partei 100prozentig jeden wirtschaftlichen Sozialismus ab."[234] Im Klartext: nationalistisch durchtränkter Wirtschaftsliberalismus, der sogar die NSDAP als "sozialistische" Partei einstufte.[235] Von der Bindung an eine demokratische Staatsform hatte man sich schon lange vorher verabschiedet; daran änderte auch ein formales antidiktatorisches Bekenntnis nichts. Die Anfang August 1932 von Dr. Eisenberg veröffentlichten programmatischen Grundsätze der nur noch eine marginale Rolle spielenden Nationalliberalen Partei begannen mit dem Satz "Wir wollen national sein."[236]

Tatsächlich waren die Unterschiede zwischen NSDAP und DVP - wie auch den anderen rechtsbürgerlichen Parteien - schon im Jahre 1930, dem Jahr des Führungswechsels, lediglich noch gradueller Natur gewesen. Die Wahrnehmungsmuster waren dieselben. Durchweg sahen sie sich von der sozialdemokratisch-demokratischen Regierung unterdrückt und gedemütigt und konstruierten eine real nicht existente "geschlossene Linke". Differenzen zwischen DVP und NSDAP bestanden lediglich noch in der Frage der von der DVP angestrebten "bürgerlichen" Einigung, die für die NSDAP deswegen kein Thema war, weil der Begriff der "Volksgemeinschaft" sich schon als wesentlich zugkräftiger erwiesen hatte, weiterhin in dem von der DVP kaum praktizierten Antisemitismus, im nur von der NSDAP praktizierten Terror als Propagandainstrument und schließlich in der Ablehnung der scheinsozialistischen Phraseologie der Nationalsozialisten durch die DVP. Doch gerade diese Unterschiede dürften die NSDAP für die ihr von den rechtsbürgerlichen Parteien zuströmenden Wähler attraktiv gemacht haben. Der Dessauer "Anhalter Anzeiger" schrieb schon im Wahlkampf 1924: "Es geht eine tiefe Sehnsucht durch die Massen, eine Sehnsucht nach Kraft und Macht."[237] Und diese Sehnsucht versprach die NSDAP wesentlich effektiver zu befriedigen als alle anderen "bürgerlichen" Parteien.

Die Sozialdemokratie als bei weitem größte anhaltische Partei weigerte sich sehr lange, die NSDAP als eigenständige politische und soziale Bewegung wahrzunehmen. So sah der tonangebende Sozialdemokrat im Kreis Bernburg, der "Volkswacht"-Redakteur Johann Budnarowski, den Nationalsozialismus noch 1930 als "vorübergehende Erscheinung" an.[238] Bezeichnend für den Fokus der sozialdemokratischen Führung ist, dass der seinerzeitige sozialdemokratische Ministerpräsident Heinrich Deist selbst noch in einem 1951 verfassten Lebenslauf schrieb, dass in Anhalt "1932 [...] die Deutschnationalen mit den Nazis die Mehrheit bekamen."[239] Es war eben umgekehrt! Doch diese Verwechslung zeigt, dass die NSDAP seitens großer Teile der Sozialdemokratie auch zu einem Zeitpunkt noch als Anhängsel der Deutschnationalen wahrgenommen wurde, als letztere schon relativ unbedeutend waren und nur noch zum Mehrheitsbeschaffer der NSDAP taugten. Es war denn auch die mangelnde Trennschärfe zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten, die Budnarowski veranlassten, in letzteren permanent 'gekaufte Subjekte' zu sehen. Bei ländlichen deutschnationalen Arbeitgebern scheinen solche Beeinflussungs-Praktiken durchaus üblich gewesen zu sein, doch hinsichtlich der NSDAP ist nicht festzustellen, dass sie davon erfaßt worden wäre. Große Teile der mittlerweile auch schon in die Jahre gekommenen anhaltischen SPD konnten sich jedoch nicht von alten, früher einmal auch richtigen und vor allem vertrauten Sichtweisen trennen. Schließlich hatte man auch 1924 das Bürgerblock-Intermezzo schon nach einem Vierteljahr beenden können.

Die anhaltische Sozialdemokratie befand sich zudem gerade zu Anfang der 30er Jahre in einer tiefen inneren Krise. Der Generationskonflikt war aufgebrochen, kam aber nicht zur Lösung, weil infolge des sich auch in der Arbeiterschaft auswirkenden politischen Rechtsrutsches ein genügend starker Zulauf an jungen Mitgliedern fehlte. Die Partei überalterte tendenziell, die alten bewährten Funktionäre waren für neue Herangehensweisen nicht zu gewinnen. In der Reaktion der anhaltischen SPD auf die akute nationalsozialistische Bedrohung veranschaulichen sich denn auch sowohl der begonnene Führungswechsel als auch der reichsweite Konflikt zwischen Abwartehaltungen einerseits und aktivem Auftreten gegen die Gefährdung der Weimarer Demokratie andererseits.[240] Für die Gegenpole in der anhaltischen Sozialdemokratie standen zwei Personen: Heinrich Peus, der als Chefredakteur des "Volksblattes für Anhalt" der anhaltischen Sozialdemokratie vier Jahrzehnte die (gemäßigt-reformistische) Richtung vorgegeben hatte, und Gerhart Seger, der neue Chefredakteur, ein gemäßigter Linker. Peus stand für das Ignorieren, Seger für die aktive Bekämpfung des Nationalsozialismus.[241] Der Meinungsbildner der Bernburger Sozialdemokraten, der "Volkswacht"-Redakteur Budnarowski, ist eindeutig der Seger-Linie zuzuordnen. Doch auch er war nicht bereit, seine dezidiert antikommunistische Position zeitweilig für ein taktisches Bündnis mit der KPD in den Hintergrund treten zu lassen. Noch auf der Unterbezirkskonferenz Anhalt II Anfang Februar 1933 äußerte er, auf ein entsprechendes Angebot der KPD eingehend, es könne keine Einheitsfront mit der KPD geben, solange sie andere Ziele als die SPD verfolge und sich nicht auf den "Boden des Gesetzes" stelle.[242]

Soweit überschaubar, täuschte sich die anhaltische SPD in ihrer Gesamtheit auch über den sozialen Charakter der nationalsozialistischen Bewegung. Die NSDAP galt bei ihr zumeist als "arbeiterfeindlicher Mittelstand".[243] In den verschiedensten Orten waren jedoch unübersehbar Arbeiter auf Kandidatenlisten der NSDAP vertreten, ohne dass dies innerhalb der sozialdemokratischen Führerschaft zu weitergehenden Überlegungen geführt hätte. Bestenfalls wurden diese Arbeiter als eigens für den Stimmenfang bei Proletariern aufgestellte Alibikandidaten angesehen. Ansonsten sei die Arbeiterschaft gegen die NSDAP immun. So wurde im Februar 1932 aus Coswig berichtet, dass man sich durch Einsicht in deren Mitgliederliste davon hätte überzeugen können, dass der NSDAP in Coswig weniger als 5 % Arbeiter angehörten. Das könnte zwar für die besonderen Coswiger Verhältnisse einer sozial relativ homogenen Arbeiterschaft und einer übermächtigen lokalen Arbeiterbewegung zutreffend gewesen sein, repräsentativ für das ganze Land war dies, wie auch diese Untersuchung zeigt, mit Sicherheit nicht.[244] Denkbar ist, dass seitens der aktiven Sozialdemokraten nur Industriearbeiter als "Arbeiter" angesehen wurden, die "untypischen" Arbeiter in Handwerksbetrieben einschließlich der als Gesellen mitarbeitenden Meistersöhne jedoch nicht. Doch auch dies dürfte die Differenz zwischen der Anschauung der örtlichen Sozialdemokratie und den tatsächlichen Mitgliederverhältnissen in der NSDAP nur zu einem Teil ausfüllen. Für Budnarowski blieb der Nationalsozialismus in sozialer Hinsicht eine "Entartungserscheinung der absterbenden Schichten des Bürgertums. Schichten, die durch den Krieg in Krisen gerieten, verhinderte Parvenus, die nicht mehr Kommerzienrat werden können, Kleinbürgertum, das von der Inflation ausgepowert wurde, beruflos gewordene Offiziere und asoziale Elemente des Bürgertums, die im Notfalle den § 51 für sich reklamieren, akademisches Proletariat, Antisemiten, das Lumpenproletariat der Bourgeoisie und leider auch Teile des Proletariats, die sich kaufen lassen, bilden die Gefolgschaft des Faschismus. Durch Geld kann man leider auch heute noch Menschen kaufen. Programmlosigkeit ist der Ausdruck dieser Bewegung. [...] Diese zwei Kräfte: rückwärtsgerichtete, absterbende Gesellschaftsschichten und aufsteigende Jugend, hat der Faschismus in seinen Dienst gestellt."[245]. So ist denn auch erklärlich, warum der Antikommunist Budnarowski sich Anfang 1930 in der Beurteilung der NSDAP mit der KPD einig wissen konnte: "Der Faschismus ist das Kampfmittel des Kapitalismus gegen das emporstrebende Proletariat. Weil der Faschismus die kapitalistische Diktatur erstrebt, deshalb wird er vom Kapital ausgehalten."[246] In Bernburg als Referenten auftretende auswärtige Funktionäre - im speziellen aus Magdeburg - hatten einen ersichtlich realistischeren Blick auf die NSDAP-Anhängerschaft.[247]

Auch die anderen anhaltischen Parteien scheinen den besonderen sozialen Charakter der nationalsozialistischen Gefolgschaft nicht erkannt zu haben. Beispielsweise findet sich in den ansonsten sehr ausführlichen Lebenserinnerungen des seinerzeitigen langjährigen Dessauer Oberbürgermeisters Fritz Hesse (Deutsche Staatspartei) kein Vermerk zu dieser Frage, was nur dahingehend zu deuten ist, dass er sich die Entstehung der nationalsozialistischen Partei auch in späteren Jahren nicht hinreichend erklären konnte.

Nach der Wahlniederlage in der Landtagswahl 1932 wurden der bereits ihrer parlamentarischen Wirksamkeit beraubten SPD jetzt auch die Möglichkeiten der politischen Artikulation überhaupt beschnitten. Das Verbot der sozialdemokratischen Presse im Juli und November 1932 und von sozialdemokratischen Wahlversammlungen und -plakaten entwickelte sich zum integralen Bestandteil nationalsozialistisch-bürgerlicher 'Wahlkampfmaßnahmen' des Ministeriums Freyberg. Anstelle politischer Kundgebungen der Eisernen Front war in der zweiten Jahreshälfte 1932 legal allgemein lediglich noch die Veranstaltung von "Unterhaltungsabenden" möglich. Auch war der Straßenterror mit der Machtübernahme der NSDAP nicht mehr vorwiegend eine Angelegenheit, die zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten ausgetragen wurde; jetzt wurden auch Reichsbanner-Angehörige, Versammlungen der Staatspartei usw. gewaltsam angegriffen. Die anhaltische Sozialdemokratie als bisher dominierende Partei verstand es nicht, sich der beständigen Einengung ihres politischen Spielraumes zu erwehren. Sie blieb - wie die auch die Reichs-SPD - "nur ein Wahlverein, [...] eine Wahlmaschine" und machte keine Anstalten, "sich mit jedem tauglichen Mittel als Machtfaktor" durchzusetzen, "wenn nicht innerhalb des Parlaments, dann außerhalb des Parlaments."[248] Man war nicht bereit, sich das 'Recht auf die Straße' zu erkämpfen. Freilich hatte das in der anhaltischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die schon im Kaiserreich streng legalistisch geprägt war, auch keine Tradition. Selbst nach der Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 gab es keinen offenen Protest. Die sozialdemokratische Parteiorganisation blieb ohnmächtiger Beobachter ihres eigenen Niedergangs.

Die Deutsche Staatspartei, zu deren Versammlungen in Dessau zuletzt fast nur noch die jüdischen Mitglieder kamen, hatte dem Aufstieg der NSDAP gleichfalls nichts entgegenzusetzen. Vielmehr wurde das Verhältnis zur SPD insbesondere in der Landeshauptstadt Dessau noch dadurch belastet, dass von dort polizeiliches Einschreiten gegen die NSDAP gefordert, vom demokratischen Oberbürgermeister jedoch relativ selten dem entsprochen wurde. Der "Volksblatt"-Chefredakteur Seger zog daraus schon 1930 den Schluss, "daß im demokratisch-sozialdemokratischen Lande Anhalt und in der Stadt Dessau die verfassungstreue Bevölkerung minderen Rechtes ist."[249] Die Entfremdung zwischen Sozialdemokraten und Demokraten (Staatspartei) zeigte sich auch darin, dass dem demokratischen Oberbürgermeister der Landeshauptstadt bei seinem erfolglosen Bestreben, das Bauhaus gegen die Angriffe der Nationalsozialisten und rechtsbürgerlichen Parteien in Dessau zu halten, 1932 nur noch die Kommunisten zur Seite standen.

Trotz des Mitglieder- und Wähleraufschwungs der NSDAP gab es in Bernburg und den benachbarten Orten keinen den umliegenden preußischen Gebieten vergleichbaren SA-Terror. In erster Linie verantwortlich dafür scheint die Person des schon erwähnten SA-Führers von Bothmer gewesen zu sein, der Gewalt als Mittel der Politik ablehnte. Bothmer selbst schrieb in seinen Erinnerungen: "Ich war ein eifriger S.A. Führer, besaß in meinem S.A.- Reservesturm eine große Gefolgschaftstreue und Liebe, aber dieser 'Reserve'-Sturm war bei den jungen 'aktiven' Stürmern und vor allem bei ihren Führern nicht beliebt. Unbeliebt nicht etwa, weil wir ein 'Altherren-Sturm' waren, der sich schonte, nur angab. Oh nein, wir setzten uns vorbildlich ein, alles alte Soldaten des ersten Weltkrieges, die das Fürchten verlernt hatten. - Nein, wir hatten, was Dienstauffassung, Einsatzfreudigkeit, betraf, den besten Ruf auch bei den 'Aktiven'. Wo wir einen Saalschutz übernahmen oder in kommunistische oder marxistische Versammlungen als Schutz für unsere Diskussionsredner geschickt wurden, da kam es niemals zu ernstlichen Zusammenstößen und Schlägereien, weil von uns keine Provokationen erfolgten und weil wir aber in der Haltung alter Soldaten zum Ausdruck brachten, daß wir, sollte es zu handgreiflicher Auseinandersetzung kommen, unseren Mann stehen würden. Auch unsere politischen Gegner achteten uns. So wurden die SA- Reservisten Bothmers gerne dorthin geschickt, wo es brenzlig roch und doch Wert auf ruhigen Ablauf gelegt wurde. Auch die übergeordnete SA.- Führung und politische Leitung wußte: 'Da passiert nichts.' - Auch die Polizei sah uns deshalb gerne. Aber wir waren nicht beliebt, und ich war ein Dorn im Auge den S.A.- Vorgesetzten, dem Sturmbannführer R., dem Standartenführer M.; denn wir waren keine Rabauken, wir lehnten das rabaukenhafte Auftreten ab. - Ich selbst erlitt manche Kränkung: 'Der Hauptmann', 'der verkappte Reaktionär'. Man machte es mir schon nicht leicht, immer diszipliniert mit Überwindung manch inneren Widerstandes die übernommenen Pflichten durchzuhalten. - Oft verstanden mich auch selbst die Getreuen nicht, wenn ich streng darauf sah, daß nicht einmal ein 'wilder Mann' vor besonders gefährlichem Einsatz eine Schußwaffe einsteckte. Nicht immer fand ich Verständnis, wenn ich sagte: 'Nur der Feige und Schwächling greift zur Pistole. Der Starke verläßt sich auf sein tapferes Herz und seine Kräfte.' - Denke ich an diese Zeit zurück, so muß ich sagen: 'Politiker' war ich nicht. - S.A.- Mann. Ein Mann, der bereit war, unter persönlichem Einsatz die politische Führung vor Terror zu schützen."[250] Freilich war auch von Bothmer nicht davon frei, die öffentliche Präsenz der SA zur Einschüchterung politischer Gegner zu nutzen.[251]

In völligem Gegensatz zu Bernburg stand jedoch die preußisch-anhaltische Grenzdoppelstadt Staßfurt-Leopoldshall, die, wie auch die umliegenden Orte auf beiden Seiten der Grenze, vom "Staßfurter SA-Mordsturm" unter dem im kriminellen Milieu verwurzelten Führer Ernst Oehmig beherrscht wurde. Dieser SA-Sturm beging über Jahre hinweg gezielt Überfälle auf politische Gegner (sehr oft im Stil eines motorisierten Überfallkommandos mit dem Auto eines Pfarrerssohnes), ohne dass die Angehörigen dieses SA-Sturms von der rechtslastigen Justiz dafür angemessen belangt worden wären. Auch einige ungeklärte Todesfälle wurden zeitgenössisch ihnen zugeschrieben. Erst im Dritten Reich kam der Stern Oehmigs wieder zum Sinken.


Aus einer Beurteilung des SA-Obersturmbannführers Ernst Oehmig, Staßfurt, durch den SA-Standartenführer Rabe, Stendal, 4. Mai 1935:[252]

"Obersturmbannführer Oehmig und ich sind etwa zur gleichen Zeit im Jahre 1930 in Stassfurt zur SA gekommen. Die damalige Standarte 6, deren Sitz in Stassfurt war, hatte zu dieser Zeit sehr schwere Kämpfe gegen die Kommune auszustehen. Der jetzige Obersturmbannführer Oehmig war in Stassfurt als einer der grössten Schläger bekannt, es war aber auch gleichzeitig bekannt, dass er sich an politischen Auseinandersetzungen bis dahin wenig oder garnicht beteiligt hatte. [Dafür erhielt er aber allein 1920-24 zehn Vorstrafen wegen Diebstahl und schwerem Diebstahl. - T. K.] Der damalige Führer der Standarte 6, jetzige Brigadeführer Michaelis, hatte Oehmig persönlich zum Eintritt in die SA bewogen.
Während der ganzen folgenden Kampfjahre wurde Oehmig stets dort eingesetzt, wo wir uns mit der Faust behaupten mussten. Sein Einsatz war damals für uns von sehr wesentlicher Bedeutung, denn zum grossen Teil seinem Durchgreifen, richtiger gesagt seinen Fäusten, verdankte die Stassfurter SA, dass sie sich bald, den um das vielfache stärkeren Gegnern gegenüber auch auf der Straße behaupten konnte. Oehmig's Beispiel hatte naturgemäss aus den Reihen der bisher politischen Gegner Männer mit zur SA gebracht, die uns für den Kampf auf der Strasse ähnlich wertvoll waren.
Ich habe im gleichen Gebiete wie Oehmig bis zu Ende März 1934 in der SA gewirkt, glaube daher ihn ziemlich gut zu kennen.
Oehmig war sehr gut verwendbar als SA-Mann, er war soweit es damals erforderlich war, auch diszipliniert. Er führte später einen Sturm für den er sorgte. Seine Achtung, die er sich im Sturm errang, beruhte jedoch schon damals weniger auf Führereigenschaften als auf seinen körperlichen Kräften und seinem dementsprechenden Durchgreifen. Als Sturmbannführer wurde er nach einer Besichtigung, bei welcher er dem Gruppenführer Schragmüller in Hecklingen einen verstärkten Sturmbann voll ausgerüstet zur Besichtigung stellte, gelegentlich der Führerbesprechung in Wernigerode vor versammeltem Führerkorps zum Obersturmbannführer befördert.
Nach der Machtergreifung kam Oehmig persönlich [als nunmehriger Staßfurter Ratsherr - T.K.] in den Vordergrund. Behörden, wie z.B. der Bürgermeister Kraatz in Stassfurt und auch industrielle Werke bewarben sich - wie damals üblich - um das Wohlwollen am Orte massgeblicher SA-Führer, wodurch in Oehmig bald ein Maßstab für Trennung des Scheins vom Sein verloren ging. Er schien zu glauben, nun eine gehobene Rolle spielen zu müssen, die ihm aber auf Grund dessen, dass ihm weder Zeit noch Gelegenheit gegeben war, auch seine geistigen Fähigkeiten seiner Stellung entsprechend entwickeln zu können, misslingen musste." [253]

Die Sonderrolle Bernburgs in Bezug auf den SA-Terror drückt sich auch in der von politischen Auseinandersetzungen geforderten Zahl der Todesopfer aus. Nach dem ersten Toten anlässlich des schon geschilderten Vorfalls aus dem Jahre 1923 wurde erst am 3. März 1933 wieder ein wohl dem kommunistischen Spektrum zuzurechnender Arbeiter aus einer vorbeiziehenden NS-Demonstration heraus erschossen.[254] Doch nach dem Weggange des SA-Sturmbannführers von Bothmer kam es unter dem aus Staßfurt geholten Sturmbannführer Kautz zu gleichen Zuständen wie in Staßfurt-Leopoldshall und Hecklingen. In Staßfurt hatte es schon im Herbst 1932 bei schweren Zusammenstößen drei Tote gegeben und am 4. Februar 1933 schließlich war der sozialdemokratische Erste Bürgermeister Hermann Kasten auf offener Straße von einem nationalsozialistischen Oberschüler erschossen worden.[255] Die bisher in Bernburg unterlassenen systematischen Misshandlungen der unterlegenen politischen Gegner wurden in Bernburg in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1933 'nachgeholt'.[256]

Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst unterlagen seit 1933 der vorherigen Überprüfung auf politische Zuverlässigkeit seitens der zuständigen NSDAP-Kreis- oder auch Gauleitung. In deren Ergebnis wurde eine Anzahl von Angestellten und Beamten entlassen und durch "alte Kämpfer" ersetzt, in der Stadtverwaltung Bernburg betraf dies z. B. aufgrund des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums mindestens sechs exponierte ehemalige SPD-Mitglieder und eine "Halbjüdin".[257] Diese Entwicklung vorausahnend hatten schon 1932 Beamte und Angestellte (sogenannte "Mantelträger") die SPD anscheinend in größerer Zahl verlassen.[258]

Die Machtübernahme auf Reichsebene 1933 verschaffte der NSDAP auch einen Zugriff auf die Unternehmen der Privatwirtschaft. Einerseits waren die Unternehmensführungen darauf bedacht, im Interesse einer optimalen Geschäftsführung ein gutes Verhältnis zu den neuen Machthabern zu pflegen. Andererseits trat auch die NSDAP in Gestalt der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation jetzt sehr offensiv gegenüber den Geschäftsführungen auf. Die Wege, die in diesem Spannungsfeld von den Unternehmensführungen gegangen wurden, waren durchaus unterschiedlich. So reichten Geheimrat Eilsberger von den Deutschen Solvay-Werken in Bernburg für diese - nach heutiger Begrifflichkeit "Landschaftspflege" - schon einige Spenden an NSDAP-Gauleiter Loeper und die SS.[259] Doch auch hier musste man sich dem Druck beugen und 1933 politisch motivierte Entlassungen, Pensionierungen und Neueinstellungen akzeptieren.[260] Generell wird es in den größeren Unternehmen der privaten Wirtschaft 1933/34 keine Einstellungen ohne die Zustimmung der NSBO gegeben haben. Im Protokollbuch des inzwischen schon von der NSBO eingesetzten Betriebsrates der Bernburger Landmaschinenbau-Firma Siedersleben findet sich unter dem Datum vom 19. Juli 1933 folgender Vermerk: "Zum Schluß der Sitzung wurde noch über Einstellungen gesprochen. Es sollen Leute, die schon im Betrieb gearbeitet haben, außerdem Parteigenossen und jüngere Leute, um für einen guten Nachwuchs zu sorgen, bevorzugt eingestellt werden."[261] Diese Notiz ist so zu lesen, dass jüngere Parteigenossen, die schon im Betrieb gearbeitet haben, vorrangig eingestellt werden sollten. Ob die vorab dargestellte Absicht zur bevorzugten Einstellung von "Pg.'s" tatsächlich umgesetzt wurde lässt sich nicht mehr ermitteln. Als Auslöser systemkonformen Verhaltens dürfte aber die bekundete Absicht schon ausgereicht haben.

Die Machtergreifung der NSDAP in den Betrieben ist für die Dessauer Schultheiß-Brauerei, die auch in Bernburg eine Niederlage unterhielt, sehr gut nachzuvollziehen.[262] Deren entscheidender Akt war die Entlassung von 38 Arbeitern (= ca. 10 % der Arbeiter-Belegschaft), vorwiegend KPD- aber auch SPD-Mitglieder, auf Veranlassung des NS-Betriebszellenobmanns im Juli und August 1933. Schon zuvor war die Arbeiterschaft des Betriebes im Juni 1933 mit der Absetzung des im März gewählten Betriebsrates und der Einsetzung eines von der NSBO bestimmten Betriebsrates erstmals offen gedemütigt worden. Für die im Sommer Entlassenen wurden bis dahin arbeitslose SA-Männer eingestellt. Die verbliebene Stamm-Belegschaft war verunsichert und wohl des größten Teils ihrer Meinungsbildner beraubt. Gleichzeitig dürfte durch die Einstellung der SA-Männer die Denunziation im Betrieb einen starken Anstieg erfahren haben. Und nicht zuletzt bekamen die Arbeiter signalisiert, dass ihre Arbeitsplätze nur bei Mitgliedschaft in einer NS-Organisation sicher waren und über Einstellungen und Entlassungen wesentlich jetzt der NS-Betriebszellenobmann entschied. Dessen entschiedenes Vorgehen hatte schon dazu geführt, dass sich der Direktor und der stellvertretende Direktor dem Stahlhelm anschlossen, während die drei weiteren Herren der Direktion per 1. März, 1. April bzw. 1. Oktober der NSDAP beitraten. Große Organisationserfolge waren unter der "sozialistischen" Stammarbeiterschaft jedoch trotzdem noch nicht zu erzielen; die für Ende 1933 vermeldeten 133 Mitgliedschaften in verschiedensten NS-Organisationen gehen wahrscheinlich auf die schon Anfang 1933 in der NSBO zu findenden Personen und die neu eingestellten SA-Mitglieder sowie einige Angestellte zurück. Bei den im März 1934 abgehaltenen Vertrauensmännerwahlen gab es dann aber kaum noch Widerstand gegen die NSBO. War diese noch in den Betriebsrätewahlen ein Jahr zuvor mit 16 % der Stimmen eher eine Splittergruppe gewesen, so erhielten ihre Kandidaten jetzt bis zu 455 von 463 abgegebenen Stimmen. Der Gesamtausfall an Nein- und ungültigen Stimmen sowie Nichtteilnahmen betrug lediglich noch ca. ein Zehntel der Wahlberechtigten. Damit hatte die NSBO eindeutig die Macht im Betrieb übernommen.[263] Im Gegensatz zu dem für die Schultheiß-Brauerei Dessau dargestellten Verlauf gelang es dem ansonsten 'unpolitischen' stellvertretenden Vorstandvorsitzenden in den Dessauer Askania-Werken, einem Betrieb der Metallindustrie, durch einen im Betriebsinteresse vollzogenen rechtzeitigen Eintritt in die NSDAP ein Gegengewicht zur dort ebenfalls sehr aggressiv auftretenden NSBO zu bilden und eine ähnliche Entlassungswelle wie in der Schultheiß-Brauerei abzuwehren.[264]

Die Motivationen der Wählerschaft, die 1932 zu einem Wahlerfolg führten, in dem die NSDAP immerhin knapp drei Viertel der Stimmen des "nationalen" Wählerlagers im Land Anhalt auf sich vereinigen konnte,[265] sind im einzelnen nicht mehr nachzuvollziehen. Offensichtlich scheint aber die Kombination aus der Projizierung einer 'jüdisch-bolschwistisch-imperialistischen Weltverschwörung' und der darauf aufsetzenden Lösungsmöglichkeit in Form der "Volksgemeinschaft" für die Wählerschaft von hoher Plausibilität gewesen zu sein. Eine besondere Rolle kam insbesondere der grassierenden Bolschewismusfurcht zu, ein großer Teil der "bürgerlichen" Wähler meinte, nur noch zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus wählen zu können. Selbst der der NSDAP scharf gegnerisch gegenüberstehende Ballenstedter Pfarrer i. R. Karl Windschild aus dem anhaltischen Nachbarkreis notierte unter dem 6. März 1933 in sein Tagebuch, bezugnehmend auf die stattgefundenen Reichstagswahlen: "Daß die Kommunisten verloren haben, ist ja zu begrüßen; denn besser als der Koziterror ist auch der schlimmste Naziterror noch."[266] Wenn er auch in der Zukunft sich korrigieren musste, so sollte der "Bolschewismus" für ihn doch eine wesentliche Bezugsgröße bleiben. Zur ständigen Neukonstituierung einer Bedrohungslage im Bewusstsein aller Bevölkerungsschichten trug sicherlich auch - über den politischen Bereich hinaus - das seit jeher übliche permanente genüssliche Ausweiden aller irgendwie vorgekommenen und vermeldeten Gewaltverbrechen in den Zeitungen aller politischen Richtungen bei. Einerseits bestand sicherlich ein Bedürfnis an solcherlei 'Information' - das Publikum war augenscheinlich von Gewaltakten fasziniert -, andererseits verabscheute es diese und wünschte sich eine "heile" Welt.

Hatte sich das "sozialistische" Wählerlager 1930 noch im wesentlichen immun gegen den aufstrebenden Nationalsozialismus gezeigt, so konnte die NSDAP hier 1932/33 spürbare Einbrüche erzielen. Der Rückgang der Wählerstimmen in der Landtagswahl 1932 führte die anhaltische Sozialdemokratie - auf Basis des ganzen Landes betrachtet - in absoluten Zahlen ausgedrückt zwar nur auf das Niveau der Stammwählerschaft von 1920/24 zurück, gleichzeitig stiegen aber die Zahl der Wahlberechtigten und die Wahlbeteiligung. Auch der Wählerstimmenanteil der KPD fiel dann nicht mehr wesentlich ins Gewicht. Es gab jedoch auch Abweichungen von diesem Trend. In der Kleinstadt Nienburg (Kreis Bernburg) z. B. bestand nach der Gemeinderatswahl 1931 eine Mehrheit von 18:11 zugunsten der Linken;[267] in dem vor den Toren von Bernburg gelegenen und überwiegend von Industriearbeitern bewohnten Latdorf erhielt die SPD selbst zur Märzwahl 1933 noch 55,4 % der Stimmen, weitere 22,5 % gingen an die KPD und nur 18,9 % entfielen auf die NSDAP.[268] In der Stadt Bernburg erreichte die NSDAP ihren Wählerhöchststand bereits zur Stadtverordnetenwahl im Oktober 1931 und zur Landtagswahl im April 1932 mit jeweils 34 % der gültigen Stimmen. Angesichts der Tatsache, dass das "sozialistische" Lager in Bernburg zu den Landtagswahlen 1932 gegenüber 1928 7 % und im ländlichenTeil des Untersuchungsgebietes sogar 15 % des damaligen absoluten Stimmenvolumens verlor,[269] muss davon ausgegangen werden, dass nicht nur ehemalige Nichtwähler, Jungwähler und "bürgerliche" Wechselwähler, sondern auch ein beachtlicher Anteil ehemaliger SPD- und KPD-Wähler zum Aufschwung der NSDAP beigetragen haben.[270]


Schema der Wählerstimmenentwicklung 
im Kreis Bernburg 1918-1932


Eine in den Jahren 1929/30 reichsweit durchgeführte sozialpsychologische Untersuchung hat gezeigt, dass immerhin 25 % der Anhänger der Linksparteien als autoritär strukturierte Persönlichkeiten und damit für die nationalsozialistische Propaganda anfällig anzusehen waren.[271] Geringe Orts- und Betriebsgrößen verstärkten diesen Trend der autoritären Persönlichkeitszentrierung unter Arbeitern noch weiter. Die Betriebsratswahlen Anfang 1933 im größten Betrieb des Kreises und Zentrum der organisierten Arbeiterschaft, der Sodafabrik Bernburg der Deutschen Solvay-Werke, drängen sich als Bestätigung dieser Untersuchung geradezu auf. Nachdem zwei Jahre zuvor die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften noch beinahe uneingeschränkt das Feld beherrscht hatten erzielte die jetzt erstmals angetretene Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) 25 % der Stimmen.[272]

Obwohl - auch angesichts der Nähe wesentlich radikalerer preußischer Gebiete - vor allem der Landkreis Bernburg nach wie vor den Teil Anhalts mit der relativ stärksten KPD-Präsenz darstellte, wurde der Kreis innerhalb der Arbeiterbewegung doch deutlich durch die SPD dominiert. Die Radikalisierung des "sozialistischen" Lagers blieb erkennbar hinter der des "nationalen" Lagers zurück. Während die KPD 1932 in der Stadt Bernburg 21 % und im Landkreis 35 % der Stimmen des "sozialistischen" Lagers auf sich vereinigte waren es bei der NSDAP 62 % (Bernburg) bzw. 70 % (Landkreis) der Stimmen des "nationalen" Wählerlagers. Es scheint außerdem so, als ob beide Radikalisierungen - trotzdem sie in der Propaganda aufeinander Bezug nahmen - lokal nicht voneinander abhängig waren; zumindest lässt sich kein statistischer Zusammenhang zwischen ihnen herstellen. Die Radikalisierung des "nationalen" Wählerlagers war keinesfalls eine direkte Reaktion auf die Stärke und Radikalität der lokalen Arbeiterbewegung und umgekehrt.[273]


Radikalisierungen im "sozialistischen" und 
im "nationalen" Wählerlager in den Orten 
des Kreises Bernburg zur Landtagswahl 
am 24. April 1932


In der Summe scheint die im Kreis Bernburg gegebene Stärke der Arbeiterschaft und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung die Radikalisierung im "nationalen" Wählerlager eher noch gebremst zu haben. Während in Anhalt insgesamt die NSDAP bei der Landtagswahl 1932 in 61 % aller Orte mehr als drei Viertel der Stimmen des "nationalen" Wählerlagers bekam, so war dies im Kreis Bernburg lediglich in 38 % der Orte der Fall.



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5.2 Eintrittsmotivationen

Der Erfolg der NSDAP 1932 zog jene in Scharen an, die glaubten, dass auch mit einem nationalsozialistischen Parteibuch Karriere zu machen war, ja mehr noch, dass man es für bestimmte Karriereschritte oder geschäftlichen Erfolg in Zukunft sogar benötigen würde. Die Eintrittswelle der Jahre 1932/33 trug die Partei im Untersuchungsgebiet auf eine Stärke von etwa 1.800 Mitgliedern Ende 1933.[274] Allerdings, und das ist erstaunlich, die von der SPD als bislang größter Partei im Untersuchungsgebiet erreichten Gesamt-Mitgliederzahlen (Ende 1928 3.606 Mitglieder) wurden von der NSDAP erst im Jahre 1937 übertroffen.[275]

Für die Eintrittswelle 1932/33 ist gegenüber den Eintritten vorhergehender Jahre viel weniger Idealismus, quasi-religiöser Fanatismus und Abenteurertum, sondern mehr und mehr schlichter Opportunismus als vorwiegender Eintrittsgrund zu veranschlagen; ideologisch-weltanschaulich begründete Eintritte waren jetzt eher die Ausnahme.[276] Man nahm an, dass einem die Zugehörigkeit zur "Bewegung" abverlangt werden würde, und versuchte dieser Forderung in vorauseilendem Gehorsam zu entsprechen. Der Volksmund spottete denn auch hinreichend über diese "Märzgefallenen" und "Maiveilchen" des Jahres 1933 und deutete auch die einschlägigen Organisationsbezeichnungen hinter vorgehaltener Hand entsprechend um: NSDAP: Nun Suche Dir Auch Ein Pöstchen, NSBO: Noch Sind Bonzen Oben, NSDStB: Nach Sehr Dürftigem Studium Bonze, Bonze: Bin ohne Nachteil zu entbehren, NSLB: Nicken, Schweigen, Lächeln, Bezahlen.[277]

Was der amerikanische Nachrichtenoffizier Saul K. Padover 1945 über die rheinische Kleinstadt Würselen schrieb trifft - mit Ausnahme der konfessionellen Ausrichtung - in vollem Umfang auch auf den Kreis Bernburg zu: "Zentrumsanhänger, hauptsächlich kleine Kaufleute, Gewerbetreibende und Angestellte liefen nach 1933 in Scharen zu den Nazis über, und zwar aus einem ganz simplen Motiv: Die Angestellten wollten ihre Arbeitsplätze behalten, und die Geschäftsleute hofften, sich ihrer ärgsten Konkurrenz, der Genossenschaften, entledigen zu können. Diese Leute waren das Rückgrat des Nationalsozialismus, und sie sind bedingungslos für den Krieg eingetreten."[278]

Viele der nach dem Machtwechsel eintretenden Karrieristen hatten aufgrund bestehender Berührungspunkte der NSDAP schon länger nahe gestanden und brauchten somit in der Regel auch keine weltanschaulichen Gräben mit ihrem Beitritt zu überspringen. Vorbereitet durch die allseits verbreitete Gemeinschafts-Glorifizierung und Führer-Verehrung vollzogen sie lediglich die innere "Gleichschaltung" und nahmen das Integrationsangebot "Volksgemeinschaft" vorbehaltlos an. Diese Entwicklung war lange vor 1933 gesamtnational angelegt: "Ganze Generationen von Universitätslehrern, schriftstellernden Pseudopropheten und vaterländischen Vereinsvorsitzenden haben mitgewirkt, jene Atmosphäre zu schaffen, in der die herrschende Vernunftfeindschaft, die Verrohung des Lebens, die Korrumpierung sittlicher Maßstäbe nur noch der besonderen politischen Zuspitzungen und des mitreißenden Wortführers bedurften, um ihre zerstörerische Gewalt zu entfalten."[279]

Doch es bedurfte tatsächlich erst der 'Werbekraft' des Sieges, um sie der Partei - in der Regel kurz vor deren vorläufiger 'Schließung' am 1. Mai - endgültig zuzuführen. Sebastian Haffner hat in seinen 1939 niedergeschriebenen Erinnerungen versucht, diesen Personenkreis in seiner Befindlichkeit zu charakterisieren: "Der einfachste Grund, und fast überall, wenn man nachbohrte, der innerste, war: Angst. Mitprügeln, um nicht zu den Geprügelten zu gehören. Sodann: ein wenig unklarer Rausch, Einigkeitsrausch, Magnetismus der Masse. Ferner bei vielen: Ekel und Rachsucht gegenüber denen, die sie im Stich gelassen hatten. Ferner, eine seltsam deutsche Figur, dieser Gedankengang: 'Alle Voraussagen der Gegner der Nazis sind nicht eingetroffen. Sie haben behauptet, die Nazis würden nicht siegen. Nun haben sie doch gesiegt. Also hatten ihre Gegner Unrecht. Also haben die Nazis Recht.' Ferner bei einigen (namentlich Intellektuellen) der Glaube, jetzt noch das Gesicht der Nazipartei ändern und ihre Richtung abbiegen zu können, indem man selbst hineinging. Sodann, selbstverständlich, auch echte gewöhnliche Mitläuferei und Konjunkturgesinnung. Bei den primitiver und massenartiger Empfindenden, Einfacheren schließlich ein Vorgang, wie er sich in mythischen Zeiten abgespielt haben mag, wenn ein geschlagener Stamm seinem offenbar ungetreuen Stammesgott abschwur und den Gott des siegreichen Feindesstamms zum Schutzherrn wählte. St. Marx, an den man immer geglaubt hatte, hatte nicht geholfen. St. Hitler war offenbar stärker. Zerstören wir also St. Marx' Bilder auf den Altären und weihen wie sie St. Hitler. Lernen wir beten: Die Juden sind schuld, anstatt: Der Kapitalismus ist schuld. Vielleicht wird uns das erlösen."[280] Man würde "täglich aufgefordert: nicht, sich zu ergeben, sondern: überzulaufen. Ein kleiner Pakt mit dem Teufel - und man gehörte nicht mehr zu den Gefangenen und Gejagten, sondern zu den Siegern und Verfolgern."[281] Gerade für die zuletzt beschriebene Verhaltensweise standen im Kreis Bernburg auch ehemalige Kommunisten. Der Arbeiter und spätere Schachtmeister Paul Erbe aus Güsten gehörte bis Anfang 1933 der KPD an und war seit Mai 1933 Mitglied von NSDAP und SA. Im Entnazifizierungsverfahren 1948 wurde über seine Aktivitäten festgestellt: "Er hatte als nunmehriger strammer Nazi eine besonders gehässige Haltung gegenüber Andersdenkenden eingenommen und hat, wie Zeugen bekundeten, diese geschlagen und seine ehemaligen Genossen außerdem wüst beschimpft und drangsaliert. Er wollte mit seinen Kumpanen die 'Rote Burg' ausräuchern und verhinderte das Betreten des Rathauses mit Schlägen. Seine stramme Haltung vermittelte er auch seinen Nazigenossen, indem er sie exerzieren ließ, damit sie bei Verhaftungen, die er mit ihnen durchführte, die von ihm getragene Uniform nicht schändeten. Bei linksgerichteten Personen waren seine Haussuchungen Spezialität. Die Einwohner von Güsten wurden durch den Angeklagten langsam eingeschüchtert, ein Zeuge war durch ihn vier Wochen wegen angeblicher Führerbeleidigung in Haft. - Besonders hat sich Erbe hervorgetan bei der unrühmlichen Bücherverbrennung der Nichtnaziliteratur, wo er eine Thälmann darstellende Strohpuppe mitverbrannte."[282] Albert H., ebenfalls Arbeiter aus Güsten und von 1929 bis 1933 in der KPD sehr aktiv, 1933 dann ebenfalls in der NSDAP und SA, gab im Entnazifizierungsverfahren an, von den Kommunisten zu den Nazis übergelaufen zu sein, um mehr Geld zu verdienen. Tatsächlich erhielt er - bis dahin schon mehrere Jahre arbeitslos - eine Stelle als Notstandsarbeiter bei der Stadt Güsten. Das 'Eintrittsgeld', das er dafür zahlen musste, waren die Denunziationen an seinen ehemaligen Genossen und seine aktive Beteiligung an Haussuchungen bei diesen. Er bekämpfte sie nun in der gleichen Intensität, wie er sich zuvor gegen die Nationalsozialisten gewandt hatte. Auch der Judenboykott gegen den Kaufmann Sally Neumann sah ihn in der ersten Reihe.[283]

Opportunistisches, d. h. nutzenorientiertes Eintrittsverhalten ist am stärksten im Bereich des öffentlichen Dienstes zu beobachten. Unter dessen Angestellten und Beamten waren naturgemäß jene für eine Hinwendung zur NSDAP empfänglicher, die Zurückweisungen, Nichtbeförderungen etc. hatten hinnehmen müssen. Für sie bestand die Möglichkeit, diese Hemmnisse einer vermeintlichen oder tatsächlichen sozialdemokratischen ("marxistischen") "Parteibuchwirtschaft" anzulasten. Nachdem mit dem Wechsel der Regierung Sanktionen einer NSDAP-Mitgliedschaft nicht mehr zu fürchten waren, bestand für sie die Möglichkeit, sich auf recht billige Art auch noch ein Stück Genugtuung zu verschaffen. Doch diese Personen waren nicht unbedingt typisch für die aus dem öffentlichen Dienst stammenden NSDAP-Neumitglieder insgesamt. Typisch waren vielmehr jene, die relativ emotionslos ihre eigene berufliche Stellung und den perspektivischen Bestand des "Dritten Reiches" einzuschätzen versuchten und sich im Ergebnis dessen mit einer Parteimitgliedschaft auf der sicheren Seite glaubten. Das von den neuen Machthabern erlassene "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" dürfte diesen Entscheidungsprozeß ebenso wesentlich beeinflusst haben, wie die sichtbaren Wechsel in den Führungspositionen. Diese Situation erzeugte die Angst, bei nicht demonstrativ hervorgekehrter Systemloyalität eventuell selbst zu den Entlassenen oder Zurückgestuften zu gehören. Später versuchten die Betroffenen auch vor sich selbst die Rechtfertigung, dass einem keine andere Wahl geblieben sei. Nur wenige waren dann rückblickend noch in der Lage, die tatsächliche Motivation sich selbst und auch anderen gegenüber einzugestehen, wie z. B. der im Katasteramt tätige Vermessungstechniker Arnhold W., der im Dezember 1932 der NSDAP beigetreten war: "Mir kam es lediglich darauf an, meinen Beruf ausüben zu können, der mit Politik nichts zu tun hat."[284] Die Regel war, dass man späterhin behauptete, der von amtlicher Stelle gehegten Erwartung nur entsprochen zu haben,[285] oder einer Erörterung der Eintrittsmotivation gänzlich aus dem Wege ging.[286]

In welchem Maße die NSDAP die öffentlichen Verwaltungen eroberte zeigt eine zeitgenössische Aufstellung der 15 Beschäftigten in der Stadtverwaltung Sandersleben per 30. September 1934. Neun von ihnen gehörten der NSDAP an (fünf davon erst seit 1933), ein weiterer - Stahlhelmmitglied seit 1924 - sollte 1936 eintreten. Drei weitere Beschäftigte gehörten seit 1933 der SA an, eine Beschäftigte war seit 1933 Mitglied der "Hitlerjugend" (wohl des BDM) und 1934 dann der NS-Frauenschaft und der einzige Lehrling war ebenfalls Hitlerjugend-Mitglied. Jeder Beschäftigte in der Stadtverwaltung Sandersleben hatte also, sofern er nicht von vornherein zu den "Überzeugten" und "alten Kämpfern" gehörte, zumindest eine Alibi-Mitgliedschaft zur Bekundung der 'richtigen' politischen Einstellung vorzuweisen.[287]

Sehr oft wurde die frisch erworbene Parteimitgliedschaft auch offensiv einzusetzen versucht, um Karrieren voranzutreiben. In diesem nachfolgenden offensiven Einsetzen der neuerworbenen Parteimitgliedschaft unterschieden sich die 1932er und 1933er Neumitglieder auch deutlich von den "alten Kämpfern", denen es angesichts der Massenarbeitslosigkeit in erster Linie um ihre einmalige Versorgung mit einer Arbeitsstelle ging. Die 1933er Neumitglieder hingegen verfolgten in der Mehrzahl die Absicherung bzw. das Vorantreiben der Karriere. Beispielhaft nachvollziehen lässt sich dieser offensive Umgang mit der gesellschaftlichen Stellung als Parteimitglied anhand eines Schreibens des Bernburger Rechtsanwalts Werner M., der eine mehr schlecht als recht gehende Praxis betrieb. M. versuchte mit diesem Schreiben an den offensichtlich über die richtigen 'Beziehungen' verfügenden Prof. N. in Halle seinem kurz zuvor gestellten Gesuch um Ernennung zum Notar weitere Geltung zu verschaffen. Damit beabsichtigte er einen Vorteil gegenüber zwei weiteren zur Auswahl stehenden, der NSDAP aber nicht angehörenden Kollegen zu erlangen. Bemerkenswerterweise stellte M. ausschließlich seine politischen Aktivitäten heraus. Nichtsdestotrotz blieb das Gesuch letztendlich erfolglos, weil in Bernburg kein weiterer Bedarf an Notaren bestand.


Schreiben des Bernburger Rechtsanwalts Werner M. per 31. Mai 1937
an Prof. N. in Halle
[288]

"Sehr geehrter Herr Professor!
Unter Bezugnahme auf meinen kurzen Besuch bei Ihnen vor einigen Tagen erlaube ich mir, Ihnen ergebenst folgendes mitzuteilen.
Der Antrag auf Ernennung zum Notar ist ausser mir von den Kollegen B[...] und H[...] in Bernburg gestellt. Wir sind in der Zeit von etwa März bis Oktober 1935 zur Anwaltschaft in Bernburg zugelassen und zwar in der zeitlichen Reihenfolge, dass der Kollege B[...] älter, der Kollege H[...] jünger ist als ich. Unter ihnen bin ich der einzige Parteigenosse. Ich gehöre der NSDAP. seit dem 1. Mai 1933 unter der Mitgliedsnummer 1992980 an. Ein früherer Eintritt war mir wegen der krassen Stellungnahme meines Vaters, der demokratischer Landtagsabgeordneter war, nicht möglich, da ich von ihm als Student und später Referendar wirtschaftlich abhängig war. An meiner früheren nationalen Einstellung dürfte in Anbetracht der Tatsache, dass ich sechs Semester aktiver Waffenstudent war, kein Zweifel bestehen. Ausserdem gehöre ich seit der gleichen Zeit dem NSKK. an. Weiter ist mir das Amt eines stellvertretenden Kreisrechtsstellenleiters in Bernburg übertragen worden, ausserdem ist das Verfahren zu meiner Ernennung als Kreishauptstellenleiter bei der Kreisleitung Bernburg in der Eigenschaft als Rechtsberater des Kreisamtes für Volkswohlfahrt anhängig. Dem NSRB., früher BNSDJ. gehöre ich seit Ende 1933 unter der Mitgliedsnummer 36 343 an.
Ich betätige mich in den Organisationen, denen ich angehöre, so gut ich kann. Meine Arbeit gilt vor allen Dingen meinem Motorsturm, der sich zum allergrössten Teil aus Arbeitern und Fahrern zusammensetzt, also nicht das Glück hat, einer der 'reichen' NSKK.-Stürme zu sein, sodass ich glaube, hier am meisten in Bezug auf Schulungs- und Betreuungsarbeit benötigt zu werden. Ich erlaube mir, Ihnen in der Anlage ein Zeugnis meines Sturmführers zu überreichen.
Ich darf Sie versichern, dass ich es mit meiner nationalsozialistischen Auffassung sehr ernst nehme, wodurch es allerdings nicht ausbleibt, dass ich in meiner Praxis ab und zu etwas in das Hintertreffen gerate. Ich werde ihnen nichts neues verraten, wenn ich sage, dass Bernburg heute noch als einer der reaktionärsten Orte einen gewissen traurigen Ruhm besitzt. Umsomehr würde ich es für richtig halten, dass an solchen Orten die Leute in den Vordergrund gestellt werden, deren Auffassung unbedingtes Eintreten für das nationalsozialistische Ideengut gewährleistet. Ich möchte hierbei nicht verschweigen, dass es für mich selbstverständlich einen grossen wirtschaftlichen Vorteil bedeuten würde, wenn ich zum Notar ernannt werden würde. Da ich mich vor zwei Wochen verheiratet habe, würde ich wegen der Sorge für meine Familie der Zukunft bedeutend ruhiger gegenüberstehen.
Indem ich Ihnen, sehr geehrter Herr Professor, meinen Dank dafür ausspreche, dass Sie mir gestattet haben, mich an Sie persönlich zu wenden, zeichne ich mit

Heil Hitler!
W. M[...]
Rechtsanwalt."

Auch der spätere Gerichtsvollzieher Kurt Hesse, der während seiner Wehrdienstzeit 1940 formell dem Amtsgericht Bernburg überwiesen worden war, hatte 1934 mittels einer wahrscheinlich auf seinen eigenen Wunsch ausgestellten Bescheinigung über die Parteimitgliedschaft versucht, seine Karriere zu beschleunigen. Eine solche Bescheinigung war zu dieser Zeit jedoch vollkommen ungewöhnlich. Vielmehr wurde seitens des Oberlandesgerichts bei Bewerbern dieser Hierarchiestufe jeweils routinemäßig bei der NSDAP-Gauleitung angefragt, ob der Bewerber politisch unbedenklich sei.[289] Für einen normalen Karriereverlauf wäre die standardgemäße Formulierung "Charakter und politische Zuverlässigkeit sind in keiner Weise zu beanstanden" hinreichend gewesen. Eine Parteimitgliedschaft war bis 1937 dafür nicht zwingend erforderlich, eine SA- oder ähnlich gelagerte Mitgliedschaft erschien vollkommen ausreichend. Es drängt sich also eher der Verdacht auf, dass der schon drei Jahre in Wartestellung befindliche Versorgungsanwärter Hesse mit der eingereichten Bescheinigung über die Parteizugehörigkeit sicher gehen und seine "Einberufung", d. h. die Übernahme in den Justizdienst, herbeiführen wollte.[290]

Die Anpassungsvorgänge unter den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes traten sowohl für die Zeitgenossen als auch für den nachgeborenen Betrachter am stärksten durch das Verhalten der kommunalen Spitzenbeamten hervor. Über den schon seit 1932 in der Nachfolge des beurlaubten sozialdemokratischen Landrates Max Günther kommissarisch amtierenden und 1933 bestätigten neuen Bernburger Landrat Johannes Pietscher, zuvor Kreisdirektor in Ballenstedt, notierte der Ballenstedter Pfarrer i. R. Karl Windschild unter dem 4. März 1933 in seinem Tagebuch: "Interessant ist dabei der Gang des Kreisdirektors Pietscher und seines Syndikus Reuß durch das Leben: Als 1918 die Welle die Sozis emportrug, machte P. dem nachher ins Irrenhaus gesperrten 'Regenten' - der Name ist mir entfallen -, der sich ... ein Auto 'requiriert', d. h. gemaust hatte, seine Reverenz und befuhr mit ihm Arm in Arm sein Reich. Dann war er mit Trautewein, dem Führer der Sozialdemokraten im Kreise, ein Herz und eine Seele und strich ihm bei jeder Gelegenheit Honig um den Mund. Jetzt kommt die nationalsozialistische Welle. Sie wächst und: 'Herr Kreisdirektor, wir müßten uns doch mal bei den Nazis sehen lassen', sagt Herr Reuß. 'M. w.' - Machen wir, sagt Pietscher ... Ein richtiger Kork schwimmt eben immer oben."[291] Pietscher trat per 1. Mai 1933 der NSDAP bei, wurde aber schon im Juni 1934 als wieder ausgeschlossen vermeldet,[292] verblieb aber nichtsdestotrotz bis zu seiner Pensionierung 1937 im Dienst.

Auch im Amt des Bernburger Oberbürgermeisters trat ein Wechsel ein. Friedrich Gothe, Amtsinhaber seit 1919 und Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei bzw. der Deutschen Staatspartei, war nicht bereit, die erforderliche Anpassung an das neue System zu leisten, und wurde am 30. April 1933 in den vorläufigen Ruhestand versetzt. Sein Nachfolger, der bisherige Leopoldshaller Bürgermeister Max Eggert, war schon in der Bürgermeisterwahl 1931 als Kandidat der Rechten erfolglos gegen Gothe angetreten[293] und hatte noch rechtzeitig zum 1. Mai 1933 das Mitgliedsbuch der NSDAP erworben. Anders als Gothe war eine Reihe kommunaler Spitzenbeamter durchaus bereit, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren. Otto Schulz, Bürgermeister Nienburgs von 1925 bis 1945, trat 1933 der NSDAP bei, um weiterhin Bürgermeister bleiben zu können.[294] Karl Luthringshausen, bis dahin Kreisgeschäftsführer der DVP in Bernburg, wurde im März 1933 im Zusammenhang mit seinem Übertritt zur NSDAP als kommissarischer Bürgermeister in Hecklingen eingesetzt.[295] In Plötzkau traten der Bürgermeister und der 1. Ortschöppe, Donath und Paul, beide bisher führende SPD-Mitglieder am Orte, mit Wirkung vom 1. Mai 1933 zur NSDAP über und durften in ihren Ämtern verbleiben.[296] Der Bürgermeister fungierte späterhin auch als NSDAP-Ortsgruppenleiter.

Die Masse der opportunistischen Eintritte erfolgte 1932/33 auf dem Wege des vorauseilenden Gehorsams. Doch eine Anzahl Eintritte von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wurde schon über einen auf die betreffenden Personen ausgeübten Druck erreicht. Der Stadtsekretär Wilhelm Paul aus Güsten wurde z. B. im April 1933 aus dem städtischen Dienst entlassen weil er Mitglied der Konsumgenossenschaft war. Später wurde er wieder eingestellt. Gleichzeitig wurde ihm aber anheimgegeben, Mitglied der NSDAP zu werden. Die Güstener NSDAP hatte schon in den Jahren zuvor wiederholt angekündigt, im Falle des Sieges unter den Beamten "aufräumen" zu wollen. Die vorherige Kündigung dürfte Paul als Bestätigung dieser Drohungen genügt haben, er trat der Partei im Mai 1933 bei.[297] Friedrich Schnelle aus Nienburg hatte 1918 als Schwerkriegsbeschädigter (Beinamputierter) des ersten Weltkrieges eine Angestelltenstelle in der Verwaltung der Stadt Nienburg erhalten. Im Mai 1933 wurde ihm von seinem Vorgesetzten eine Beitrittserklärung zur NSDAP mit dem Bemerken auf den Tisch gelegt, zu unterschreiben oder die Stelle zu verlieren. Schnelle gab dem Druck nach und trat ein, blieb aber eines jener vielen Mitglieder, die für die Partei aufgrund ihrer Inaktivität weitgehend wertlos waren.[298] Insgesamt ist bei diesen Fällen der durch Ausübung von materiellem Druck im öffentlichen Dienst erzielten Beitritte noch keine Strategie der Partei insgesamt erkennbar; es handelte sich vielmehr um Eigeninitiativen von Vorgesetzten gegenüber ihren direkten Untergebenen.[299]

Eine solcherart direkte unter-Druck-Setzung, wie sie im öffentlichen Dienst selbst 1932/33 noch die Ausnahme blieb, war im privatwirtschaftlichen Sektor - auch wenn in den Entnazifizierungsverfahren nach 1945 dies von den Betroffenen oft anders dargestellt wurde - in der Regel überhaupt nicht möglich.[300] Typisch für die Privatwirtschaft waren z. B. vielmehr die Gastwirte Erich Körth aus Ilberstedt, der wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten und in der Hoffnung auf bessere Geschäfte Mitglied der NSDAP geworden war,[301] und Fritz Bachmann aus Nienburg, der als ehemaliger Stadtverordnetenvorsteher mit seiner Frau schon 1932 aus der SPD aus- und in der Hoffnung, dass die NSDAP ihr Lokal zu ihrem 'Verkehrslokal' erwählen möge, in die NSDAP eintrat.[302] Gleichermaßen typisch erscheinen der Maurermeister Hermann Kramer aus Oberpeißen, der auf Aufträge der öffentlichen Hand hoffte, und der Maurer- und Zimmerermeister Erich W. aus Sandersleben, der sich zum Beitritt zur NSDAP "nur aus geschäftlichen Gründen" veranlaßt sah.[303] Über die gleichermaßen motivierten Eintritte von Industriellen ist vorstehend schon berichtet worden.

Auch die 1932/33 in die NSDAP eintretenden privaten Geschäftsinhaber und freiberuflich Tätigen gedachten ihre Mitgliedschaft offensiv zur Erlangung eines Vorteils gegenüber ihren parteilosen Konkurrenten zu nutzen. Die NSDAP selbst honorierte jedoch schon Wohlverhalten auf wesentlich niedrigerer Stufe. Im Jahre 1936 veröffentlichte z. B. die offizielle NSDAP-Zeitung "Der Mitteldeutsche" eine Aufstellung "Treue um Treue. Firmen, die auch vor der Machtübernahme treu zur NS.-Presse standen." Das Interessante an dieser Liste ist, dass nur ein geringer Teil der dort verzeichneten, vor 1933 in der NS-Presse inserierenden Geschäftsleute später tatsächlich die Mitgliedschaft der NSDAP erwarb. Die anderen scheinen eine Parteimitgliedschaft aus betriebswirtschaftlicher Sicht weitestgehend als nicht erforderlich eingeschätzt zu haben.[304]

Mit zunehmender gesellschaftlicher Etablierung der NSDAP kam es häufig vor, dass opportunistisches Eintrittsverhalten in Bezug auf die NSDAP und deren Anhangsorganisationen nicht nur durch die jeweilige materielle Lage, sondern auch durch das soziale Umfeld ausgelöst wurde. Im Bestreben, seine Position in der jeweiligen sozialen Gruppe zu behaupten, löste der Betreffende - es handelte sich fast ausschließlich um Männer - das nationalsozialistische Ticket. Einerseits waren es Bekanntschaftskreise und Vereinsmitgliedschaften, die indirekt oder auch direkt eine solche politische "Gleichschaltung" forderten,[305] andererseits waren es aber vor allem die Familien, in denen dieser Mechanismus zum Tragen kam. Die NSDAP wuchs in die Breite der Verwandtschafts- und Bekanntschaftskreise, aus bisherigen Wählern wurden Mitglieder. Beispielhaft für diese Entwicklung stehen die Familien zweier 1881 geborener Bernburger Mitglieder, des selbständigen Kaufmanns Otto Lapp und des Justizsekretärs Franz Marscheider. Otto Lapp, Inhaber einer Gärtnerei und Samenhandlung, war der NSDAP bereits zum 1.5.1931 beigetreten, zum 1.3.1932 folgten dann seine Frau und seine 1908 geborene erste Tochter, zum 1.9.1932 der 1910 geborene Sohn und zum 1.2.1933 die 1912 geborene zweite Tochter.[306] Der Justizsekretär am Amtsgericht Bernburg Franz Marscheider hatte in der Weimarer Republik keinen politischen Parteien oder Vereinen angehört. Seine vier Kinder waren jedoch sämtlich im nationalsozialistischen Spektrum aktiv, die 1909 geborene erste Tochter seit 1928 als Wehrwolf-"Opferschwester" und seit dem 1.3.1932 in der NSDAP sowie in der NS-Frauenschaft, der 1910 geborene erste Sohn seit dem 1.8.1932 in der NSDAP und in der SS, der 1917 geborene zweite Sohn seit April 1930 im NS-Schülerbund, der 1919 geborene dritte Sohn seit dem 11.8.1932 im Jungvolk. Auch der spätere (1934) Schwiegersohn gehörte schon seit 1930 der NSDAP und zuvor dem Bund Oberland und dem Wehrwolf an. Es ist anzunehmen, dass der tuberkulosekranke Vater schon früh die familiäre Meinungsführerschaft an seine Kinder abgeben mußte und deren politische Entwicklung mit seinem Parteieintritt zum vorerst letztmöglichen Termin am 1.5.1933 lediglich nachvollzog.[307] Dies scheint kein Einzelfall, sondern ein allgemeiner Trend zu sein, die erwachsenen Kinder traten oftmals früher ein als ihre Väter.

Es stellt sich die Frage, ob sich die Parteizugehörigkeit im allgemeinen und der nutzenorientierte, opportunistische Eintritt in die NSDAP sowie der offensive Umgang mit der Parteizugehörigkeit im speziellen für die Betreffenden auch "gelohnt" hat. Für das Deutsche Reich insgesamt ist diese Frage wohl eingeschränkt zu bejahen. Infolge von Ämterpatronage und politischem Klientelismus stieg der Anteil der Positionsträger mit unterer Mittelschichtherkunft von 18 % im Jahre 1925 auf 30 % im Jahre 1940 - um sich in der Bundesrepublik 1955 mit 22 % dem Ausgangswert wieder anzunähern.[308] Gerade die untere Mittelschicht war es aber, aus der die NSDAP die Masse ihrer Mitglieder bezog. Insofern liegt hier ein starkes Indiz dafür vor, dass das mit dem 'nutzenorientierten' Parteieintritt verbundene Kalkül bei einem Teil der "Märzgefallenen", "Maiveilchen" und der 1937er Mitglieder auch aufgegangen ist. Für das Untersuchungsgebiet ist eine ausreichend dichte Datenlage nicht zu erlangen, Einzelbeispiele könnten aber das reichsweite Bild bestätigen. Der Fall des ersten Bernburger Ortsgruppenleiters, der 1938 immerhin zum Bürgermeister von Jeßnitz (Anhalt) avancierte, ist schon erwähnt worden.[309] Im Falle des Büroangestellten Walter Hufmüller, NSDAP-Mitglied seit 1932 und langjährig erwerbslos, ist auch die "Belohnung" offensichtlich; tatsächlich wurde er bei der Stadtverwaltung Bernburg eingestellt.[310]

Einschränkende Bemerkungen sind aber angebracht. Natürlich wurden 1933/34 "alte Kämpfer" mit Posten vor allem im Bereich des öffentlichen Dienstes "versorgt", mehr aber auch nicht. "Alte Kämpfer" waren bei entsprechender Eignung mit Versorgungsanwärtern (ehemaligen Reichswehrangehörigen mit Anspruch auf eine nachfolgende Beschäftigung im öffentlichen Dienst) gleichzustellen und kamen somit auch für die Besetzung von Schulhausmeisterstellen oder für den Strafanstaltsaufsichtsdienst in Frage. Letztlich ist dies jedoch lediglich unter Versorgungsaspekten zu sehen. Eine Karriere war allein mit dem Parteibuch nicht zu begründen. Deutlich wird dies am Beispiel des Arbeiters Walter K., der 1933 auf Druck der NSDAP-Kreisleitung als städtischer Promenadenaufseher eingestellt wurde. Im Mai 1935 verwandte sich der Kreisleiter Bernburg-Stadt, Petri, bei seiner jetzigen Arbeitsstelle, dem Stadtbauamt, erneut für ihn: "Ich bitte dem Arbeiter K[...] mit Rücksicht darauf, daß er zu den ersten Vorkämpfern der NSDAP in Bernburg gehört [er war der NSDAP erstmals 1926 beigetreten - T.K.], eine bevorzugte Behandlung in der Lohngruppeneinstufung zu gewähren und weiter zu prüfen, wie weit eine Möglichkeit zur Beförderung besteht." Die Beigeordneten entschieden am gleichen Tag: "Der Arbeiter K[...] soll künftig nach der Lohngruppe III bezahlt werden. Eine höhere Eingruppierung ist nicht möglich, da K[...] ungelernter Arbeiter ist. Die Verwendung des Arbeiters K[...] als Vorarbeiter bleibt dem Bauamt überlassen. Es soll ein Versuch gemacht werden, ob K[...] als Vorarbeiter geeignet ist." K. war daraufhin tatsächlich eine gewisse Zeit als Vorarbeiter tätig, dann wurde die von ihm geführte Kolonne aufgelöst und er war wieder einfacher Arbeiter.[311]

Dass die Parteimitgliedschaft letztlich eine weitere vorgeschaltete Bedingung im Karrieregeschehen darstellte, in der Regel nicht aber die fachlichen Anforderungen auszuhebeln in der Lage war, verdeutlicht der Fall des Bernburger Referendars Werner W. (geb. 1911). Trotzdem er auf eine NSDAP- und SS-Mitgliedschaft seit 1933 verweisen konnte wurde er 1936 nicht in den richterlichen Probedienst des Landes Anhalt übernommen. Der Grund dafür war, dass die Beurteilungen des zuvor durchlaufenen Vorbereitungsdienstes ihm zwar durchweg tadellose galante Umgangsformen und ein freundliches, gewinnendes Wesen aber auch eine gewisse Sprunghaftigkeit und Flüchtigkeit attestierten. Die Verbindungen seines Vaters, eines Bankdirektors im Ruhestand, waren es dann wohl, die ihm einen Vorbereitungsdienst bei der Reichsfinanzverwaltung ermöglichten.[312] Bemerkenswert sind auch die Anstreichungen in der Personalakte des Justiz-Kanzleiangestellten Fritz W., geb. 1907. Der den Antrag auf Höherstufung im Oberlandesgericht Naumburg 1935 Bearbeitende markierte sowohl den Vermerk über die besondere fachliche Eignung als auch den über die NSDAP-Mitgliedschaft.[313] Allgemein rangierte die fachliche Qualifikation vor dem Parteialter (sofern das Parteibuch überhaupt vorhanden war).[314]

Die Qualität der nunmehrigen opprtunistischen Neumitgliedschaft war 1933 und danach nicht mehr die gleiche wie noch in den Jahren zuvor. Weder waren diese Neumitglieder in gleicher Weise fanatisch wie ihre Vorgänger noch könnte man ihnen durchweg auch nur "normale" nationalsozialistische Überzeugung unterstellen. Der Ortsgruppenleiter Bernburg-Talstadt, Reinbothe, sah sich daher im Juli 1936 veranlaßt festzustellen: "Ich tue als Ortsgruppenleiter Dienst in der Partei und erlebe es als solcher immer wieder, daß man sich gerade auf den alten Parteigenossen am ehesten verlassen kann, während ich das leider von einem großen Teil der Parteigenossen, die nach der Machtübernahme zu uns gestoßen sind, nicht sagen kann. Es ist doch unendlich viel zu tun und oft fehlen uns die geeigneten Parteigenossen."[315] Gleichfalls im Juli 1936 klagte das NSDAP-Gauamt für Kommunalpolitik Magdeburg-Anhalt: "Recht betrüblich ist die Tatsache, daß in Gegenden mit früher überwiegend marxistischer Bevölkerung die Zahl der Parteigenossen, die fachlich und charakterlich für die Verwendung in der Verwaltung geeignet sind, sehr gering ist. Es ergibt sich aus dieser Tatsache häufig die Notwendigkeit, auch auf Parteigenossen zurückzugreifen, die entweder fachlich versagen oder Unterschlagungen begehen."[316]

Parteimitgliedschaft musste nicht mehr notwendig mit einer inneren Identifikation mit dem nationalsozialistischen System einhergehen. Letztere blieb unter der Mehrzahl der Parteigenossen eher gering. Bezeichnend dafür sind Vorgänge aus dem Dorf Freckleben 1935 und 1937. In zwei Fällen hatte der Bauer Fritz Bieler (NSDAP-Mitglied seit 1933) die Herabwürdigung von Nazigrößen durch Kneipenwitze bei der örtlichen Polizei angezeigt. Bemerkenswerterweise fühlten sich die jeweils in der Gaststätte anwesenden, zumeist ebenfalls 1933 eingetretenen "Pg.'s" nicht zum Einschreiten oder zur Anzeige veranlasst. In einem Fall lehnte es der nachträglich über den Vorgang informierte Propagandawart des NSDAP-Stützpunktes Freckleben - ein gleichfalls 1933 eingetretener Lehrer - sogar ausdrücklich ab, ein Protokoll über den Vorgang zu erstellen. Die Zuträgerdienste für den Anzeigeerstatter Bieler übernahm anscheinend in beiden Fällen der zu diesem Zeitpunkt noch nicht der NSDAP angehörende SA-Mann Bauer Karl W.[317]


In Gaststätten des Dorfes Freckleben 1935 und 1937 erzählte politische Witze[318]

"1). Wegen der Butterknappheit hat sich ein Bauer der nach dem Bückeberg zum Erntedankfest[319] gefahren sei, eine Kuh mitgenommen. Am Bückeberg sei die Kuh zusammengebrochen. Hierdurch sei ein Menschenauflauf entstanden. Deswegen sei der der Führer hinzugekommen und hat gefragt, was denn hier los sei. Der Bauer habe ihm darauf erwidert, er kriege seine mitgebrachte Kuh nicht wieder hoch. Der Führer hätte zu diesem Bauern darauf gesagt: Er habe hier auf dem Bückeberg Dreiviertel Millionen Ochsen hochgekriegt, er der Bauer werde doch seine eine Kuh wieder hochkriegen.
2). Der Führer habe mit dem Auto wegfahren wollen. Dabei sei der Motor nicht angesprungen. Umstehende haben darauf zum Führer gesagt, das hat keinen Zweck, es ginge mit ihm sowieso bergab."

"2 Berliner Jungens spielten auf dem Fahrdamm mit Pferdemist. Die Jungens waren dabei die Pferdeäppel auseinanderzulegen. Schließlich sei ein feiner Herr vorbeigekommen und habe den Jungens gefragt, was sie da machten. Die Jungens haben dann zur Antwort gegeben, dass sie Regierung spielen. Verwundert habe dann der Herr gefragt, 'wieso', darauf haben die Jungens gesagt unter Bezeichnung des Mistes, dass der Appel z.B. ist der Führer, der andere ist Göbbels, Neurath u.s.w. Als dann der Herr fragte, wo ist den[n] nun Minister Göring? Da haben dann wiederum die Jungens gesagt: 'Son Stückchen Scheisse haben wir nicht dabei!'"

Der im gesamten Deutschen Reich seit Anfang 1933 auftretende extreme Mitgliederzulauf veranlasste die NSDAP-Führung dazu, mit Wirkung vom Mai 1933 eine reichsweite Aufnahmesperre zu verhängen, die nur wenige Ausnahmen, z. B. Übernahmen aus SA, SS, NSBO, HJ und Stahlhelm, zuließ. Neben rein technischen Gründen - man kam mit der Erfassung der Neumitglieder und der Bildung neuer Ortsgruppen nicht mehr hinterher - war in erster Linie die unerwünschte Zusammensetzung der Neumitgliedschaft für den Erlass der Aufnahmesperre ausschlaggebend. Schließlich bestand der Wille, dem Untertitel "Arbeiterpartei" zumindest in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft auch gerecht zu werden und - so wörtlich der Reichsorganisationsleiter Ley in einer internen Untersuchung - "Konjunkturritter" von der Partei fernhalten. Doch die Vielzahl der bereits vollzogenen und bei einer Lockerung der Aufnahmesperre noch zu erwartenden Neueintritte ließen dieses Ziel in weite Ferne rücken. Denjenigen aber, die ihre "positive Stellung zum nationalsozialistischen Staat" dokumentieren wollten, blieb seit Mai 1933 nur der Eintritt in die Anhangsorganisationen SA, SS, Nationalsozialistisches Kraftfahrer-Korps, Nationalsozialistisches Fliegerkorps, Nationalsozialistische Frauenschaft, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt u. a.

Doch nicht nur diese eindeutigen NS-Anhangsorganisationen, sondern auch das deutschnationale Organisationsumfeld verzeichnete einen starken Mitgliederaufschwung. Die überlieferten Mitgliederlisten der Stahlhelm-Ortsgruppe Sandersleben aus den Jahren 1933/34 weisen zwei große Eintrittswellen aus: im Gründungsjahr 1924 47 Eintritte und schließlich 1933 90 Eintritte bei insgesamt 162 1933/34 nachgewiesenen Mitgliedern. Wenn auch schon vor 1933 ein Abfluss von Mitgliedern aus dem Stahlhelm in Richtung SA und NSDAP angenommen werden kann, so bleibt die 1933er Eintrittswelle doch eindrucksvoll. Neben den 'normalen', auch in den NS-Organisationen zu findenden Opportunisten, die den Stahlhelm wählten, weil er ihnen das geringste Maß an Anpassung abzuverlangen schien, treffen wir unter den 1933 in den Stahlhelm Eintretenden auch auf eine Gruppe von Anhängern der Arbeiterparteien, die möglicherweise eine legale Basis für weitere politische Arbeit nach dem Verbot der Arbeiterbewegung suchten; bei immerhin zwölf der 90 1933 eingetretenen Mitglieder wurden nachträglich in den Listen Vermerke wie "SPD", "Kommune" etc. eingefügt; Wahrscheinlich waren es jedoch weitaus mehr, auf die diese Charakterisierung zutraf. Darauf deuten zumindest die Arbeiterberufe der Neueintretenden hin, die den bisherigen mittelständischen Charakter des Sanderslebener Stahlhelms deutlich modifizierten.[320] Belegt ist, dass Eintritte von Reichsbanner-Angehörigen in den Stahlhelm auf Empfehlung der Reichsbannerführung unter der Absicht der Wahrung des Organisationszusammenhalts in ganz Deutschland getätigt wurden.[321] Bemerkenswerterweise korrespondierte die spezifische Altersstruktur der NSDAP auch mit der Zusammensetzung der in Sandersleben 1933 in den Stahlhelm eintretenden Personen; zwei Drittel von ihnen entstammten den Geburtsjahrgängen 1890-1908.[322]

Analog zum Stahlhelm in Sandersleben meldete auch der Bund Deutscher Frauen-Dienst e.V., die Nachfolgeorganisation des Königin-Luise-Bundes, aus Hecklingen im Mai 1933 starken Zulauf: "Wie wichtig unsere Arbeit ist, beweist das fast vollzählige Erscheinen aller Kameradinnen und die vielen Neuaufnahmen arbeitsfreudiger Frauen."[323] Auch der "Bericht über das [evangelisch-]kirchliche Gemeindeleben in Amesdorf-Warmsdorf im Jahr 1933" weiß von solcherart Nebeneffekten der nationalsozialistischen Machtübernahme zu berichten. Nachdem 20 Ausgetretene wieder aufgenommen worden wären gäbe es nur noch vier Dissidenten in der Gemeinde, der Kirchenbesuch weise im Ganzen gesehen eine höhere Zahl als im Vorjahr auf und die Frauenhilfe habe ihre Mitgliederzahl fast verdoppeln können.[324]



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5.3 Mitgliederstruktur

Die vorwiegend opportunistische Eintrittsmotivation der Neumitglieder in der Masseneintrittswelle 1932/33 schlug sich auch in deren veränderter sozialer Zusammensetzung nieder.[325] Allein 28 % der Neueintretenden 1932 und 39 % der Neueintretenden 1933 sind dem öffentlichen Dienst zuzuordnen (1931 noch 13 %). Deren kompakteste Gruppe stellten die Lehrer mit 13 % aller Neumitglieder 1933. Insgesamt stieg der Anteil der Angestellten und Beamten unter den Neumitgliedern von 36 % 1931 über 46 % 1932 auf 54 % 1933. Im gleichen Zeitraum fiel der Arbeiteranteil unter den Neumitgliedern von 40 % 1931 über 30 % 1932 auf 27 % 1933. Dieser Rückgang ist um so bemerkenswerter als die NSDAP spätestens in den Landtagswahlen vom April 1932 deutlich in das bisherige (Wechsel-)Wählerpotential der Arbeiterparteien hatte einbrechen können. Im Eintrittsverhalten findet dies jedoch keine Widerspiegelung.

Gegenüber ihrem Anteil an den Erwerbstätigen waren in der Stadt Bernburg 1933 die Beamten und Angestellten in der NSDAP um das 2,3fache und die Selbstständigen um das 1,3fache überrepräsentiert, während die Arbeiterschaft nur mit dem 0,4fachen ihres Sozialstrukturanteils vertreten war.[326] Somit ist die NSDAP als Partei des unteren resp. 'neuen' Mittelstandes anzusehen. Gegenüber dem Bild, das sie im Jahre 1931 bot (siehe vorhergehendes Kapitel), hatte sich ihr Profil noch deutlicher herauskristallisiert.

Eine Folge der vorherrschenden Eintrittsmotivation dürfte auch die Erhöhung des Durchschnittsalters der Neumitglieder von 32,7 Jahren im Jahre 1931 über 34,7 Jahre 1932 auf 36,4 Jahre 1933 gewesen sein. Die Konzentration auf die Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912 (1931 69 %, 1933 61 %) bzw. 1901 bis 1910 (1931 40 %, 1933 31 %) begann sich unter den Neueintritten zu verringern. Verantwortlich dafür zeichnete nicht nur das Hinzutreten jüngerer Jahrgänge, sondern auch die Aufnahme vieler älterer Mitglieder unter der beschriebenen opportunistischen Eintrittsmotivation. Deutlich jugendlicher als der Durchschnitt der Neumitglieder waren nach wie vor die eintretenden Arbeiter, wenn auch bei ihnen eine Abschwächung festzustellen ist. Den Gipfelpunkt der Jugendlichkeit markierten die Facharbeiter und Angelernten des Metallgewerbes unter den Neumitgliedern, die zu 78 % bzw. 49 % aus den Geburtsjahrgängen 1893 bis 1912 bzw. 1901 bis 1910 stammten.[327]

In der Summe war die NSDAP auch nach der Masseneintrittswelle 1932/33 die Partei einer Generation. Die Konfrontation der Geburtsjahrgänge der bis einschließlich 1933 eingetretenen Mitglieder mit der Altersstruktur der Bevölkerung 1933 zeigt, dass es die 21-46-jährigen, d. h. die Geburtsjahrgänge 1887 bis 1912, waren, die die Partei trugen. In den am stärksten NSDAP-gesättigten Geburtsjahrgängen waren schon Ende 1933 deutlich mehr als ein Zehntel aller Männer "Pg.'s".[328]


Männliche NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet Ende 1933 (Summe 1929 bis 1933) in % der männlichen Bevölkerung des Kreises Bernburg Mitte 1933 gesamt


Altersstruktur der männlichen Bevölkerung des Kreises Bernburg und der männlichen NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1933 im Vergleich


Im Zuge der Eintrittswelle 1932/33 stieg auch der Frauenanteil unter den Neueintretenden von 2 % 1931 auf 6 % 1932 bzw. 5 % 1933, was insgesamt allerdings nur schwer zu deuten und am wahrscheinlichsten wohl der Ausdehnung in die Breite der Familien zuzuschreiben ist.

In der Verteilung der nationalsozialistischen Mitgliedschaft sind zwischen industriell und landwirtschaftlich strukturierten Orten keine wesentlichen Unterschiede festzustellen. Insofern gibt es - auf das Untersuchungsgebiet bezogen - keine Belege dafür, das evangelische Land für das "Stammilieu" der NSDAP zu halten.[329] Wie schon 1931 entfielen auch 1932 44 % der Neueintritte auf die Kreisstadt Bernburg, 1933 waren es sogar 46 %; hinzu kamen 25 % bzw. 27 % in der Summe der Kleinstädte Güsten, Hecklingen, Nienburg, Sandersleben und in Neundorf. Die Konstruktion eines ländlich-evangelischen "Stammmilieus" der NSDAP erscheint auch angesichts der teilweise sehr scharfen Konkurrenz zwischen NSDAP und Stahlhelm und der daraus folgernden Instabilität der NSDAP in den ländlichen Orten als nicht sehr glaubwürdig. Aus Hohenerxleben z. B. wird noch Anfang Februar 1933 berichtet, dass die dortige NSDAP-Ortsgruppe durch die Rückkehr der meisten Mitglieder zum Stahlhelm "aufgeflogen" sei.[330] Erst mit der Übernahme der jeweiligen lokalen Stahlhelm-Gruppierung konnten sich auch die ländlichen NSDAP-Ortsgruppen stabilisieren. Noch Ende 1932 hatten die Orte mit mehr als 75% landwirtschaftlicher Bevölkerung die geringste NSDAP-Mitgliedschaftsquote aufzuweisen, ein Jahr später jedoch bereits die höchste! Der NSDAP fiel es vor 1933 offensichtlich sehr schwer, auf den Dörfern, vor allem den landwirtschaftlich dominierten, geeignete Führungspersönlichkeiten zu rekrutieren. Grob gesagt ging Dorfgemeinschaft vor "Volksgemeinschaft", nationalsozialistischer Fanatismus hatte hier kaum einen Platz.[331]


Die Konzentration der NSDAP auf Ortskategorien landwirtschaftlicher Bevölkerung 1931-1933

landwirtschaftlicher Bevölkerungsanteil in den Orten 1933 in %[332]

NSDAP-Mitglieder (Summe der nachgewiesenen Eintritte in den Orten) in % der Wahlberechtigten (Landtagswahl April 1932) im Untersuchungsgebiet[333]
NSDAP-Wähler in % der Wahlberechtigten (Landtagswahl April 1932) im Untersuchungsgebiet[334]
 
Ende 1931
Ende 1932
Ende 1933
 
0-25
0,7
1,3
2,9
30,2
über 25-50
0,7
1,5
3,0
29,1
über 50-75
0,2
1,5
2,9
32,1
über 75
0,2
0,2
3,5
35,3




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5.4 Die Verdrängung der "alten Kämpfer"

Der massenhafte Zustrom neuer karrierebewusster Mitglieder in die Partei führte zwangsläufig zu einer Vielzahl von Konflikten. Er müsse sich zur Zeit "dem überschäumenden Drängen zahlreicher Parteigenossen an die Futterkrippe entgegenstemmen"[335] berichtete der NSDAP-Gauleiter von Magdeburg-Anhalt, Wilhelm Loeper, am 5. April 1933 an den NSDAP-Reichsorganisationsleiter Dr. Ley. Die "alten Kämpfer" wollten versorgt werden und etliche Neumitglieder hatten 1933 ein Tauschgeschäft vollzogen: Parteibuch gegen Karriere bzw. Funktionserhalt.

Doch nicht dies war das eigentliche Konfliktfeld; die "alten Kämpfer" waren in der Regel mit einer einmaligen Versorgung, z. B. als Schulhausmeister, zufriedengestellt. Demütigend für viele war vielmehr, dass ihnen von den Neumitgliedern die Stellung in der Organisation streitig gemacht wurde und sie einem rasanten Verdrängungsprozess unterlagen. Der eigentlich erhoffte Zugewinn an Sozialprestige blieb aus oder ging nach kurzer Zeit wieder verloren. Prototypisch für diese aus den Verschiebungen im innerparteilichen Machtgefüge resultierende Konfliktlage steht ein aus der Kleinstadt Hecklingen auf dem Wege eines Parteigerichtsverfahrens überlieferter Vorgang.[336]

In Hecklingen wurde 1933 eine Gruppe von vier "alten Kämpfern", die nach der Stadtverordnetenwahl vom Herbst 1931 in den Gemeinderat eingezogen waren, durch die Exponenten der Neumitgliedschaft von der Führung in der Partei verdrängt. Die Vorwürfe, die der ehemalige Ortsgruppenleiter Wilhelm Ilm, vor seiner NSDAP-Mitgliedschaft bis 1931 Stahlhelm-Mitglied, langjähriges Vorstands-Mitglied und Vorsitzender des Hausbesitzervereins sowie Mitglied des Kyffhäuserbundes, als deren Wortführer erhob, waren erdrückend:[337] Der neue Ortsgruppenleiter Klee hätte sich erst seit 1933 intensiv um dieses Amt bemüht. Zuvor wäre er seit 1931 Mitglied sowohl in der NSDAP als auch im Stahlhelm gewesen "sodass nichts schiefgehen konnte" bezüglich eventuell kommender politischer Umwälzungen. 1934 schließlich hätte dieser sein Ziel erreicht, Ilm wurde formell in den Stab des NSDAP-Kreisleiters Wienecke wegberufen (erst als Kreiskommunalfachberater, dann als Kreisbildwart) und gleichzeitig Klee als neuer Ortsgruppenleiter eingesetzt. Klee würde im Ort vor allem durch Selbstherrlichkeit, promiskuitives Verhalten, Erpressungen und Drohungen sowie Veruntreuung von Parteigeldern auffallen. Der Bürgermeister Luthringshausen, bis 1933 Parteisekretär der DVP in Bernburg, wurde 1933 als "überparteilicher" Kandidat aller Parteien gewählt und präsentierte kurz darauf nach seinem Austritt aus dem Stahlhelm das NSDAP-Parteibuch. Nach der Schilderung Ilms war Luthringshausen geradezu ein Muster korrupten Verhaltens: Er schlug widerrechtlich Pachteinigungskosten, die ein wohlhabender Bürger hätte zahlen müssen, nieder, handelte in jedem Fall nach eigenem Gutdünken, redete in öffentlichen Sitzungen nur von seiner eigenen Gehaltserhöhung und wollte sich schon drei Tage nach seinem Antritt ein Gehalt bewilligen lassen, das dem Gehalt des Bürgermeisters der deutlich größeren Nachbarstadt Leopoldshall entsprach, betrank sich in aller Öffentlichkeit, ging während des Dienstes zur Jagd etc. Auch Ilm persönlich wäre von ihm schikaniert worden. Als er sein Haus aufstocken wollte wurde der Bau sofort abgelehnt, weil er nicht den baupolizeilichen Vorschriften entspräche. Bezeichnenderweise wäre zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Bauzeichnung eingereicht worden, erst auf Beschwerde hin erfolgte die Genehmigung. Auch der Straßenmeister E. hätte sich dem Stil seines Vorgesetzten angeglichen und schädige die Gemeinde durch unberechtigte private Inanspruchnahme von Arbeitsleistungen, benehme sich herausfordernd gegenüber den (nunmehr ausschließlich nationalsozialistischen) Stadtverordneten bis hin zur Androhung von Gewalt. Diese ganzen - im übrigen wohl zutreffenden - Klagen lesen sich so, dass jemand, der die Diktatur herbeiführen half, sich nun darüber beschwert, dass Diktatur ist. Das eigentliche Problem - auch aus der subjektiven Sicht Ilms - lag jedoch darin, dass die "alten Kämpfer" nicht in dem ihnen gebührenden Maße an den Insignien der Macht teilhaben durften: "Betr. der Abzeichen sollte ich Ihnen doch mal mitteilen, wer hier noch Gardelitzen trägt. Hier trägt fast jeder Ortsgruppenstabswalter Gardelitzen. So z. B. T[...] NSHG.S[...] NSKOV.P[...] als Schriftwart der Bürgermeister usw. So muss es auch sein. Alte und für die belange der Bewegung in schlimmster Zeit eingetretene Pg. tragen Winkel und Jünglinge, sowie Leute, die nach der Revolution ihr nationalsozialistisches Herz entdeckten, tragen Gardelitzen."[338] Und in einem Schreiben an den "Führer" vom Juli 1936: "Sie sehen mein Führer, so werden hier alte Kämpfer behandelt, während auf der andern Seite sich die gross tuen, die erst gegen uns waren. Hier bekleiden Leute Posten, die denselben nur zur Unterschlagung ausnutzen. Amtswalter und Stadtverordnete bekommen es sogar heute noch fertig mit Juden zu handeln,[339] ohne dass der Bürgermeister bzw. Ortsgruppenleiter was dagegen unternahm. Beamte, die offen mit der SPD. symphatierten, selbst Angestellte, die sich offen zur KPD. bekannten, schwingen hier grosse Töne und alte Kämpfer baut man ab. Ja man versucht sogar mit allen Mitteln mich mundtot zu machen [...] Ich bin von Grund auf deutscher Mann, habe gegen den Youngplan gestimmt, habe im Kampf für unsere Bewegung Gesundheit und Geschäft geopfert, bin im Besitze des Ehrenkreuzes, des Ehrenzeichen des Reichskriegerbundes und des Ehrenzeichens des Zentralverbandes Deutscher Haus und Grundbesitzervereine und kann daher verlangen, dass ich als alter Parteigenosse anerkannt und nicht von Leuten, die erst nach der Machtergreifung zu uns kamen, an die Wand gedrückt werde."[340]

Die Parteiorganisation versuchte die Opponenten als gewohnheitsmäßige Querulanten hinzustellen, deren Anschuldigungen voll und ganz erfunden seien. Eine über die Zellen- und Blockstruktur der NSDAP Hecklingens in den vierziger Jahren überlieferte Aufstellung belegt jedoch auch in der Breite die Verdrängung der "alten Kämpfer", die Zellen- und Blockleiterpositionen waren fast durchweg von Mitgliedern jüngeren Parteialters besetzt. Nur zwei der dort gegen Kriegsende mit Eintrittsdatum registrierten 27 Blockleiter waren vor 1933 in die NSDAP eingetreten. In zehn weiteren Blöcken hätte jedoch die Möglichkeit der Einsetzung von "parteiälteren" Mitgliedern (vor 1933) bestanden. Auch von den sieben angegebenen Zellenleitern hatte keiner ein Eintrittsdatum vor 1933 aufzuweisen.[341] Der verbal bekundeten Wertschätzung der "alten Kämpfer" stand ihre tatsächliche Verdrängung gegenüber.

Neben der Hauptkampflinie "alte Kämpfer" gegen Neumitglieder gab es auch Verdrängungskämpfe der "alten Kämpfer" untereinander, wie sie z. B. ansatzweise in Güsten zu erkennen sind. Seit 1934 wurde dort der Inhaber einer Futtermittelhandlung und NSDAP-Mitglied seit 1926, Friedrich Thiemann, innerhalb der lokalen Partei massiv angefeindet. Die Angriffe gingen in erster Linie vom Gutsbeamten Willi Siebenbürger, NSDAP-Mitglied seit 1928, aus. Thiemann wäre einer derjenigen, die als Parteimitglieder erst 1933 öffentlich in Erscheinung traten. Tatsächlich war Thiemann schon längere Jahre Stadtverordneter und hat nachweislich schon zu einer Zeit (1929/30) auswärtigen (NSDAP-)Sachverstand vor Entscheidungen in Etat-Fragen eingeholt, als Siebenbürger noch gar nicht in Güsten ansässig war. Auch mittels einer Anzeige bei den Steuerbehörden als "Volksbetrüger" versuchte Siebenbürger Thiemann nachhaltig zu schädigen. Der Aktion war allerdings kein Erfolg beschieden, das Landesfinanzamt sah keinen Handlungsbedarf.[342] Auch hier ging es allem Anschein nach nicht um materielle Vorteile, sondern darum, sich als der 'bessere' Nationalsozialist darzustellen und die eigene Stellung in der Organisation auszubauen bzw. zu bewahren.

Ein besonderes, oftmals ebenfalls mit der Ausschaltung "alter Kämpfer" verbundenes Kapitel innerparteilicher Machtkämpfe stellte die Errichtung eines Systems persönlicher Macht durch den NSDAP-Kreisleiter Otto Wienecke auf der Basis ihm ergebener Gefolgsleute im Kreis Bernburg seit 1932 dar.[343] Eine Vielzahl von Konflikten innerhalb und außerhalb der Partei scheinen von Wienecke ausgenutzt und teilweise wohl auch selbst inszeniert worden zu sein, um seine Macht zu befestigen. Freilich ist letzteres in der Regel überhaupt nur über Indizien wahrzunehmen und hat auch, wie folgende drei Vorgänge aus den Jahren 1939 und 1941, nur selten Eingang in die schriftliche Überlieferung gefunden. In einer Vernehmung nach Kriegsende sagte der Bernburger Oberbürgermeister aus, dass er seit etwa 1939 "mit dem Kreisleiter Wienicke in starker Gegnerschaft lebte", sie hätten "jede Verhandlung miteinander abgebrochen, und der Kreisleiter bemühte sich, mich absetzen zu lassen, weil ich mir das Hineinreden der Partei in die Stadtverwaltung nicht gefallen liess und deshalb in starker Opposition zum Kreisleiter und zur Partei stand."[344] Gleichfalls 1939 wurde der Ortsgruppenleiter Bernburg-Wasserturm, Kurt Kleinau, wegen Betrugs an der Deutschen Reichsbahn in Höhe von 40 Pfennigen seines Amtes enthoben.[345] Kleinau war noch von Wieneckes Vorgänger in seine Funktion eingesetzt worden und zählte wohl eher zu dessen Gefolge. 1941 wurde der bisherige Vorsitzende des NSDAP-Kreisgerichts Bernburg I, Rechtsanwalt Paul Körber, durch Verfügung des Gauleiters aus der NSDAP ausgeschlossen - eine Maßnahme, die ohne entschiedenes Votum des Kreisleiters nicht denkbar war. Körber war schon 1933 als Vorsitzender des damaligen Untersuchungs- und Schlichtungsausschusses beständig mit den lokalen politischen Leitern im allgemeinen und mit Wienecke im speziellen kollidiert. Eine ähnliche Auseinandersetzung ist als Ursache seines Parteiausschlusses 1941 zu vermuten, eventuell wurden auch alte Rechnungen beglichen.[346] Man tat also besser daran, nicht mit dem 'System Wienecke' in Berührung zu kommen.



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6. 1937-40: Nachholender Gehorsam

"Die heutige Autorität der Partei stützt sich - auf gut Deutsch gesagt - auf Schnauze und alte Parteimänner, die sich durchzusetzen wissen, und andererseits auf Beamte, die des Glaubens sind, bei der politischen Beurteilung Nachteile zu haben, wenn sie sich querstellen." Carl Röver, NS-Reichsstatthalter von Oldenburg und Bremen, 1942.[347]
"Der Beitritt zur Partei wurde mir als Beamten teils 'warm', teils mit 'Druck' ans Herz gelegt und noch 44 wurde mir der Rat gegeben, mich der Partei anzumelden, wenn ich nach Friedensschluß nicht aus der Gosse Wasser saufen wolle." Eichinspektor Erich F., Bernburg, 1946.[348]

Die seit dem 1. Mai 1933 in der NSDAP geltende "Mitgliedersperre" für die Neuaufnahme von Mitgliedern kannte nur wenige Ausnahmen, in der Regel für die Aufnahme von Mitgliedern aus NS-Anhangsorganisationen heraus. Demzufolge blieb das Aufnahmevolumen in den Folgejahren gering. Im Jahre 1937 schließlich wurde seitens der NSDAP-Reichsleitung eine sogenannte "Lockerung" der Mitgliedersperre verkündet. In der Praxis bedeutete diese "Lockerung" die erneute vollständige Öffnung der Partei für Neueintritte. Lediglich "Staatsfeinden" und "Juden" blieb der Zugang zur Partei versperrt.[349]

Vor dem Hintergrund dieser erneuten Freigabe bescherten die Jahre 1937 und 1938 der NSDAP die größte Eintrittswelle ihrer Geschichte, sowohl auf Reichsebene wie auch im Untersuchungsgebiet. Die Zahl der Ortsgruppen in Bernburg verdoppelte sich nochmals. Gab es noch Anfang 1933 lediglich zwei Ortsgruppen, "Ost" und "West", so waren daraus im Ergebnis der 1933er Eintrittswelle erst fünf geworden,[350] die dann in Verarbeitung der Eintrittswelle der Jahre 1937/38 ab 1939 auf 13 anwuchsen. In den kleinstädtischen und ländlichen Orten des Untersuchungsgebietes vermehrte sich die Zahl der Ortsgruppen in gleichem Maße.[351]


Stempel der NSDAP-Ortsgruppe Ilberstedt 1933
Stempel der NSDAP-Ortsgruppe Ilberstedt 1933 [352]
Nach dieser enormen Eintrittswelle ging der Zulauf deutlich zurück. Es scheint eine gewisse Sättigung eingetreten zu sein, schließlich war Ende 1939 im Untersuchungsgebiet schon fast jeder fünfte Mann (aber nur jede 67. Frau) im organisationsfähigen Alter "Pg.".[353] Insgesamt verfügte die NSDAP im Untersuchungsgebiet Ende 1939 über schätzungsweise 6.200 Mitglieder,[354] was einer reichlichen Verdopplung gegenüber Ende 1933 gleichkam.

Die Größenordnung dieses späteren Zulaufs hatte sich schon Jahre zuvor in der Höhe des nationalsozialistischen Zeitungsbezugs angedeutet. Schon im März 1935 betrug die Auflage der offiziellen NS-Lokalzeitung "Der Mitteldeutsche. Anhalter Nachrichten" (Zweigbetrieb Bernburg der Magdeburger Trommler-Verlags-GmbH) 7.222 Stück.[355] Darüber hinaus erschien in Bernburg jedoch nach wie vor auch der ehemals volksparteiliche "Anhalter Kurier". Es bestand demzufolge keine Notwendigkeit, die erst 1932 ins Leben gerufene NS-Zeitung zu halten - es sei denn, man beabsichtigte auch auf diesem Wege, nationalsozialistische Gesinnung deutlich sichtbar zu bekunden.



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6.1 Eintrittsmotivationen

Auch die seit 1937 erfolgenden Eintritte waren in ihrer übergroßen Mehrheit von Opportunismus getragen. Es wäre allerdings verfehlt, die Neumitglieder der Jahre 1937/38 nur als jene sehen zu wollen, die es 1933 vor der "Schließung" der Partei 'nicht mehr rechtzeitig geschafft' hatten. Dagegen spricht, dass für diesen Schritt bis zum 1. Mai 1933 genügend Zeit zur Verfügung gestanden hatte, die "Schließung" der Partei für Neuaufnahmen zuvor bekannt geworden war und es wohl auch nach dem 1. Mai 1933 noch einige auf dieses Datum rückdatierte Eintritte gegeben hatte. Die 1937er NSDAP-Mitglieder waren 1933 in der Regel Mitgliedschaften in anderen NS-Organisationen, in SA, SS, NSKK etc., auch im zu dieser Zeit noch formell selbständigen Stahlhelm, eingegangen. Diese sollten aus ihrer damaligen Sicht die "positive Stellung zum nationalsozialistischen Staat" hinreichend dokumentieren. Mit der Zunahme des Konformitätsdrucks ab 1937 erwies sich dies aber sowohl aus Sicht der den Eintrittsdruck Ausübenden als auch aus ihrem eigenen Blickwinkel als nicht mehr genügend. Die opportunistischen Verhaltensweisen der Jahre 1932/33 und 1937/38 sind demzufolge deutlich anders gelagert: im ersten Fall vorauseilender Gehorsam von Personen, die in ihrer übergroßen Mehrheit aus eigenem Antrieb zur Partei stießen, im zweiten Fall eher nachfolgender Gehorsam von Personen, die seit 1937 mehrheitlich Opfer des auf sie von verschiedenen Stellen ausgeübten Drucks zum Beitritt wurden.

In den Entnazifizierungsverfahren nach 1945 sollten die 1937/38 Eingetretenen zu einem sehr großen Teil angeben, sie seien zur Mitgliedschaft "gezwungen" worden. Auch in die Bewertung durch die Entnazifizierungskommissionen fand diese Darstellungsweise vereinzelt Eingang. So war z. B. die 1945 aufgestellte Liste der NSDAP-Mitglieder in der Gemeinde Schackstedt in zwei Kategorien untergliedert, a) aktive und b) passive, "gezwungene" Mitglieder.[356] Den mit den örtlichen Verhältnissen vertrauten Zeitgenossen des für die Aufstellung der Liste zuständigen Antifa-Ausschusses erschienen unmittelbar nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" die Erklärungen über "erzwungene" Beitritte offensichtlich plausibel.

Tatsächlich war die Gemengelage jedoch komplizierter und keinesfalls für die Betroffenen ohne Spielraum, auch wenn dies später oftmals verleugnet werden sollte. Generell gab es unter den "Gezwungenen" zwei Kategorien, a) jene, die behaupteten, 1937 oder später durch eine Mitgliedschaft in einer NS-Anhangsorganisation (SA, NSKK etc.) oder auch auf Befehl einer höheren Parteistelle "automatisch" bzw. "im Zuge der allgemeinen Überführung" in die NSDAP gelangt zu sein, und b) jene, die zugaben, dem ihnen gegenüber ausgeübten Druck nachgegeben zu haben.

Beispielhaft für die Darstellungen der "automatisch" Übernommenen steht die des gläubigen Katholiken August D., Inhaber eines Schuhwarengeschäftes in Sandersleben mit angeschlossener Maß- und Reparaturwerkstatt. Er gab an, 1933 in die SA eingetreten zu sein, weil Druck auf alle Geschäftsleute ausgeübt worden wäre, einer Organisation anzugehören. Seine Wahl wäre deswegen auf die SA gefallen, weil er sie "politisch und weltanschaulich für am farblosesten" hielt. Mit der - in seiner Darstellung - automatischen Übernahme der SA gelangte er 1937 in die NSDAP, wurde aber nur Anwärter, weil ihm nachgewiesen worden sei, dass er noch im Oktober 1937 Geschäfte mit jüdischen Firmen getätigt hätte.[357]

Die statuarischen Festlegungen sahen eine "automatische Übernahme" nicht vor. Für den Eintritt in die NSDAP war ein eigenhändig unterschriebener Aufnahmeantrag zwingend notwendig, die Einreichung einer Aufnahme durch eine andere Stelle ausgeschlossen. Doch die Behauptungen einer "automatischen" Aufnahme nach 1937 sind in einer solchen Häufigkeit vorzufinden, dass nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass untere Parteiinstanzen hier gewisse 'Abkürzungen' des formellen Verfahrens suchten. Die Überlieferung im Bundesarchiv lässt eine Klärung dieser Frage nicht zu, nur ein Bruchteil der Aufnahmeanträge ist dort noch vorhanden. Darüber hinaus wäre selbst bei deren vollständiger Überlieferung von jedem Mitglied dieser Kategorie eine Unterschrift zum Vergleich zu beschaffen. Generell ist aufgrund der Kenntnis der technischen Abläufe davon auszugehen, dass zu jedem Eintritt auch ein Aufnahmeantrag vorgelegen hat. Fraglich wäre dann nur, ob er auch tatsächlich vom Eintretenden unterschrieben worden war. Bemerkenswerterweise konnte innerhalb dieser Untersuchung jedoch kein einziger Fall ermittelt werden, in dem ein "automatisch" Überführter im nachhinein die Beitragszahlung verweigert und somit seinen Ausschluss aus der NSDAP nach relativ kurzer Frist herbeigeführt hätte.

Eine seriöse Nachprüfung der angeblichen "allgemeinen Überführung" ist lediglich für die Sanderslebener Stahlhelmangehörigen möglich, die nach ihrer Übernahme in die SA nachfolgend auch spätestens 1937 "automatisch" in ihrer Gesamtheit hätten in die Partei überführt werden müssen - so man der Logik solcher Behauptungen folgt. Von den 159 auf Mitgliederlisten des Stahlhelms bzw. Nationalsozialistischen Deutschen Frontkämpferbundes 1933/34 in Sandersleben nachgewiesenen Personen traten insgesamt lediglich 56 (= 35 %) der NSDAP bei, zehn davon 1936 und 32 1937.[358] Gestützt auf dieses Ergebnis wäre die "automatische Übernahme" von Mitgliedern der NS-Anhangsorganisationen zur NSDAP in das Reich der nutzbringenden Legende zu verweisen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass - wenn es denn überhaupt eine planvolle "Überführung" gab - von den Parteistellen bestenfalls eine vorab-Selektion der Aufzunehmenden vorgenommen und von diesen zumindest nachträglich nach der listenmäßigen Meldung ein Aufnahmeantrag unterschrieben wurde.[359]

An der Ehrlichkeit der Mitglieder der Kategorie b), jener also, die später eingestanden, dem ihnen gegenüber ausgeübten Druck nachgegeben zu haben, dürften hingegen kaum Zweifel bestehen. Der Beitritts-Druck auf sie wurde aus zwei Richtungen, von lokalen NS-Funktionären einerseits und Arbeitgebern andererseits, ausgeübt. Die Intensität der Beeinflussung reichte dabei von einfacher Agitation bis hin zu brutaler Drohung. Beispiele für von NS-Funktionären unter Drohungen herbeigeführte Beitritte liefern wiederum die in Sandersleben nach 1945 durchgeführten Entnazifizierungsverfahren.[360] Der Chauffeur Waldemar B. gab an, von seinem Arbeitgeber, dem Fuhrunternehmer und NSDAP-Ortsgruppenleiter Willi Jung, zum Eintritt in die SS (1935) und die NSDAP (1937) genötigt worden zu sein. Auch der Eisenbahner Paul Ackermann gab zu Protokoll: "Unter ständigen Zwangshinweisen der Ortsgruppenleitung wurde ich im Oktober 1937 der Partei als Anwärter zugewiesen." Der Nachfolger Jungs im Amte des Ortsgruppenleiters, Hans Quidde, verfuhr in gleicher Weise, wie aus einer 1946 durch den Antifa-Ausschuß Sandersleben abgegebenen Beurteilung hervorgeht: "Im Betrieb der Reichsbahn, als Reichsbahnmeister ließ Qu. soziale Gedanken blitzen bei denen, die ihm politisch willfäh[r]ig waren. Dem Eisenbahner F. drohte er 1939 'ich werde Sie ausmerzen' bei einer Vernehmung; dem Eisenb. O. u. R. ließ er ohne Anmeldung 6 Monate Beitrag für die NSDAP nachkassieren; dem Eisenb. B. versuchte er, allerdings vergeblich, mit allen Mitteln in die NSDAP zu zwingen u. im besonderen für die Rassenlehre der NSDAP mit den damaligen Lehrer Winkler zu gewinnen." Zu dem dienstverpflichteten Kartenstellenleiter bei der Stadtverwaltung Sandersleben, S., kam Quidde im Februar 1942 und sagte (nach Aussage S.'s): "'Herr S[...], Sie sind Parteigenosse!' Ich antwortete: 'Sie irren sich Herr Quidde!' Er antwortete: 'Nein, ich irre mich nicht, der Kreisleiter hat es so bestimmt!' Ich wurde als Walter im Volksbildungswerk eingesetzt."[361] Durchaus typisch ist auch der Fall des Schmiedes Heinrich Bötel aus der Bahnmeisterei Güsten, der 1942 zum DAF-Betriebsobmann ernannt und aufgefordert wurde, der NSDAP beizutreten, was er dann auch tat.[362]

Die Aggressivität einiger, bei weitem nicht aller, Ortsgruppenleiter bei der Gewinnung neuer Mitglieder[363] resultierte aus dem Druck unter den sie selbst in dieser Frage gestellt waren. Die "Lockerung" der "Mitgliedersperre" 1937 war eindeutig unter der Intention erfolgt, die NSDAP eine Massenpartei in einem Volumen von einem Zehntel der Bevölkerung werden zu lassen und gleichzeitig die mit der Eintrittswelle 1932/33 erworbene sozialstrukturelle Ungleichgewichtigkeit mittels gezielter Neueintritte vor allem aus der Arbeiterschaft und der Jugend wieder auszugleichen. Mit letzterem allerdings waren die unteren Parteiinstanzen offensichtlich überfordert, für sie zählten lediglich die vorgegebenen magischen zehn Prozent Mitgliederanteil an der Bevölkerung. So wies z. B. der NSDAP-Kreisleiter des benachbarten preußisch-anhaltischen Parteikreises Quedlinburg-Ballenstedt per Rundschreiben vom Januar 1940 "nochmals darauf hin, daß sich jeder Ortsgruppenleiter für die z. Zt. bestehende Auflockerung der Mitgliedersperre der NSDAP. dahingehend einsetzt, dass eine rege Werbung für Neuaufnahmen betrieben wird. Eine öffentliche Werbung mit schriftlichen Anzeigen usw. ist nicht gestattet. Es ist daher unbedingt auf die Propaganda von Mund zu Mund zurückzugreifen. Von mir aus habe ich nichts dagegen einzuwenden, dass die Lockerung der Mitgliedssperre auf den Haustafeln in den Ortsgruppen bekanntgegeben wird. In meinem Kreisgebiet muss alles daran gesetzt werden, dass das Kontingent (10% der Einwohnerschaft) erreicht wird. Zu meinem Befremden habe ich noch feststellen müssen, dass es im Kreise noch einige Ortsgruppen gibt, die bis heute noch gar keine Neuaufnahmen hereingegeben haben. Ich muss gerade diese Ortsgruppenleiter bitten, sich für einen versprechenden [entsprechenden - T. K.] Erfolg einzusetzen."[364]

Die Drohung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes bzw. die Androhung beruflicher Zurücksetzungen erwies sich vor dem Hintergrund der Erinnerung an die gerade überstandene Wirtschaftskrise als das bei weitem effektivste Druckmittel zur Erzielung von Beitritten.[365] Von nationalsozialistischer Überzeugung war an keiner Stelle mehr die Rede, es ging einzig darum, die Mitgliedschaft der Zahl nach zu verstärken und die betreffenden Personen zu einem formalen Bekenntnis zu veranlassen.[366] Beispielhaft wäre hier der Fall des 1909 geborenen Zimmermanns Fritz B. herauszugreifen. Seit 1927 war er in seinem Beruf zuerst bei der Fa. Wohlhaupt, dann 1933-40 bei den Deutschen Solvay-Werken tätig. Gleichfalls seit 1927 bis zur Übernahme in die DAF war er Mitglied des sozialdemokratischen Zentralverbandes der Zimmerer und seit der Jugendzeit Mitglied in Arbeitersportvereinen. Ein seit 1930 bestehendes und sich immer weiter verstärkendes Krampfaderleiden (offener Fuß) machte ihn letztendlich vollkommen arbeitsunfähig. Eine andere - leichtere - Tätigkeit im Betrieb wurde ihm jedoch verwehrt. Der daraufhin von ihm angestrebte Besuch der Bauschule in Zerbst wurde erst möglich, als er die Vorleistung des NSDAP-Beitritts (1.2.1940) erbrachte. Außer durch Beitragszahlung war er für die Partei aber offensichtlich von keinem weiteren Nutzen.[367]

Am effektivsten ließ sich die Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust im öffentlichen Dienst aufbauen, hier war der in der Privatwirtschaft nur schwer zu erzielende direkte Zugriff möglich. Im Normalfall wurde argumentiert, dass der Betreffende als Beamter schon längst Mitglied sein müsste und seine "positive Stellung zum nationalsozialistischen Staat" auch nach außen hin zu dokumentieren hätte. Im Einzelfall konnte es sogar vorkommen, dass seitens der beschäftigenden Verwaltung die Mitgliedschaft gefordert, von der zuständigen Ortsgruppe die Bestätigung aber verweigert wurde.[368]

Auch ehemalige Sozialdemokraten blieben von dieser dauernden Bearbeitung nicht verschont. Es hat sogar den Anschein, dass sie besonders seit etwa 1940 unter ständigem Hinweis auf den Makel ihrer früheren SPD-Mitgliedschaft bevorzugt ins Visier genommen wurden. Der frühere stellvertretende Coswiger Strafanstaltsdirektor Ernst Graßhoff, für die SPD in dieser Zeit Stadtverordneter in Coswig und 1933 von Coswig in die Verwaltung nach Köthen strafversetzt und herabgestuft, berichtete nach Kriegsende, er wäre die ganzen Jahre hindurch innerlich Sozialdemokrat geblieben (und rettete im übrigen auch die Akten der SPD Coswig über die Zeit des Dritten Reiches): "Wenn ich trotzdem zum 1. Januar 1943 Mitglied der NSDAP werden musste, so darum, weil nunmehr der behördliche Druck nicht mehr zu ertragen war. Man warf mir unanständige Gesinnung vor, daß ich Jahre hindurch mein Gehalt aus einer Staatskasse empfinge, ohne zu diesem Staate ja zu sagen, daß ich an exponierter Stelle stände und in schwerer Kriegszeit das Schicksal eines Staates mit zu beeinflussen hätte, ohne innerlich mich zu diesem Staat zu bekennen. Ich könnte nicht verlangen, daß der Staat mir Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit ohne ein Bekenntnis zur Staatsform glauben sollte. Ich müsste, wenn ich nicht auch äußerlich dies zum Ausdruck brächte, hieraus Konsequenzen ziehen. Das war der Grund, weshalb ich der Partei in letzter Stunde noch beigetreten bin."[369]

Insbesondere fallen in der Anwendung des direkten Zugriffs die Reichspost und vor allem die Deutsche Reichsbahn auf. Wobei man sich im öffentlichen Dienst allgemein oftmals nicht mit einer einfachen Zahl-Mitgliedschaft zufrieden gab. So erhielt z. B. der Reichsbahnassistent Alfred Henning in der Landeshauptstadt Dessau, NSDAP-Mitglied seit 1933, von der für ihn zuständigen Reichsbahndirektion Halle im Jahre 1940 nachfolgende Aufforderung: "Unsere Ermittelungen geben uns Veranlassung, Sie auf Ihre Verpflichtung hinzuweisen, sich nach Kräften aktiv in den Dienst der NSDAP, ihrer Gliederungen und Verbände einzusetzen, um dadurch Ihre unbedingte politische Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen."[370] Der Dessauer Stadtkämmerer Fritz Wegener schilderte in seinen Lebenserinnerungen, dass er "um ein gewisses Maß der Anpassung [...] umso weniger herum[kam], als ich im Dienst immer wieder Reibungen mit Parteidienststellen hatte. [...] Schon 1939 hatten mich [Oberbürgermeister] Sander und der stellvertretende Gauleiter Trautmann, die mir beide freundlich gesonnen waren, gewarnt: meine Berufung könnte nach § 45 der Deutschen Gemeindeordnung bis zum Ablauf des ersten Amtsjahres zurückgenommen werden, und auf dieses Recht hatte man, was auch möglich gewesen wäre, bei mir nicht verzichtet. Es wurde unausweichlich für mich, meine Zuverlässigkeit dadurch zu beweisen, daß ich mich 'politisch' betätigte, die Frage war nur: wo und wie. Als die Ortsgruppe Siedlung, zu der unsere Wohnung gehörte, mich im September 1939 als politischen Leiter haben wollte, lehnte ich bedauernd wegen bevorstehenden Wehrdienstes ab. Bei später mir angebotenen oder nahe gelegten Ämtern führte ich meine Arbeitsüberlastung an und wich aus. Ende 1940 aber fand sich das Geeignete: Ich wurde einer der Kreisrevisoren. Da hatte ich Ortsgruppen- und Frauenschaftskassen auf die Richtigkeit ihres Geld- und Markenbestandes hin zu prüfen. Das machte ich ab 1941 alle ein bis zwei Monate, übrigens ohne je geldliche Unregelmäßigkeiten bei den - teils männlichen, teils weiblichen - Kassenwarten festzustellen. Diese Tätigkeit war mein Alibi. Sie hatte weder leitenden, noch propagandistischen, noch schulischen, noch organisatorischen, noch sonst einen politischen Inhalt, und darauf legte ich entscheidenden Wert. Man mußte anständig bleiben und lavieren, um jetzt und später zu überleben."[371] Der zu dieser Zeit schon im britischen Exil lebende Sebastian Haffner schrieb 1939 über Leute vom Zuschnitt Wegeners, sie wären der Versuchung erlegen, einen kleinen Pakt mit dem Teufel einzugehen und damit "zu den Siegern und Verfolgern" zu gehören: "Das war die einfachste und gröbste Versuchung. Viele erlagen ihr. Später zeigte sich dann oft, daß sie den Kaufpreis unterschätzt hatten und daß sie dem wirklichen Nazisein nicht gewachsen waren. Sie laufen heute zu vielen Tausenden in Deutschland herum, die Nazis mit dem schlechten Gewissen, Leute, die an ihrem Parteiabzeichen tragen wie Macbeth an seinem Königspurpur, die, mitgefangen, mitgehangen, eine Gewissenslast nach der andern schultern müssen, vergeblich noch nach Absprungsmöglichkeiten spähen, trinken und Schlafmittel nehmen, nicht mehr nachzudenken wagen, nicht mehr wissen, ob sie das Ende der Nazizeit - ihrer eigenen Zeit! - mehr herbeisehnen oder mehr fürchten sollen, und die, wenn der Tag kommt, ganz bestimmt es nicht werden gewesen sein wollen."[372]

Beispielhaft für den öffentlichen Dienst insgesamt können die Verhältnisse in der mit Pflanzenzüchtungsversuchen befassten Anhaltischen Versuchsstation in Bernburg gelten. Von den 21 im Jahre 1940 dort beschäftigten Angestellten und Beamten traten zwischen 1932 und 1943 12 in die NSDAP ein (= 57 %). Unter den 34 Feldarbeitern der Versuchsstation lässt sich hingegen keine einzige Mitgliedschaft nachweisen. Die relativ gut überlieferten Eintrittsmotivationen dieser Mitglieder zeigen eine Spannungsbreite zwischen offensichtlichem Opportunismus und unter Druck erpressten Beitritten. Lediglich einem dieser Mitglieder, einem 1932 eingetretenen Laboranten und späteren NSDAP-Zellenleiter, könnte ein höheres Maß an nationalsozialistischer Überzeugung unterstellt werden.[373]

Die Herbeiführung von Parteieintritten durch unter-Druck-Setzung potentieller Mitglieder vollzog sich in ganz Deutschland in analoger Weise wie im Kreis Bernburg. Der Reichsschatzmeister der NSDAP sah sich - unter Reflektierung der seit 1937 gängigen Aufnahmepraxis - noch in einer besonderen Anordnung vom 19. April 1943 genötigt, darauf hinzuweisen, dass nur solche "Volksgenossen" aufzunehmen seien, die auch überzeugte Nationalsozialisten wären: "Bei der Aufnahme von Volksgenossen in die NSDAP. muß oberster Leitsatz aller mit der Aufnahme befaßten Dienststellen der Partei sein, daß der Führer in der Partei eine verschworene Gemeinschaft politischen Kämpfertums gestaltet wissen will. Es ist daher die Aufnahme eines neuen Parteigenossen eine wichtige politische Entscheidung, die nach eingehender Prüfung gewissenhaft und gerecht, aber niemals willkürlich zu treffen ist. Insbesondere darf weder die wirtschaftliche Lage noch die berufliche Stellung eines Volksgenossen für seine Aufnahme in die Partei bestimmend sein, soll doch die Partei das Urbild der Volksgemeinschaft in sich verkörpern."[374]

Inwieweit den Drohungen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes angesichts des inzwischen eingetretenen Arbeitskräftemangels tatsächliche Substanz innewohnte, ist nur schwer zu beurteilen. Innerhalb dieser Untersuchung konnte nicht ein einziger Fall ermittelt werden, in dem eine Entlassung nach Beitrittsverweigerung erfolgte. Freilich kann das auch daran liegen, dass kaum einer sich dem Beitrittsansinnen zu verweigern wagte. Schon die Drohung mit der Entlassung reichte, um Gefügigkeit hervorzurufen.[375] Zudem kamen Entlassungen nach einem Parteiausschluss durchaus vor.[376] Ein inzwischen verfestigtes Klima permanenter allseitiger Denunziation[377] und totaler Kontrolle verlieh den Drohungen aller Art weitere Zugkraft. Die Politisierung auch des privaten Lebens bot innerhalb von persönlichen Auseinandersetzungen skrupellosen Angreifern vielfältige Möglichkeiten zur Verbesserung der eigenen Stellung. Es wurden oft Gerüchte in Umlauf gesetzt, die für die Verdächtigten sehr gefährlich werden konnten, bis hin zur Einlieferung in ein Konzentrationslager oder gar zum Todesurteil. So z. B., dass der persönliche Gegner bzw. die Gegnerin Jude, Kommunist oder "Pollake" sei, mit polnischen oder russischen (Zwangs-)Arbeitern sexuelle Beziehungen unterhalten würde, Auslandssender höre etc.[378] Trotz der sich auch gegen Parteimitglieder richtenden Pressionen versprachen sich etliche Personen- auch jenseits der Arbeitsplatzbedrohung - von einer NSDAP-Mitgliedschaft zusätzlichen Schutz vor Nachstellungen. Sie suchten gewissermaßen in der NSDAP Schutz vor der NSDAP. Mit einem NSDAP-Mitgliedsbuch konnte man glauben oder hoffen, in dieser Hinsicht auf der sicheren Seite zu sein, zur "Volksgemeinschaft" und nicht zu den Ausgestoßenen zu gehören. So trat z. B. der Untervertreter Franz Steinbach aus Bernburg nach eigenen Angaben in die Partei ein, um seine Frau "halbjüdischer Abstammung" vor Verfolgung zu schützen.[379] Freilich war eine solche Hoffnung auf Schutz vor der allgemeinen Überwachung und Reglementierung schlichtweg illusorisch, NSDAP-Mitglieder unterlagen ihr im gleichen unverkürzten Maße. Das verdeutlicht auch das Beispiel des Gerichtsassessors Wilhelm R., der der NSDAP zum 1. Mai 1933 beigetreten war. R. strebte im Mai 1935 offensichtlich eine Anstellung beim Finanzamt Bernburg an. NSDAP-Kreisleiter Wienecke antwortete auf die Routineanfrage des Finanzamtes, dass der Bewerber nicht geeignet für eine Übernahme in die Reichsfinanzverwaltung sei. Er hätte bis zur Machtübernahme 1933 mit einem Bernburger Juden verkehrt und bei der Machtübernahme die Hakenkreuzfahne verhöhnt und sei deswegen seinerzeit auch in Schutzhaft genommen worden. Das Finanzamt nahm daraufhin von einer Einstellung Abstand. Auch eine Übernahme in den Staatsdienst wurde - trotz erfolgreich absolviertem staatsanwaltschaftlichen Vorbereitungsdienst - auf gleichem Wege vereitelt. Im Jahre darauf wurde eine Untersuchung des NSDAP-Kreisgerichtes gegen R., der inzwischen als Rechtsberater bei der Deutschen Arbeitsfront in Bernburg tätig war, eingeleitet. Nun tauchten weitere Vorwürfe auf; er hätte sich die NSDAP-Mitgliedschaft 1933 "erschlichen" - wer unter den "Maiveilchen" hatte dies nicht getan? -, würde in seiner beruflichen Tätigkeit gegen Prozessgegner ausfallend werden und wäre der Trunksucht erlegen. Obwohl das Verfahren eingestellt werden musste sah R. wohl keine Zukunft mehr in Bernburg und wechselte im gleichen Jahre in die Rechtsabteilung der Junkers-Flugzeugwerke nach Dessau.[380]


Die tatsächliche Akzeptanz, auf die das NS-Regime nach 1933 bauen konnte, ist nur äußerst schwer einzuschätzen. Näme man z. B. die Reichstagswahlen 1936 zum Maßstab, als in der Stadt Bernburg nur 2,0 %, im Landkreis Bernburg sogar nur 0,7 % Nein- und ungültige Stimmen abgegeben wurden,[381] so könnte man auf eine fast ungeschmälerte Zustimmung schließen. Andererseits gab es bei den Vertrauensratswahlen in den Bernburger Betrieben 1935 immerhin 21 % Nein-, ungültige und nicht abgegebene Stimmen.[382] Stellt man die Bernburger Bevölkerungszusammensetzung und weiterhin die aller Wahrscheinlichkeit nach nur verschwindend geringe Gegnerschaft aus den Reihen des "Bürgertums" in Rechnung, so ergibt sich somit ein Anteil von etwa einem Zehntel bewusster (aber nicht zwangsläufig auch aktiver) Nazi-Gegner.[383] Über den Anteil der skeptischen Mitläufer, die sich durchaus auch in der NSDAP selbst fanden, ist aber kaum eine seriöse Aussage möglich.[384]

Trotz der allgemeinen Tendenz, sich im "Dritten Reich" einzurichten und sich nach besten Kräften durchzulavieren, gibt es durchaus Beispiele für widerständiges Verhalten gegenüber dem in erster Linie im öffentlichen Dienst herrschenden Eintrittsdruck. Der Justizassistent Hubert H., während seines Wehrdienstes 1943 formal dem Amtsgericht Bernburg zugeteilt, hatte auf seiner vorigen Dienststelle, dem Amtsgericht Oschersleben, Kollisionen mit der NSDAP auszuhalten. Ein Schreiben der NSDAP-Gauleitung Halle-Merseburg vom März 1938 an den Landgerichtspräsidenten in Halberstadt sollte eigentlich seine Karriere untergraben: "Unter Bezugnahme auf Ihre Anfrage vom 2./3.38, den ausserplanmässigen Justizassistenten Hubert H[...] vom Oberlandesgericht Naumburg betreffend, teile ich mit, dass derselbe bisher noch nicht bewiesen hat, sich voll und ganz für den nationalsozialistischen Staat einzusetzen. H[...] ist nicht Mitglied der NSDAP und betätigt sich auch in keiner NS-Organisation. Er gehört nicht einmal der für die Beamten des einfachen mittleren Justizdienstes zuständigen Berufsorganisation, dem RDB, an. Er steht dem nationalsozialistischen Staate vollkommen gleichgültig gegenüber und zeigt keinerlei Interesse und beweist einen dadurch so mangelnden Einsatz, dass ich z.Zt. nicht in der Lage bin, seine planmässige Anstellung zu befürworten. Von den Beamten des Dritten Reiches muss erwartet werden, dass sie sich voll und ganz für den Staat einsetzen und auch in irgendeiner Form für den Staat tätig sind. Aus diesem Grunde bitte ich, die Anstellung des H[...] vorläufig auf ein Jahr zurückzustellen. In dieser Zeit soll ihm Gelegenheit gegeben werden, seinen Einsatz für das nationalsozialistische Deutschland unter Beweis zu stellen."[385] Trotz dieses Schreibens bezeichnete das Amtsgericht Oschersleben ihn per 9.5.1938 als "völlig geeignet" und der Oberlandesgerichtspräsident ernannte ihn mit Wirkung vom 1. Juni 1938 zum Justizassistenten.[386] Ob H. auf niederer Ebene Zugeständnisse gemacht hat ist nicht bekannt, eine NSDAP-Mitgliedschaft ist allerdings zu keinem Zeitpunkt nachzuweisen.[387] Neben Verweigerungen wie bei H. kamen auch in den 40er Jahren noch Ausschlüsse und selbst Austritte aus der NSDAP aus Gründen der - meist verdeckten - Ablehnung des Nationalsozialismus vor.

Außerhalb des öffentlichen Dienstes bedurfte es nicht zwingend eines Parteibuches zum Karrierevollzug. Freilich dürften die Verhältnisse in den Betrieben sehr unterschiedlicher Art gewesen sein. Dort, wo es dem Betriebsobmann erlaubt wurde, sich zum eigentlichen Herrscher im Betrieb aufzuschwingen, erhöhte sich natürlich die Bedeutung der Parteimitgliedschaft immens. Allgemein ist die Rolle der Parteimitgliedschaft im Karriereverlauf insofern nur unzulänglich zu beurteilen als sich in den - zudem nur für den Bereich des öffentlichen Dienstes rudimentär überlieferten - Akten nur die massive Einflussnahme schriftlicher Art wiederfindet, naturgemäß nicht aber die vielen alltäglichen mündlichen Absprachen.[388] Trotz dieser Einschränkung kann begründet davon ausgegangen werden, dass sich eine Karriere allein mit einem 1937er oder noch später datierenden Parteibuch noch weniger begründen ließ als mit einem 1933er.[389] Zum Beleg lässt sich u. a. ein Bewerbungsverfahren an der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg 1937 heranziehen, aus dem Dr. Werner L. als Sieger unter neun Bewerbern hervorging. Letztendlich erfolgte die Auswahl doch nach fachlichen Gesichtspunkten, obwohl die Bewerber auch ihre politischen Vorzüge ins Feld führten (im Falle L.'s: Mitgliedschaften in der NSDAP, in der SA, in der Motor-SS und in der NSV, sowie Teilnahme an einem Dozentenlehrgang in der SA-Sportschule Dombritsch). Doch jenseits eines einzuhaltenden allgemeinen Grundkonsenses blieben diese für die Stellenbesetzung irrelevant.[390] Massive Interventionen seitens der NSDAP-Kreis- oder auch der Gauleitung sind nur dann festzustellen, wenn es um Beförderungen von "alten Kämpfern" innerhalb des öffentlichen Dienstes ging. Bedingung war allerdings auch hierbei, dass diese nach wie vor herausgehobene Parteifunktionen bekleideten. In diesen Fällen trat dann tatsächlich auch die fachliche Eignung deutlich in den Hintergrund.[391]

Eine Vielzahl weiterer Eintritte rührte daher, dass die Betreffenden angesichts einer zunehmenden NSDAP-Sättigung vor allem im öffentlichen Dienst und in bestimmten Gesellschaftsschichten Gefahr liefen oder Gefahr zu laufen glaubten, beruflich und gesellschaftlich isoliert zu werden. So erfolgte der Beitritt des Brandmeisters Richard Laurich in Bernburg 1937 auch aus einer dienstlichen Zwickmühle heraus; der Betriebsobmann war ihm dienstlich unterstellt, ein Teil der Feuerwehrleute war wohl auch schon NSDAP-Mitglied, zusätzlich setzten ihn auch noch seine Vorgesetzten unter Druck.[392] Auch die Beitritte des Schlossers Willi H. aus Baalberge, der "auf Wunsch mehrerer Parteigenossen" im August 1937 in die NSDAP-Ortsgruppe eintrat,[393] und des Bernburger Arztes Dr. Kurt Bauer scheinen gleichermaßen von der Angst vor gesellschaftlicher Isolierung bzw. dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung diktiert worden zu sein. Dr. Bauer war 1937 der SA als Sanitäts-Obersturmführer beigetreten und ein Jahr später "automatisch" in die NSDAP aufgrund des Dienstgrades übernommen worden. Da er als Schwerkriegsbeschädigter des Ersten Weltkrieges schon seit 1934 nicht mehr praktizierte wäre es ihm durchaus möglich gewesen, unter Hinweis auf seine angegriffene Gesundheit das Ansinnen zum SA-Beitritt abzulehnen. Dass er es nicht tat deutet darauf hin, dass die Position in der SA und die damit verbundene Parteimitgliedschaft ihn gesellschaftlich wieder aufgewertet haben dürfte. Die Entnazifizierungskommission unterstellte ihm 1947 dann auch ein "gewisses Geltungsbedürfnis".[394]

Unter die Rubrik der aus Angst vor gesellschaftlicher Isolierung Eintretenden fallen auch Angehörige der alten konservativen Eliten, die - für Druck nach wie vor unempfindlich und vorwiegend deutschnational eingestellt - es 1933 noch nicht für nötig gehalten hatten, sich mit den nationalsozialistischen Emporkömmlingen gemein zu machen. Einen prototypischen Vertreter dieser alten Eliten finden wir in dem Bernburger Rechtsanwalt Karl Pietscher. Pietschers Großvater väterlicherseits war Bernburger Oberbürgermeister gewesen, sein Großonkel väterlicherseits Landgerichtspräsident und Landtagspräsident, sein Großvater mütterlicherseits war der Generaldirektor der Deutschen Solvay-Werke und Reichstagsabgeordnete Karl Wessel, der Bernburger Landrat der Jahre 1932 bis 1937 war sein Onkel und seine Frau stammte aus einer im Kreis ansässigen Großgrundbesitzersfamilie. In diesem Umfeld von Industrie, Verwaltung und Großgrundbesitz agierte auch seine Rechtsanwaltskanzlei, die wahrscheinlich jene mit der betuchtetsten Kundschaft in Bernburg war. Sein nassforsch-schnoddriges Auftreten als Anwalt, das ihm etliche Beschwerden von Prozessgegnern und Anwaltskollegen einbrachte, erinnerte daran, dass er zuerst die Absicht hatte, Offizier zu werden, 1917 als Fahnenjunker in ein Dragonerregiment eintrat, doch nach der Novemberrevolution im Range eines Fähnrichs seine Entlassung erbat. 1920 und 1921 kämpfte er außerdem als Zeitfreiwilliger. Zwischen 1923 und 1928 gehörte er dem Bund Oberland an, wechselte von dort zum Stahlhelm und zur DNVP, für die er seit 1931 Stadtverordneter in Bernburg war. Nach 1933 verblieb er im Stahlhelm bzw. NSDFB und nutzte die Ausnahmeregelung während der "Mitgliedersperre", um der NSDAP zum 1. April 1936 beizutreten.[395] Es steht zu vermuten, dass Pietscher neben der Motivierung durch eine eventuell drohende gesellschaftliche Isolierung auch über einen militaristischen Grundkonsens zur NSDAP fand.

Natürlich zog die Öffnung 1937 auch erneut Personen opportunistischen Zuschnitts an, die 1933 völlig 'auf das falsche Pferd gesetzt' hatten, unter anderem auch zwischen den radikalen Parteien ständig wechselnde Personen. Exemplarisch für letztere steht der 1889 geborene Bernburger ungelernte Arbeiter bzw. Bote Karl Block. Bis 1921 war dieser Mitglied der KPD gewesen, dann erfolgte dort sein Ausschluss, weil er im Mitteldeutschen Aufstand als Spitzel für die Gegenseite tätig gewesen war. 1922 und 1923 betätigte er sich in der Schwarzen Reichswehr und im Umfeld des Bernburger Stahlhelms, der Deutsch-Sozialen Partei und der Treuschaft Lützow; 1924 wird er als lokaler Wahlleiter der Nationalsozialistischen Freiheitspartei benannt. Wahrscheinlich ist er 1925 in die NSDAP übernommen worden, wohl aber bald ausgeschieden. 1928 lehnte die KPD seine Wiederaufnahme wegen der Spitzeltätigkeit im Jahre 1921 ab, 1931 ist er dann trotzdem als Mitglied im illegalen Roten Frontkämpfer-Bund zu finden, aus dem er 1932 wieder ausgeschlossen wurde. Ein 'nahtloser' NSDAP-Eintritt scheint ihm 1933 verwehrt worden zu sein, er musste sich bis zur erneuten Aufnahme per 1.5.1937 mit der SA-Mitgliedschaft begnügen.[396] In eine Reihe mit Block lässt sich auch der Lehrer Erich Trimpler stellen, der sich seit 1938 ständig von neuem erfolglos um die NSDAP-Aufnahme bemühte. Im November 1932 war Trimpler angeblich freiwillig aus der NSDAP ausgeschieden, trotzdem aber 1935 zum Rektor in Sandersleben ernannt worden. 1937 erfolgte seine Versetzung als Mittelschullehrer nach Gernrode im Kreis Ballenstedt. Das Bemühen um eine erneute NSDAP-Mitgliedschaft dürfte im Zusammenhang mit dieser Zurückstufung im Range zu sehen sein.[397] Eine gleichermaßen nutzenorientierte Eintrittsmotivation kann in Folge einer familiären Neuorientierung dem in Amesdorf und Bernburg ansässigen und in verschiedenen Berufsfeldern tätigen Familienverband T. bei seinem geschlossenen Eintritt 1940/41 unterstellt werden.[398]

Aus den Jahren 1940-42 überlieferte Begründungen für die Ablehnung von Eintritten zeigen, dass dieses opportunistische Eintrittsverhalten, das schon 1933 seinen Höhepunkt erreicht hatte, nach wie vor anzutreffen war und eventuell sogar neu belebt wurde. Nicht für die Aufnahme zugelassen wurden Personen, die an der "Bewegung" sichtlich desinteressiert waren, die Teilnahme an der Eintopfsammlung verweigerten, wegen Dienstverweigerung und Treubruch aus der SA ausgeschlossen worden waren oder dort eine mangelnde Dienstbeteiligung zeigten, allgemein als "nicht würdig, Parteigenosse zu sein" eingeschätzt wurden, familiär asoziales Verhalten zeigten und wahrheitswidrige Angaben machten, mehrfach vorbestraft waren etc.[399]

Und schließlich gab es unter der Vielzahl von Eintrittsmotivationen auch 1937 wieder die Absicht zur Herstellung eines günstigen Geschäftsklimas, wie sie z. B. dem seit 1927 in Bernburg selbständigen Schokoladen- und Süßwarenfabrikanten Richard Weigel zu unterstellen ist. Obwohl er schon vor 1933 die NSDAP unterstützt hatte wurde er lediglich im Mai 1933 einfaches SS-Mitglied. Erst 1937 trat er der Partei bei. Sein Hauptbetätigungsfeld scheint jedoch weiterhin in der SS gelegen zu haben. Es ist anzunehmen, dass die gesellschaftliche Stellung Weigels als einer der schon größeren Unternehmer Bernburgs (reichlich 100 Beschäftigte 1939) dann auch die 1940 erfolgte Beförderung zum SS-Untersturmführer begünstigte.[400]

Angesichts der vorab dargestellten Beispiele könnte man zu dem Schluss kommen, dass Arbeiter generell weniger Anpassung an das nationalsozialistische System leisteten, weil sie über die gesamte Zeitdauer des "Dritten Reiches" in der NSDAP-Mitgliedschaft unterrepräsentiert blieben und in der dieser Studie zugrunde liegenden Überlieferung mehr von geltungssüchtigen ('funktionshaschenden') als von 'nutzenorientierten' Arbeitern die Rede ist. Dies könnte sich jedoch auch als Trugschluss erweisen. Letztlich war die Schwelle für den symbolischen Anpassungsakt eines Arbeiters wesentlich niedriger angesetzt als für nichtproletarische Schichten. War für einen Arbeiter die formelle Mitgliedschaft in SA oder Stahlhelm aus seiner subjektiven Sicht und auch aus der Sicht der politischen Funktionäre und Vorgesetzten meist völlig ausreichend, um seinen Arbeitsplatz zu erhalten bzw. neu eingestellt zu werden,[401] so wurde von einem Lehrer ab 1937 Parteimitgliedschaft und Übernahme von Funktionen verlangt. Allerdings unterlagen die im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter einem Anpassungsdruck, der sich kaum noch von dem auf die Angestellten und Beamten ausgeübten unterschied.[402]

Ist der Mehrzahl der bis 1931 in die NSDAP eintretenden Personen noch ein hohes Maß an ideologischer Überzeugtheit, Hingabe an die Partei bis hin zum Fanatismus zu unterstellen, so sollte - wie auch die schon vorab vorgestellten Beispiele andeuten - die Zahl der in den Eintrittswellen 1932/33 und 1937/38 zur Partei gestoßenen Mitglieder nicht über deren Qualität, d. h. ihre Nützlichkeit für die Partei, hinwegtäuschen. Generell dürfte die Mehrheit der Mitgliedschaft versucht haben, sich "herauszuhalten", NSDAP-Mitglied zu sein, ohne zum Nationalsozialisten zu werden.[403] Man flüchtete sich in Scheinaktivitäten und Nebenorganisationen und vermied es tunlichst, in der Partei selbst aktiv zu werden. Die Folge war, dass von den Kreis- und Ortsgruppenleitern gegenüber den Mitgliedern untergeordnete Funktionärstätigkeit oft nur noch zu erzwingen war.

Es kann sogar beobachtet werden, dass der NSDAP nicht Angehörende für das System auf der politischen Ebene nützlicher waren als Parteimitglieder. Wird z. B. der 1940 u. a. wegen seiner Stellung zum Krieg ausgeschlossene Diplomhandelslehrer Rudolf G. dem Betriebstechniker Wilhelm Bodien gegenübergestellt, so zeigt sich, dass ersterer als 'renitenter Opportunist' trotz 1931 erworbener Parteimitgliedschaft eher das System unterminierte,[404] während der erst 1941 aufgenommene Bodien durch militaristische Artikel in der Solvay-Werkszeitung die Kriegsvorbereitung schon Jahre zuvor unterfütterte.[405]

Eine Sonderrolle hinsichtlich eingegangener NSDAP-Mitgliedschaften nahm die evangelische Pfarrerschaft ein. Lediglich sieben der 56 zwischen 1933 und 1945 im Kreis Bernburg zu irgendeinem Zeitpunkt aktiven Pfarrer der anhaltischen Landeskirche erwarben die Parteimitgliedschaft, zudem trat einer dieser sieben schon nach einem halben Jahr wieder aus. Auffällig ist, dass alle diese Eintritte bis 1933 erfolgten und es unter den Pfarrern nach dem 1. Mai 1933 zu keinen Eintritten mehr kam (auch nicht unter den vor 1933 im Kreis Bernburg aktiven und dann nach auswärts oder in den Ruhestand versetzten Pfarrern).[406] Weiterhin auffällig ist, dass selbst von diesen sieben Beitritten lediglich zwei zu einem Zeitpunkt vollzogen wurden, als die betr. Pfarrer schon in einem Dienstverhältnis zur anhaltischen Landeskirche standen. Diese Indizien deuten darauf hin, dass von der anhaltischen Landeskirche mit Sicherheit kein Druck - in welcher Form auch immer - zum Parteibeitritt auf ihre Pfarrer ausging. Allerdings wird sie diese mit Blick auf die schon vorhandene Polarisierung in den Gemeinden auch kaum zu verhindern gesucht haben, schließlich war auch der Landeskirchenrat seit 1933 durchweg nationalsozialistisch und wurde der Kreis Bernburg im "Dritten Reich" ausschließlich durch die beiden seinerzeit schon als Pfarrer der anhaltischen Landeskirche in die NSDAP eingetretenen Personen im Landeskirchenrat vertreten. Es scheint, als ob ganz allgemein eine eindeutige Parteinahme in Form einer Parteimitgliedschaft der Dienstauffassung der Mehrheit der Pfarrerschaft entgegenstand. In Rechnung zu stellen ist weiterhin, dass die Bekennende Kirche über einen spürbaren Einfluss verfügte.[407] Insgesamt dürfte der Kreis Bernburg damit innerhalb der protestantischen Teile Deutschlands eine Ausnahmestellung eingenommen haben.



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6.2 Mitgliederstruktur

Die Eintrittswelle der Jahre 1937/38 stellt sich hinsichtlich der Zusammensetzung der Neumitgliedschaft als Fortsetzung der Eintrittswelle des Jahres 1933 dar.[408] 53 % der Neueintretenden des Jahres 1937 waren Angestellte und Beamte (1933: 54 %); bis 1940 sollte ihr Anteil unter den Neueintritten dann sogar auf 61 % steigen. 41 % der Neueintritte kamen 1937 aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes (1933: 39 %); 1940 sollten nach einem zwischenzeitlichen Rückgang sogar 43 % erreicht werden. Auch das weiter steigende Durchschnittsalter der Neueintritte von 38,9 Jahren 1937 (1933: 36,4 Jahre) deutet auf ungebrochene Kontinuität hin. Gleiches gilt für die Altersverteilung innerhalb der Neumitgliedschaft, in der die Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912 mit 67 % bzw. 66 % aller Neueintretenden 1937 bzw. 1938 noch stärker dominierten als 1932/33 (jeweils 61 %). Auch die Geburtsjahrgangsgruppe 1901 bis 1910 findet sich unter den Neueintritten mit 32 % bzw. 31 % 1937/38 auf dem gleichen Niveau vertreten wie noch 1933 (31 %).[409] Innerhalb dieser Kernjahrgangsgruppen waren auch 1937/38 Arbeiter überproportional vertreten, während Angestellte und Beamte leicht unter dem Durchschnitt blieben.

Den für die Eintrittswelle 1937/38 gegenüber 1933 geschilderten Kontinuitäten stehen aber auch sichtbare Veränderungen gegenüber. So stieg der Arbeiteranteil unter den Neueintretenden 1937 auf 35 % (1933: 27 %) und sollte sich auch in den Folgejahren in dieser Größenordnung bewegen. Verantwortlich für diesen Zuwachs zeichneten in erster Linie die Arbeiter im öffentlichen Dienst und die Facharbeiter und Angelernte des Metallgewerbes (idealerweise der in einer Montagekolonne bei Solvay oder im Flugzeugbau bei Junkers beschäftigte Schlosser). Die Gewerbetreibenden hingegen waren ausweislich ihres rückläufigen relativen Anteils unter den Neueintritten nicht mehr in gleichem Maße zu mobilisieren.

Zum Zeitpunkt der Volkszählung im Jahre 1939 verteilten sich die NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet in ähnlicher Weise eindeutig auf die Bevölkerungs-Großgruppen wie schon 1933 für die Stadt Bernburg festgestellt (siehe vorhergehendes Kapitel). Die NSDAP war 1939 unter den Angestellten und Beamten um das 2,3fache und unter den Selbständigen um das Doppelte gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil vertreten und somit sehr stark überrepräsentiert, während die Arbeiter nur mit der knappen Hälfte ihres Bevölkerungsanteils vertreten waren und somit weiterhin sehr stark unterrepräsentiert blieben. Insgesamt lässt diese Verteilung erkennen, dass die bis 1933 bestandenen politischen Lager auf der Ebene der sozialen Abgrenzung nach wie vor intakt waren. Das "sozialistische Lager" hatte in den Reichstagswahlen 1930 - noch auf dem Höhepunkt seines Wählereinflusses in der relativen Stabilisierung - vier Fünftel des ihm hypothetisch 'zustehenden' Wählerpotentials, der Gesamtheit aller Arbeiter, für sich gewinnen können. Geht man von der Annahme aus, dass die Mitgliedschaftsverhältnisse in der NSDAP auch repräsentativ für die Bevölkerung im Untersuchungsgebiet insgesamt waren, so hatte das "sozialistische Lager" auch nach dem Stand von 1939 nur sehr geringe Anteile an das "nationale Lager" - sprich: die NSDAP - abgeben müssen. Dies gilt sowohl für das Untersuchungsgebiet insgesamt wie auch für die Stadt Bernburg im Speziellen. Reichlich drei Viertel der Arbeiter müssen nach wie vor auf der Gegenseite vermutet werden.

Zwischen dem Untersuchungsgebiet insgesamt und der Stadt Bernburg bestanden 1939 kaum Unterschiede in der Verteilung der Mitgliedschaft auf die Bevölkerungsschichten, am auffälligsten ist noch, dass die Überrepräsentanz der Selbständigen in Bernburg nur das 1,6fache gegenüber dem 2fachen im Untersuchungsgebiet insgesamt betrug. Auch der Vergleich zwischen den Werten für Bernburg 1933 und 1939 zeigt kaum Auffälligkeiten; doch lässt sich auch hier wieder eine leichte relative Zunahme der Selbständigen erkennen (1933: 1,3fach; 1939: 1,6fach).


Die Konzentration der NSDAP-Mitgliedschaft auf Bevölkerungsschichten 1939[410]

 
Berufszugehörige 17. Mai 1939 in % (incl. Angehörige ohne Hauptberuf)

NSDAP-Mitglieder Ende 1939 in % (kumulativ seit Ende 1929)

 
Untersuchungsgebiet
(Bernburg)
Untersuchungsgebiet
(Bernburg)
Selbstständige
9
(9)
18
(15)
Beamte u. Angestellte
21
(28)
48
(59)
Arbeiter
69
(63)
32
(25)

Die einzige gravierende Veränderung in der Zusammensetzung der Neumitgliedschaft war die kontinuierliche Steigerung des Frauenanteils unter den Neueintretenden von 9,6 % 1937 (1933: 5,4 %) auf 39,4 % im Jahre 1943. Die Voraussetzung für diesen enormen Zulauf bildete die Aufhebung der bis dahin bestandenen Eintrittsbeschränkungen gegenüber Frauen (maximal 5 % der Mitgliedschaft) durch die NSDAP-Reichsleitung 1937.[411] Angesichts der bis dahin in der NSDAP vorherrschenden Ausgrenzung der Frauen aus dem politischen Bereich[412] ist dies erstaunlich, doch als alleinverursachend ist diese Freigabe nicht anzusehen. Vielmehr müssen diese Eintritte in erster Linie dahingehend interpretiert werden, dass Frauen in stärkerem Maße als bisher - sofern sie berufstätig waren - nicht mehr nur eine Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft angetragen wurde.[413] Zumindest einem Teil von ihnen scheint - gleich den Männern - auch eine Parteimitgliedschaft abverlangt worden zu sein. Insbesondere Frauen im öffentlichen Dienst unterlagen dem geschilderten Beitrittsdruck in ähnlicher Weise wie ihre männlichen Kollegen.[414] Nichts illustriert dies stärker als die Tatsache, dass für 21 % aller 1937 im Untersuchungsgebiet beitretenden Frauen eine Tätigkeit als Lehrerin nachgewiesen werden konnte (das entspricht 47 % aller berufstätigen weiblichen Neumitglieder!) Nach Kriegsbeginn übernahmen Frauen zudem infolge der Einberufungen vielfach Tätigkeitsbereiche der eingezogenen männlichen Kollegen und 'erbten' damit wohl in einigen Fällen auch deren vorausgesetzte NSDAP-Mitgliedschaft. Doch ungeachtet der veränderten Umfeldbedingungen erreichten auch in den Folgejahren die weiblichen NSDAP-Eintritte auf gleicher Hierarchiestufe nicht jenen Umfang wie auf Seiten der männlichen Kollegen. In der Stadt- und Kreissparkasse Bernburg z. B. befanden sich im Bereich der im regulären Beschäftigungsverhältnis stehenden Angestellten zum Kriegsende 1945 unter den Männern 61 % NSDAP-Mitglieder, unter den Frauen jedoch nur 25%.[415] Ein gleiches Bild zeigt sich auf der Ebene der Arbeitsvermittler und Leitungspersonen des Arbeitsamtes Bernburg, einer 72 %igen Mitgliedschaftsquote der Männer stand eine 'nur' 36 %ige der Frauen gegenüber.[416]

NSDAP-Mitglieder unter dem Personal der Stadt- und Kreissparkasse Bernburg, Stand 30.08.1945
(alle Zweigstellen, einschließlich der kriegsgefangenen und vermissten Wehrmachtsangehörigen)
[417]

Jahr des
NSDAP-
Beitritts
Direktor,
(Ober)
Inspektor,
Revisor,
(Ober-)
Sekretär
Ange-
stellte
Zwischen-
summe
regulär
Beschäf-
tigte im
Angestell-
tenstatus
Kriegs-
aushilfs-
ange-
stellte
Anlern-
linge
Lehr-
linge
Heizer,
Bote,
Reine-
mache-
frauen
SUMME
 
ml.
wbl.
ml.
wbl.
ml.
wbl.
ml.
wbl.
ml.
wbl.
ml.
wbl.
ml.
wbl.
ml.
wbl.
ges.
nicht Mitglied
3
 
6
9
9
9
 
5
 
10
6
5
1
5
16
34
50
1933
1
 
5
 
6
0
 
 
 
 
 
 
 
 
6
0
6
1934
 
 
1
1
1
1
 
 
 
 
 
 
 
 
1
1
2
1935
 
 
 
 
0
0
 
 
 
 
 
 
 
 
0
0
0
1936
 
 
 
 
0
0
 
 
 
 
 
 
 
 
0
0
0
1937
9
 
7
1
16
1
 
 
 
 
 
 
 
 
16
1
17
1938
 
 
2
 
2
0
 
 
  
 
 
 
 
 
2
0
2
1939
 
 
 
 
0
0
 
1
 
 
  
 
 
 
0
1
1
1940
 
 
1
 
1
0
 
 
 
 
 
 
 
 
1
0
1
1941
2
 
 
 
2
0
 
 
 
 
 
 
 
1
2
1
3
1942
 
 
 
 
0
0
 
 
 
 
 
 
1
 
1
0
1
1943
 
 
 
1
0
1
 
 
 
2
 
1
 
 
0
4
4
1944
 
 
 
 
0
0
 
 
 
 
1
 
 
 
1
0
1
Eintritts-
datum unbekannt
 
 
1
 
 
 
 
 
 
 
1
 
 
1
 
 
 
unbekannt,
ob Mitglied[418]
 
 
5
 
5
0
 
         
 
 
11
 
 
 
16
0
16

SUMME absolut

15
0
28
12
43
12
0
6
0
12
19
6
2
7
64
43
107

NSDAP- Mitglieder
in %

80
0
61
25
65
25
0
17
0
17
11
17
50
29
47
19
36
 



Ehemalige NSDAP-Zugehörigkeit unter den Beschäftigten des Arbeitsamtes Bernburg
per 31. August 1945
[419]

 
Hilfskräfte[420]
Arbeitsvermittler und
Leitungspersonen[421]
Gesamt
ml.
wbl.
ml.
wbl.
ml.
wbl.
gesamt
Dienststelle Bernburg
 
 
 
 
 
 
 
- Beschäftigte insgesamt
5
12
19
13
24
25
49
- NSDAP-Mitglieder gesamt
1
2
15
3
16
5
21

in %

20
17
79
23
67
20
43
- Eintrittsjahre:
1940: 1
1940: 1
1942: 1
1933: 7
1937: 6
1941: 2
1935: 1
1940: 1
1943: 1
 
 
 
Nebenstelle Staßfurt
 
 
 
 
 
 
 
- Beschäftigte insgesamt
 
2
6
4
6
6
12
- NSDAP-Mitglieder gesamt
 
 
4
3
4
3
7

in %

0
0
67
75
67
50
58
- Eintrittsjahre:
 
 
1937: 2
1940: 1
1941: 1
1937: 1
1938: 1
1941: 1
 
 
 
Nebenstelle Calbe
 
 
 
 
 
 
 
- Beschäftigte insgesamt
 
2
4
3
4
5
9
- NSDAP-Mitglieder gesamt
 
1
2
1
2
2
4

in %

0
50
50
33
50
40
44
- Eintrittsjahre:
 
1943: 1
1937: 1
1938: 1
1941: 1
 
 
 
GESAMT
 
 
 
 
 
 
 
- Beschäftigte insgesamt
5
16
29
20
34
36
70
- NSDAP-Mitglieder gesamt
1
3
21
7
22
10
32

in %

20
19
72
35
65
28
46


Frauen werden NSDAP-Mitgliedschaften nicht nur zum direkten eigenen Nutzen eingegangen sein; vielmehr muss bei einer Vielzahl der von Hausfrauen erworbenen Mitgliedschaften davon ausgegangen werden, dass sie durchaus auch zur Befestigung der Position des Ehemanns gedacht waren. Auffällig ist aber, dass Frauen von Ortsgruppenleitern in der Regel nur über Mitgliedschaften in der NS-Frauenschaft verfügten, ihre Männer bedurften solcherart Unterstützung aufgrund ihrer gefestigten Stellung anscheinend nicht.

 Neueintritte in den Ortsgruppen der NS-Frauenschaft Bernburg-Talstadt, Drohndorf, Pobzig und Sandersleben (Mitgliederbestand der Jahre 1944/45)[422]

Eintrittsjahr
Anzahl Eintritte
1930
1
1931
0
1932
3
1933
49
1934
69
1935
57
1936
43
1937
17
1938
30
1939
18
1940
20
1941
12
1942
24
1943
16
1944
6
Die NS-Frauenschaft verzeichnete mit der Aufhebung der "Mitgliedersperre" in der NSDAP 1937 einen gravierenden Rückgang an Neueintritten; die ihre nationalsozialistische Gesinnung dokumentieren wollenden Frauen traten zu einem großen Teil sofort - ohne den Umweg über die NS-Frauenschaft - in die NSDAP ein. In der Summe der Frauenschafts-Ortsgruppen Bernburg-Talstadt, Drohndorf, Pobzig und Sandersleben belief sich der Rückgang an Eintritten 1937 gegenüber 1936 auf 60%. Auch späterhin wurde das zwischen 1933 und 1936 gegebene Eintrittsvolumen nicht wieder erreicht.

Das Durchschnittsalter der weiblichen NSDAP-Neumitglieder war 1937 wie auch schon 1933 mit dem der männlichen Neumitglieder identisch (jeweils 36,4 Jahre 1933, 38,7 zu 38,9 Jahre 1937). Seit 1938 jedoch (32,8 zu 38,2 Jahre) zeigte sich die weibliche Neumitgliedschaft kontinuierlich deutlich jünger als die männliche.[423] Dieses Phänomen allein auf den Wehrdienst der jungen Männer zurückführen zu wollen greift zu kurz.[424] Vielmehr waren gerade die jungen Frauen über ihre jetzt höhere Präsenz auf dem Arbeitsmarkt auch stärker dem beschriebenen Beitrittsdruck ausgesetzt als ältere Frauen.
 
Durchschnittsalter der neu eintretenden NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1933-1944 nach Geschlechtern


In ähnlichem Maße bedeutend wie die Erhöhung des Frauenanteils war die erneut einsetzende Konzentration der Mitgliedschaft in der Kreisstadt. 1937 wurden 60 % aller Eintritte in Bernburg vollzogen (1933: 46 %), eine Größenordnung, die auch in den Folgejahren Bestand haben sollte. Auch dieses Phänomen ist primär mit der eingangs des Kapitels skizzierten dominierenden opportunistischen Eintrittsmotivation zu erklären. In Bernburg wohnten in ungleich höherem Maße als in den Kleinstädten und Dörfern des Kreises Beschäftigte, für deren Verbleiben im Beruf oder auf der jeweiligen konkreten Position eine Parteimitgliedschaft vorausgesetzt wurde.

Im Gefolge der Eintrittswellen von 1932/33 und 1937/38 gestaltete sich die Verteilung der NSDAP-Mitglieder sehr ungleich. Das betraf nicht nur die Konzentration auf bestimmte Berufsgruppen und die Kreisstadt, sondern vor allem eine ungleiche Verteilung über die verschiedenen Wirtschaftsbereiche hinweg. Unter Einbeziehung aller bis 1944 eingegangenen NSDAP-Mitgliedschaften reicht die Spanne vorgefundener Mitgliedschaftsquoten von 65 % im Finanzamt Bernburg bis hinunter zu etlichen Betrieben ohne jedes Parteimitglied. Im Allgemeinen gilt, dass mit der Zunahme administrativ-verwaltender Tätigkeit auch die NSDAP-Mitgliedschaftsquote stieg. Der öffentliche Dienst findet sich ausnahmslos mit Spitzenwerten wieder, und das sogar dann, wenn es sich um Bereiche mit einem hohen Arbeiteranteil handelt. Diese Verteilung bestätigt somit indirekt, dass der größere Teil der Beitritte durch individuellen Opportunismus und durch Druck auf die potentiellen Mitglieder erzielt wurde.[425] Anderenfalls wäre eine gleichmäßigere Verteilung der NSDAP-Mitgliedschaft über die Unternehmen vorzufinden gewesen. Die Ungleichverteilung der Mitgliedschaft wiederholte sich auf innerbetrieblicher Ebene; je höher die Hierarchiestufe im öffentlichen Dienst, desto höher auch der Prozentsatz der NSDAP-Mitglieder.[426] In den Betrieben der Privatwirtschaft war es vor allem die Angestelltenschaft, die die NSDAP-Mitglieder stellte; bei den unmittelbaren Unternehmensleitern ist eher Zurückhaltung zu beobachten. So war z. B. der Vorstand der Deutschen Solvay-Werke in seiner Zusammensetzung des Jahres 1935[427] gänzlich ohne Parteimitglied, lediglich der nachgeordnete Direktor der Abteilung Kaliwerke Bernburg-Solvayhall gehörte zu den 1933er "Maiveilchen".[428] Auch in der Zuckerfabrik Bernburg-Dröbel war der Generaldirektor nicht Mitglied der Partei geworden. Der ihm unmittelbar nachgeordnete technische Direktor (zugleich Prokurist) trat jedoch 1936, der Prokurist 1933, der Handlungs-Bevollmächtigte 1933 ein. Einem Assistenten kann eine Mitgliedschaft nicht nachgewiesen werden (gleichwohl waren aber seine Töchter Parteimitglieder). Der Siedemeister der Zuckerfabrik trat 1933, der Maschinenmeister 1937 und der Waagemeister 1933 ein. Mindestens drei Viertel der unmittelbaren Unternehmensführung hatten also bis 1937 den Weg in die Partei gefunden.[429] Trotzdem dieser Wert nominell sehr hoch erscheint (in der Gesamtbelegschaft der Zuckerfabrik konnte nur eine NSDAP-Quote von 16% ermittelt werden[430]), dürfte er trotzdem nicht dadurch verursacht sein, dass der Stützpunkt- bzw. Ortsgruppenleiter Dröbel-Latdorf als Buchhalter in der Zuckerfabrik beschäftigt war. Vielmehr scheint es sich hier eher um den Normalfall gehandelt zu haben.[431] Eine ähnliche überproportionale innerbetriebliche Vertretung der Angestelltenschaft in der NSDAP ist auch für das Zweigwerk Bernburg der kriegswichtigen Junkers Flugzeug- und Motorenwerke festzustellen. Für die Junkers-Angestellten lässt sich ein Anteil von 40 %, für die Arbeiter des Werkes jedoch nur ein Anteil von 21 % NSDAP-Mitgliedern veranschlagen.[432]



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6.3 Der Funktionärskörper Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre

Der bisher dargestellte Charakter der Partei tritt in der Zusammensetzung des Funktionärskörpers noch stärker hervor als allgemein bereits unter der NSDAP-Mitgliedschaft. Das gilt sowohl für die Alters- als auch für die Berufsstruktur.

In der Zusammensetzung des Funktionärskörpers, deren Abbildung hinlänglich verlässlich nur für den Zeitraum Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre möglich ist,[433] bestätigt sich die Beobachtung, dass die NSDAP die Partei einer Generation war, der Generationscharakter tritt unter den Funktionären noch stärker hervor als schon unter den Mitgliedern. Während unter den NSDAP-Mitgliedern im Untersuchungsgebiet zwischen Ende 1929 und 1944 in der Summe 53 % den geschilderten Kernjahrgängen 1893 bis 1912 angehörten waren es unter allen ermittelten Funktionären summarisch bereits 61%. Eine wesentliche Differenz zur Altersstruktur der Gesamtmitgliedschaft ergibt sich zudem daraus, dass die jüngeren Geburtsjahrgänge ab 1913 fast überhaupt nicht unter den Funktionären zu finden sind (2 %). Diese Abstinenz lässt sich allenfalls zu einem Teil durch die hohe Rate an Wehrmachts- und Arbeitsdienstangehörigen unter den Angehörigen dieser Geburtsjahrgänge erklären. Bei Gegenüberstellung mit den Geburtsjahrgängen bis 1892 (25 % unter allen Mitgliedern, aber 39 % unter den Funktionären auf der höheren Leitungsebene) wird deutlich, dass Funktionswürdigkeit nach wie vor auch eine Resultante des (Lebens-)Alters war und es die Generation der Kernjahrgänge 1893-1912 wohl auch verstand, sich gegen die nachfolgenden Geburtsjahrgänge abzuschirmen.


Funktionäre der NSDAP-Ortsgruppe  Bernburg-Wasserturm 1937
Funktionäre der NSDAP-Ortsgruppe
Bernburg-Wasserturm 1937
[434]

Der Funktionärskörper der enddreißiger und vierziger Jahre rekrutierte sich weiterhin nicht mehr aus den "alten Kämpfern" - obwohl auch diese mehrheitlich den erwähnten Kernjahrgängen zugehörten - sondern in erster Linie aus seit 1933 in die Partei eingetretenen Mitgliedern. Eine über die NSDAP-Zellen- und Blockstruktur der Kleinstadt Hecklingen in den vierziger Jahren überlieferte Aufstellung belegt, dass die Zellenleiter- und Blockleiterpositionen fast durchweg von Mitgliedern jüngeren Parteialters besetzt waren. Nur zwei von den dort bei Kriegsende mit Eintrittsdatum registrierten 27 Blockleitern waren vor 1933 in die NSDAP eingetreten. In zehn weiteren Blöcken hätte jedoch die Möglichkeit der Einsetzung von "parteiälteren" Mitgliedern (vor 1933) bestanden. Auch von den sieben angegebenen Zellenleitern hatte keiner ein Eintrittsdatum vor 1933 aufzuweisen.[435] Das Parteialter stellte in den 40er Jahren anscheinend kein Kriterium der Funktionärsauswahl mehr dar. Selbst von 24 für das Untersuchungsgebiet ermittelten Trägern des Goldenen Parteiabzeichens - also Personen, die spätestens 1928 eingetreten und im wesentlichen fortlaufend Parteimitglied geblieben waren - sind lediglich neun überhaupt als Funktionäre nachweisbar.

Die schon in der Mitgliedschaft allgemein gegebene stark überproportionale Vertretung der Angestellten und Beamten verstärkte sich unter den Funktionären weiter. Während die niedere Funktionärsebene (unterhalb der Ortsgruppen- bzw. Stützpunktleiter)[436] der Zusammensetzung der Gesamt-Mitgliedschaft noch sehr ähnlich blieb und nur relativ geringe Abweichungen aufwies setzte im Übergang zur höheren Funktionärsebene eine starke Selektion ein. Nur noch 10 % aller Funktionäre verfügten dort über einen Arbeiterberuf (Gesamtmitgliedschaft summarisch: 35 %), während allein 70 % Angestellten- und Beamtenberufe ausübten (Gesamtmitgliedschaft summarisch: 49 %). Neben einem allgemeinen Anstieg in allen Angestelltenkategorien mit zunehmender Funktionshöhe ist besonders die Verdopplung des Lehreranteils - 7 % unter der Mitgliedschaft, 16 % auf der höheren Funktionärsebene - auffällig.

Der Frauenanteil unter den Funktionären blieb - entgegen ihrem Anteil an der Mitgliedschaft - verschwindend gering und lag bei maximal einem Prozent auf der unteren Funktionärsebene.[437] Funktionen wurden von Frauen in der Regel nur in "frauentypischen" Bereichen wie der NS-Frauenschaft und der NS-Volkswohlfahrt ausgeübt.


Altersstruktur des NSDAP-Funktionärskörpers im Untersuchungsgebiet
(kumulativ bis 1945; in % )


 
Geburtsjahrgänge
absolut[438]
 
bis 1892
1893-1912
 
1913-1927
 
 
 
 
1901-1910
 
 
Funktionäre 1 (Ortsgruppenleiter und höher)
38,9
61,1
23,6
0,0
144
Funktionäre 2
(bis exclusive Ortsgruppenleiter)
37,0
60,8
27,0
2,2
492
Mitglieder gesamt[439]
24,8
52,8
26,4
22,5
5.371


Die soziale Zusammensetzung des Funktionärskörpers der NSDAP im Untersuchungsgebiet (kumulativ bis 1945; in %)

Kategorie
Funktionäre 1 (Ortsgruppen- leiter und
höher)
Funktionäre 2 (bis exclusive Ortsgruppen- leiter)
Mitglieder gesamt[440]
Summe 1-9: Arbeiter gesamt
10,1
29,5
34,5
1 Landarbeiter
1,3
1,7
2,2
2 ungelernte Arbeiter
0,6
4,3
5,0
3 Hausangestellte
0,0
0,0
0,7
Summe 4-9: Facharbeiter und Angelernte gesamt
8,2
23,5
26,6
4 Metallfacharbeiter und -angelernte
3,8
7,1
9,9
5 Bau- und Holzfacharbeiter und -angelernte
0,0
2,9
3,6
6 Facharbeiter und Angelernte des polygraphischen Gewerbes
0,0
0,3
0,6
7 Bergleute
0,0
0,9
0,9
8 andere Facharbeiter
2,5
7,5
7,7
9 Arbeiter im öffentlichen Dienst
1,9
4,8
4,0
Summe 10-15: Angestellte und Beamte
70,3
55,1
49,1
10 kaufmännische Angestellte und Handlungsgehilfen
14,6
13,5
11,3
11 Lehrer
15,8
5,7
7,4
12 Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes (ohne Lehrer)
26,6
25,5
20,3
13 landwirtschaftliche Angestellte
3,2
0,6
0,7
14 Werkmeister
1,3
2,3
1,8
15 andere Angestellte
8,9
7,5
7,7
16 Handwerk und Gewerbe
8,9
10,0
9,7
17 Fabrikbesitzer und Direktoren
1,3
1,8
1,1
18 Landwirte und Gutsbesitzer
7,6
2,5
3,9
19 freie Berufe
1,9
0,9
1,2
20 Schüler und Studenten[441]
0,0
0,2
0,4
Absolut[442] (1-20)
158
651
4.503



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7. Die 40er Jahre: Generationswechsel

"Das eigentliche Problem sind die Heranwachsenden um die zwanzig. In dieser Altersgruppe gibt es echte, aufrichtige Nazis. Bei manchen hat man den Eindruck, daß sie hoffnungslos verloren sind. Sie weisen all die bekannten Nazi-Charakteristika (Falschheit, Untreue, Lügen und Feigheit in Krisenzeiten) auf. Vielfach sind es Problemkinder, und niemand würde es bedauern, wenn man drastisch mit ihnen verführe." Saul K. Padover, amerikanischer Nachrichtenoffizier österreichischer Herkunft, in einer Analyse Ende November 1944.[443]

In der Rekrutierung neuer Parteimitglieder verfolgte die NSDAP noch bis 1942 zwei sich überlagernde Strategien, einerseits die seit 1937 bekannte Ausübung von massivem Eintrittsdruck gegen dafür empfängliche Personen,[444] andererseits die an Bedeutung gewinnende kampagnenhafte Aufnahme von Mitgliedern aus der Hitlerjugend und dem Bund deutscher Mädel sowie von Kriegsversehrten.

Der Beginn des Jahres 1942 kennzeichnet einen scharfen Einschnitt, der Zugang zur Partei wurde nunmehr für Personen, die nicht den Jugendlichen oder Kriegsversehrten zuzuordnen waren, stark erschwert.[445] Ab sofort fokussierten sich die Bemühungen der Partei um neue Mitglieder nicht mehr auf die gegenwärtigen Leistungsträger der Gesellschaft, sondern auf jene, die es in Zukunft sein würden bzw. die man dazu zu machen gedachte. Die massenhafte Aufnahme von teilweise erst 17-jährigen Mitgliedern (jeweils 45 % der Eintretenden 1944 kamen aus den Geburtsjahrgängen 1927 bzw. 1926) war von der NSDAP-Reichsleitung gesteuert, um die abzusehende Überalterung aufzubrechen.

Seit 1939 deutete sich in der Zusammensetzung der Neueintretenden zudem der unausweichliche Generationswechsel an, das bisherige Rekrutierungspotential war erschöpft. Die Eintrittswelle 1937/38 war mit 67 bzw. 66 % aller Eintretenden noch einmal von den Geburtsjahrgängen 1893-1912 dominiert worden, so dass Ende 1938 nunmehr in diesen Jahrgängen schon etwa jeder fünfte bis sechste Mann Parteimitglied war. Damit dürfte eine Sättigung erreicht worden sein. Unter den Eintritten des Jahres 1939 sank der Anteil der Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912 abrupt auf 37 %, um dann 1940 wieder auf 53 % anzusteigen, 1941/42 knapp unterhalb dieses Niveaus zu verharren und 1943/44 letztlich gegen Null zu streben. Der Wiederanstieg 1940-42 korrespondiert mit einer erneuten Ausübung von Beitrittsdruck gegenüber Leistungsträgern, was sich auch in einer starken Zunahme der Beitrittszahlen 1940 gegenüber 1939 ausdrückt.[446] Das Durchschnittsalter der Neueintretenden sank 1939 auf 31,8 Jahre (1938: 37,7 Jahre), um 1940 wieder auf 37,8 Jahre anzusteigen. 1941 verharrte es auf gleichem Niveau, um danach stetig bis auf 18,5 Jahre 1944 zu fallen.[447]

Diese Daten suggerieren einen relativ reibungslosen Generationswechsel. In der Realität zeigten die Angehörigen der ins Aufnahmealter kommenden Geburtsjahrgänge allerdings wenig Neigung, auch Parteimitglieder zu werden, der NSDAP mangelte es urplötzlich an Nachwuchs. Schon unter den unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Jahrgängen war die Organisationsneigung rückläufig. Die durch den Ersten Weltkrieg hervorgerufenen Ausfälle, als die Geburtenzahlen auf etwa die Hälfte zurückgegangen waren, verringerten außerdem die Rekrutierungsbasis von Neumitgliedern. Und auch unter den wieder deutlich stärkeren Geburtsjahrgängen 1920-1925 wurde im Untersuchungsgebiet nur etwa die Hälfte des Eintrittsniveaus bzw. der NSDAP-Sättigung der Kernjahrgänge 1893-1912 erreicht.

Ein vom NS-Reichsstatthalter von Oldenburg und Bremen, Carl Röver, 1942 an den "Führer" persönlich gerichteter Bericht ging u. a. auch auf diese im Umfeld der Aufnahme jugendlicher Mitglieder bestehende Problemlage ein.[448] Röver wies in seinem Bericht implizit darauf hin, dass die Partei von den HJ-Mitgliedern als eine Domäne der älteren (Eltern-)Generation angesehen werde. Das Interesse für die Aufnahme in die NSDAP sei "nicht so groß, wie man es an sich erwarten sollte."[449] Die schon vollzogene oder kurz bevorstehende Einberufung zum Arbeitsdienst oder zur Wehrmacht würde die Eintrittsbereitschaft wegen des unweigerlich folgenden Ruhens der Mitgliedschaft herabsetzen; die potentiellen Mitglieder seien der Ansicht, man könne auch noch eintreten, wenn man zurück sei. Selbst bei vor dem Arbeitsdienst bzw. vor der Wehrmacht Eingetretenen gestalte sich die Rückkehr in die Parteiarbeit nach dem Ausscheiden aus der Wehrmacht schwierig.

An dieser Stelle sollte die Partei in den Folgejahren ansetzen und entschiedener als noch zur Zeit von Rövers Bericht 1942 den Eintritt direkt aus der HJ bzw. dem BDM heraus verlangen. Die Kritik Rövers scheint demzufolge in der NSDAP-Reichsorganisationsleitung auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Betrachtet man die Parteieintritte des Jahres 1944 im Kreis Bernburg, die zu etwa neun Zehnteln auf die Geburtsjahrgänge 1926 und 1927 entfielen, so ist augenfällig, dass es - anders als im Falle der unterdurchschnittlich in der Mitgliedschaft vertretenen Geburtsjahrgänge seit 1914 - eine strikte Vorgabe für die Aufnahme jedes fünften jungen Mannes und jeder zehnten jungen Frau gegeben haben muss.

Schon der interne "NSDAP-Reichsbericht" hatte im Jahre 1935 gefordert, 10 % aller Wahlberechtigten zu Parteimitgliedern zu machen und dabei insbesondere jugendliche Mitglieder zugewinnen, um den Einfluss der älteren (karrieristisch motivierten) Jahrgänge zu relativieren.[450] Nachdem eine interne Steuerung dem Anschein nach wenig erfolgreich gewesen war, wurde die Eintrittsbewegung mit der HJ-Kampagne zum "Führergeburtstag" jetzt härter administriert. Da die potentiellen jugendlichen Mitglieder nicht im erwünschten Maße von selbst in die Partei strebten unternahm man es, sie 'abzuholen'.

Im Falle der jungen Männer des Jahrgangs 1926 war die vorgegebene Quote wahrscheinlich wegen früher Einberufungen nicht ganz zu erfüllen, der Ausgleich erfolgte über die stärkere Aufnahme von jungen Frauen dieses Jahrgangs, so dass das Gesamt-Mitgliedervolumen aus dem Jahrgang 1926 die vorgegebene Höhe erreichte. Mit dem Jahrgang 1927, der schon im Alter von 17 Jahren zur Aufnahme kam, gelang schließlich eine geradezu schematische Erfüllung der vorgegebenen Struktur der Neumitgliedschaft.

1944 im Kreis Bernburg aufgenommene NSDAP-Mitglieder
aus den Geburtsjahrgängen 1926 und 1927
in % der Angehörigen des Geburtsjahrgangs
[451]

 
Stadt Bernburg
Landkreis Bernburg
Kreis Bernburg gesamt
Geburtsjahrgang 1926      
     
     
     
     gesamt
16
15
15
     männlich
20
18
18
     weiblich
12
13
12
Geburtsjahrgang 1927      
     
     
     
     gesamt
16
15
15
     männlich
20
21
21
     weiblich
11
9
10

Mittels dieser schematischen Umsetzung wurden die Geburtsjahrgänge 1926 und 1927 im Untersuchungsgebiet zu den am stärksten mit NSDAP-Mitgliedern durchsetzten Jahrgängen, was in erster Linie auf die verstärkte Aufnahme von jungen Frauen zurückgeht.[452] Der Eintrittsjahrgang 1944 war zudem seit 1933 wieder der erste, der - infolge der beschriebenen Quotierung - über eine ausgeglichene Kreisstadt-Landkreis-Relation der Neumitglieder verfügte.[453] Den Fortbestand des "Dritten Reiches" vorausgesetzt hätte die NSDAP mit dem 1944 angewandten System der Mitgliederrekrutierung durchaus der bisherigen Überalterung und Verstädterung der Mitgliedschaft entgehen können.

Die beschriebene Quotierung erlaubte es jedoch nicht, eine sozial ausgewogene Zusammensetzung der jungen Neumitgliedschaft zu erreichen, obwohl auch dies sicherlich beabsichtigt war. Zwar ergibt die Auszählung der ermittelten Berufe der 1944er Neumitglieder im Untersuchungsgebiet einen Arbeiteranteil von 60 % und einen Angestellten- und Beamtenanteil von nur noch 37 %, was nahezu reziproke Verhältnisse zum Vorjahr und erstmals eine annähernd gleichmäßige Verteilung der Neumitgliedschaft über die Bevölkerung bedeuten würde. Doch es handelt sich hierbei um einen quellenbedingten Fehlschluss. Lehrlinge gaben bei der Aufnahme ihren konkreten Beruf an, wurden auch so der Reichsleitung weitergemeldet und erscheinen demzufolge auch in der gleichen Form in den Aufnahmelisten und dem dieser Auswertung zugrundeliegenden NSDAP-Datensatz. Schüler hingegen gaben bei der Aufnahme überhaupt keinen Beruf (auch nicht "Schüler") an und konnten daher bei der Berufsauszählung nicht erfasst werden.[454] Tatsächlich hätten aber diese nicht erfassten Schüler später in der deutlichen Mehrheit Angestellten- und Beamtenberufe aller Art ergriffen, so dass sich die soziale Zusammensetzung der 1944er Eintritte - in die Zukunft projiziert - nicht anders darstellt als die bisherige Berufsstruktur der NSDAP. Kurz: die Partei hatte begonnen, sich aus sich selbst zu reproduzieren.[455]

Röver erläuterte in seinem Bericht auch, warum das fast zwangläufig so sein musste. Für den konkreten Beitritt seien letztendlich zwei Institutionen maßgeblich, das Elternhaus und der zuständige HJ-Führer. Insbesondere würden sich persönliche Differenzen mit dem HJ-Führer oft auch in einer Verweigerung der für den Parteibeitritt notwendigen Dienstbescheinigung niederschlagen: "Der Hauptverweigerungsgrund war immer der einer nicht genügenden Dienstbeteiligung. Dabei kommt es sehr häufig vor, daß HJ-Mitglieder den Dienst versäumen mußten, weil entweder Überstunden zu machen waren oder dringende Landarbeiten verrichtet werden mußten, wofür die HJ-Führer, die vielfach Schüler sind [! - T.K.], nicht das nötige Verständnis hatten. Wer regelmäßig den Dienst besuchte, bekam die erforderliche Mitgliedschaftsbescheinigung der HJ, aber nicht der eifrigste im Dienstbesuch ist unbedingt der beste. Ich kann mir vorstellen, daß hierbei die Einwirkung der Eltern eine Rolle mitspielt. Ein Beamter wird seine Kinder mehr zum Dienstbesuch anhalten als ein Arbeiter oder Bauer, einmal um zu beweisen, daß er sich für die Bewegung einsetzt, damit er nicht selbst irgendwie benachteiligt wird, zum anderen auch aus Sorge um das Fortkommen seiner Kinder, damit diese später in ihrer Laufbahn nicht behindert werden. Dasselbe wird der Fall sein bei der Aufnahme in die Partei. Auch hier werden die Kinder von Beamten veranlaßt werden, einen Antrag auf Aufnahme zu stellen, während andere Eltern diesem gleichgültiger gegenüber stehen. Ich habe ferner beobachten können, daß dort, wo ein guter HJ-Führer tätig war, auch die Aufnahmeanträge zahlreicher waren, vor allem aber in den Städten, während das Land hiergegen abfiel. Wo der HJ-Führer sich um nichts kümmerte, war das Interesse auch dementsprechend gering."[456] Kinder aus NSDAP-Elternhäusern wurden zum NSDAP-Beitritt und vorheriger guter HJ-Dienstbeteiligung angehalten. Wer darüber hinaus noch der Form nach eventuell für einen NSDAP-Beitritt in Frage gekommen wäre, wurde oftmals von den HJ-Führern, die ihrerseits wieder aus NSDAP-Elternhäusern und somit mehrheitlich aus Angestellten- und Beamtenhaushalten stammten, aussortiert. Man wäre auch in der nächsten Generation unter sich geblieben.[457]

Zumindest ein Teil der jugendlichen Neumitglieder der 40er Jahre wollte im nachhinein nach Kriegsende gar keinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt haben und behauptete, "automatisch" in die NSDAP "überführt" worden zu sein.[458] Auch in den für Entnazifizierungszwecke nach Kriegsende aufgestellten Listen findet sich bei etlichen Mitgliedern aus verschiedenen Orten der auf Eigenangaben beruhende Vermerk, sie wären durch die Partei von der HJ oder dem BDM "übernommen" bzw. "überschrieben" worden.[459] Doch war auch hier - analog zu den "automatischen Übernahmen" 1937/38 - zumindest die innerparteiliche Verfahrensweise formell geklärt: Die Bewerber hatten Antragschein und Fragebogen selbst auszufüllen, also den Antrag selbst zu stellen und sich nicht von Instanzen welcher Art auch immer vertreten zu lassen. In der von der jeweiligen HJ-Führung einzuholenden Dienstbescheinigung war von dieser weiterhin ausdrücklich zu bestätigen, dass der Antragsteller seinen Antrag freiwillig gestellt, sich bisher als zuverlässiger Nationalsozialist erwiesen habe und die Gewähr biete, den Anforderungen der Partei zu entsprechen.[460] 'Unsicheren Kantonisten' wird eine solche positive Dienstbescheinigung von vornherein verweigert worden sein, so dass trotz aller Kampagnenhaftigkeit und sogar Herabsetzung des Eintrittsalters auf 17 Jahre im Jahre 1943 gesichert war, dass nur der "bessere Teil" von HJ und BDM den Weg in die Partei fanden. Wer von den "Besten" dieser Generation würde sich auch dem Ansinnen verschlossen haben, der NSDAP beizutreten?[461] Allerdings wird man eine entschieden vorgetragene Erwartungshaltung gegenüber den ausersehenen Eintrittskandidaten durchaus unterstellen können; anders ließe sich die sprunghafte Steigerung der Eintritte in den Kampagnen und wohl auch die Argumentation mit der "automatischen Übernahme" unmittelbar nach Kriegsende nicht erklären.

Exemplarisch für die Angehörigen dieses 1944er Eintrittsjahrgangs steht Helga E., Jahrgang 1925, die per 20. April 1943 - zum "Führergeburtstag" - "innerhalb des Rahmens der allgemeinen Überführung von der HJ., der ich pflichtgemäß angehörte, in die NSDAP. überwiesen" wurde.[462] Die von ihr nach Kriegsende aus Gründen des Selbstschutzes eingeschlagene Argumentationsrichtung ist eindeutig: Mitgliedschaft in der HJ bzw. im BDM war Gesetz, und der quasigesetzlichen "Überführung" in die NSDAP konnte man sich demzufolge auch nicht widersetzen. Auffällig ist nur, dass sie hinsichtlich ihrer familiären Herkunft überhaupt nicht im Verdacht stand, dies vorgehabt zu haben; beide Eltern waren NSDAP-Mitglieder, der Vater zudem schon 1934 NSLB-Kreisfachschaftsleiter. Ihr Parteieintritt erfolgte also genau innerhalb der oben beschriebenen Wirkungskette.[463]

Einen ähnlichen familiären Hintergrund hatte auch Klaus Kleinau, Sohn des bereits erwähnten ehemaligen Ortsgruppenleiters Kurt Kleinau und Schüler der Nationalpolitischen Bildungsanstalt Ballenstedt, aufzuweisen. Er erlebte seine eigene Parteiaufnahme eher beiläufig: "Für uns völlig überraschend wurden wir im Dezember 1944 noch Mitglied der NSDAP. Wer das angeordnet hatte, weiß ich nicht mehr, auch nicht, ob man uns vorher danach gefragt hatte. Kurz vor meinem 17. Geburtstag wurden wir zu einer Feierstunde in einem Gasthaussaal eingeladen. Neben etlichen Kriegsverdienstkreuzen für die Ballenstedter Bevölkerung gab es für uns vom Jahrgang 1927 Parteiabzeichen. Wie erlebten diesen Vorgang als eine witzige Feierstunde, bei der wir uns das Lachen kaum verkneifen konnten. Der Parteivorsitzende, oder war es der Herr Bürgermeister, kramte die Abzeichen aus einer großen Tüte hervor und übergab sie uns, als hätten wir einen Preis bei einer Tombola gewonnen. 'So, nun steck dich das man an' sagte er im Ballenstedter Tonfall. Ich glaube, er war froh, als er das letzte Abzeichen aus der Tüte hervorgekramt hatte."[464]

Helga E. und Klaus Kleinau scheinen in ihrer selbstverständlichen und vollkommen kritiklosen Zustimmung typisch für eine vollständig unter dem Nationalsozialismus sozialisierte Generation.[465] Adolf Hitler hatte deren von einer beständigen ideologischen Indoktrination geprägte Lebensrealität schon 1938 vorgezeichnet: "Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln. Die Knaben kommen vom Jungvolk in die Hitler Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort (...) noch nicht ganz Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen. Und was dann noch an Klassenbewusstsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt die Wehrmacht. Und dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort in die SA, SS und so weiter. Und sie werden nicht mehr frei, ihr ganzes Leben."[466]

Im Oktober 1944 wurde seitens der NSDAP-Reichsleitung - mit Ausnahme der Kriegsversehrten - jede Aufnahmetätigkeit eingestellt. Davon betroffen war ausdrücklich auch die Kampagne zur Aufnahme von HJ-Angehörigen des Geburtsjahrganges 1928, die formell per 20. April 1945 zur Aufnahme kommen sollten, und von "im Felde stehenden" HJ-Führern.[467]



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8. "Volkspartei" NSDAP?

"Wenn nun - was in der Geschichte selten vorkommen mag - eine ganze Generation von jungen Menschen durch eine für alle gleiche, harte Jugendschule hindurchgegangen ist, so werden Millionen Einzelschicksale zu einer Jugendgemeinschaft. Es entsteht eine Menschengruppe mit einheitlicher Willens- und Wesensprägung und einer Stärke des Wollens, die sich durch millionenfache Summierung ins Außerordentliche steigern kann. Voraussetzung dazu ist Solidarität. Sie ist angelegt in der Gleichartigkeit des kollektiven Unbewußten. Deren Erkenntnis macht den Einzelnen weniger einzigartig, macht ihn kollektiver, macht ihn zum bewußten Glied einer kollektiven Macht, einer Generation als Aktionseinheit, einsatzbereit für gemeinsame Ziele." Zeitgenössische Darstellung (1933).[468]

Hinsichtlich ihrer Mitgliederstruktur ist die NSDAP von der Historiographie in jüngster Vergangenheit mehrheitlich als "Volkspartei" beschrieben worden. Nach den in dieser Untersuchung vorgestellten Ergebnissen ist eine solche Charakterisierung für die NSDAP im Kreis Bernburg nicht haltbar, und es besteht Grund zu der Annahme, dass sie für das Deutsche Reich insgesamt unzutreffend ist.

Wie anhand der detaillierten Mitgliederstatistik ausführlich dargestellt ist zeichnete für die Hinwendung zur NSDAP - auch weit über das Jahr 1933 hinaus - das Zusammenspiel von Generationszugehörigkeit und sozialer Lage verantwortlich. Der alleinige Verweis auf einen der beiden Faktoren kann das Phänomen des rasanten Aufstiegs des Nationalsozialismus nicht hinreichend erklären. Die NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg war hinsichtlich eines bestimmten Altersprofils, das zwischen 1929 und 1931 ausgeprägt wurde und bis zu dem Anfang der 40er Jahre einsetzenden Generationswechsel Bestand hatte, eindeutig definiert. In ähnlicher Weise definiert war auch das bis zum Ende des "Dritten Reiches" Bestand habende Berufsprofil der Mitgliedschaft. Demnach stellt sich das typische NSDAP-Mitglied - in idealisierender Vereinfachung - als ein um seine Zukunftschancen kämpfender Kleinbürger mittleren Alters, ein 1900 geborener und 1937 unter merklichem Außendruck in die NSDAP eingetretener männlicher Beamter mit kaufmännischer Ausbildung aus Bernburg, dar.

Bei dem Versuch einer vorurteilsfreien und systematischen Beschreibung der NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg, werden zuerst das Geschlecht und die Konfession als stärkste Merkmalsausprägungen sichtbar. Doch wo fast alle Mitglieder männlich und protestantisch sind, kommt diesen Aussagen nur ein geringer analytischer Gehalt zu. Anders verhält es sich mit der drittstärksten Merkmalsausprägung, der Alterszusammensetzung. Die 27 Geburtsjahrgänge von 1887 bis 1913 - ein (biologischer) Generationenabstand - bildeten nicht nur den Kern, sondern mit zwei Dritteln aller jemals in die NSDAP eingetretenen Mitglieder im Untersuchungsgebiet den Korpus der Partei.[469] Die Merkmalsausprägung des Berufes zeigt sich im Vergleich dazu um einiges differenzierter und bleibt demzufolge der Alterstruktur in ihrer Bedeutung nachgeordnet. Die NSDAP ist im Untersuchungsgebiet daher als "kleinbürgerlich-nationale Generationspartei" zu beschreiben. Diese Begriffsbildung hat gegenüber den in der Vergangenheit von der Forschung verwandten Bestimmungen "Mittelstandspartei" oder "Volkspartei" den Nachteil geringerer Gefälligkeit, aber den Vorteil größerer Genauigkeit, steht andererseits aber dem Begriff der "Mittelstandspartei" näher als dem der "Volkspartei".

Die spezielle Kombination einer bestimmten Alters- mit einer bestimmten Berufsstruktur deutet auf eine kollektive Identität hin, ausgeprägt in der sozialen Abgrenzung gegen "die da unten" und in der generationellen Abgrenzung gegen die Vätergeneration sowie im Einverständnis um gleiche Lebenserfahrungen und eine prinzipiell als gleichartig empfundene Lebenslage. Oder in konkreten Konflikten ausgedrückt: einerseits der alte Konflikt des "bürgerlichen" resp. "nationalen" Lagers mit dem "sozialistischen" Lager um die politische Vorherrschaft, andererseits jedoch der die besondere Qualität der NSDAP bestimmende und faktisch nach außen gewendete, primäre neue Konflikt mit der Vätergeneration um die blockierten eigenen Zukunftschancen.

Insbesondere die Charakterisierung als "kleinbürgerlich" erlaubt es, den für eine Radikalisierung in Richtung NSDAP empfänglichen Personenkreis besser zu umschreiben als das Attribut "mittelständisch". "Kleinbürgerlich" meint hier sowohl Angehörige der Mittelschicht, vor allem der unteren und mittleren Mittelschicht, als auch sozial auf- und abgestiegene ehemalige Angehörige der Mittelschicht, wie auch dahin aufsteigen wollende Angehörige der Unterschicht. Dieser Begriff stellt ab auf eine gemeinsame integrierende Bewusstseinslage und ist deshalb handhabbarer als eine ausschließlich an sozialstatistischen Kriterien orientierte Begriffsbildung.

Das stärkste Indiz für die Richtigkeit der Beschreibung als "kleinbürgerlich-nationale Generationspartei" ergibt sich aus dem Eintrittsverhalten in der Aufstiegsphase der Partei in der Weltwirtschaftskrise. Bildlich gesehen stellte die Expansion der NSDAP eine "Explosion" in der regionalen Parteienlandschaft dar, und diese "Explosion" ging von den 20 Geburtsjahrgängen von 1893 bis 1912 aus. Diese stellten im Untersuchungsgebiet 75 % der Ende 1929 registrierten Mitglieder und sogar 81 % aller Neueintritte des Jahres 1930. In der Aufstiegsphase konzentrierte sich die Mitgliedschaft im Untersuchungsgebiet des Kreises Bernburg also noch stärker auf wenige Jahrgänge als in der summarischen Darstellung über alle Eintrittsjahrgänge hinweg. Die sich anschließende Expansion der NSDAP seit 1931 ist vor allem als Expansion in die Tiefe der Generation zu verstehen. Im weiteren Verlauf des Eintrittsgeschehens sollte sich die zahlenmäßige Dominanz der Kernjahrgänge 1893 bis 1912 unter den Neueintritten erst nach 1938 allmählich verlieren, während sie in der Partei insgesamt bis zum Ende bestimmend blieben.[470] Die Folge war eine zunehmende Überalterung der Partei, deren Durchschnittsalter im Untersuchungsgebiet von 32,3 Jahren Ende 1929 auf 43,1 Jahre Ende 1943 stieg, um erst danach infolge der Masseneintritte aus HJ und BDM wieder leicht abzufallen.[471]

Durch die Beobachtung des Eintrittsverhaltens während der Zeit des Dritten Reiches wird die beschriebene Position weiter gestärkt. Obwohl unbestritten seit 1937 allgemein gegenüber allen Leistungsträgern ein starker Eintrittsdruck bestand, zeigten sich doch wiederum in erster Linie die Angehörigen der beschriebenen Kernjahrgänge für diesen Druck empfänglich, während vor allem unmittelbar nachfolgende Jahrgänge ihm besser auszuweichen wussten oder für ihn von vornherein viel weniger empfänglich waren.[472] An der Berechtigung der Charakterisierung als "Generationspartei" dürfte somit - zumindest für das untersuchte Gebiet - kaum ein Zweifel bestehen.

Ebenfalls eindeutig gestaltete sich die berufliche Zusammensetzung der NSDAP-Mitgliedschaft im Untersuchungsgebiet, unterlag jedoch nicht einer gleichen Homogenität wie die altersmäßige Zusammensetzung. Seit 1933 fiel der Angestellten- und Beamtenanteil nicht mehr unter 50 %, 1929 blieb er nur knapp darunter.[473] Einzig im Zeitabschnitt 1921/26 und unter den Neueintritten der Jahre 1930 und 1931 konnte die Partei numerisch mehr Arbeiter als Angestellte/Beamte rekrutieren.[474] Die Untersuchung hat allerdings gezeigt, dass es sich hierbei vor allem um "untypische", der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung fernstehende Arbeiter insbesondere handwerklichen Zuschnitts handelte. Insofern zeigt sich auch daran die Berechtigung des Attributes "kleinbürgerlich" zur Charakterisierung der Gesamtpartei. Trotz des relativ starken Zuspruchs bis 1931 blieb die Arbeiterschaft auch in diesen Jahren gegenüber ihrem Anteil an der Bevölkerung deutlich unterrepräsentiert; im Falle des Zeitabschnitts 1921/26 ging der hohe Arbeiteranteil sogar einzig auf die vom Rest des Untersuchungsgebietes abweichende Mitgliederzusammensetzung im Dorf Aderstedt zurück. Insgesamt waren nach 1933 Angestellte und Beamte sowie Selbständige gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil um reichlich das Doppelte bzw. um das Doppelte überrepräsentiert, Arbeiter hingegen waren nur mit der knappen Hälfte ihres Bevölkerungsanteils vertreten und blieben somit sehr stark unterrepräsentiert.

Als kompakteste Gruppe unter den NSDAP-Mitgliedern sind für die Zeit des "Dritten Reiches" die Beamten, Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes anzusehen, die beständig ein reichliches Drittel aller Mitglieder stellten. Innerhalb des öffentlichen Dienstes ist denn auch - bis zu einem Spitzenwert von fast zwei Dritteln aller Beschäftigten im Finanzamt Bernburg - eine ungleich höhere Sättigung mit Parteimitgliedern festzustellen als in der Privatwirtschaft. Insgesamt scheinen die für den Kreis Bernburg gewonnenen Ergebnisse hinsichtlich der verstärkten Anfälligkeit von Angestellten und Beamten im Allgemeinen und von Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Besonderen auch in einem größeren regionalen Maßstab verallgemeinerbar zu sein.[475]

Die starke Vertretung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der Partei geht auf die mit den verschiedenen Eintrittswellen insbesondere seit 1932 sich wandelnden dominierenden Eintrittsmotivationen zurück. Im Vergleich zu späteren Jahren waren bis einschließlich 1931 die numerisch noch relativ bescheiden ausfallenden Eintritte vorwiegend ideologisch begründet, oftmals gepaart mit stark entwickeltem Geltungsbewusstsein und Verzweiflung über die eigene - oft von Aufstiegshemmung, Zurücksetzungen und Arbeitslosigkeit geprägte oder bedrohte - wirtschaftliche Lage. 1932/33 kam es hier in der ersten Masseneintrittswelle zu einem grundlegenden Wandel, jetzt stießen Personen zur Partei, die sich in vorauseilendem Gehorsam übten, um ihre erworbene Parteimitgliedschaft später in persönliche Vorteile umsetzen zu können. Die faktische Aufhebung der seit dem 1. Mai 1933 bestehenden "Mitgliedersperre" bescherte der NSDAP 1937/38 die größte Eintrittswelle ihrer Geschichte, jetzt in der Regel ausgehend von Personen, die der Überzeugung waren, persönliche Nachteile erleiden zu müssen, wenn sie sich dem meist sehr entschieden an sie herangetragenen Ansinnen zum Parteibeitritt verweigerten. Letztendlich gab es unter den in diesen Masseneintrittswellen beigetretenen NSDAP-Mitgliedern nur einen geringen Prozentsatz tatsächlich überzeugter Nationalsozialisten; jedoch einen übergreifenden nationalistisch-antidemokratischen Grundkonsens.

Die Parteieintritte seit 1932 sind zu einem großen Teil mit der individuellen Erpressbarkeit aufgrund der Aufstiegshemmung vor und der Arbeitslosigkeitserfahrung während der Weltwirtschaftskrise in Verbindung zu setzen. Tatsächlich Bedrohte oder sich bedroht Fühlende hinterfragten in der Regel nicht, ob hinter der Drohung auch eine reale Macht stand. Bemerkenswerterweise ging die Organisationsneigung dann innerhalb der Geburtsjahrgänge der 1913 und später Geborenen zurück, die durch späten Berufseintritt die Erfahrungen der Massenarbeitslosigkeit und der kollektiven Aufstiegshemmung, aber zuvor auch schon die Erfahrung der Nachkriegsnot, persönlich nur noch in einem wesentlich geringeren Umfang machen mussten. Im Bereich der gewerblich Angestellten ist für das Jahr 1930 zudem belegt, dass die Kernjahrgänge in gleichem Maße sowohl unter den NSDAP-Mitgliedern als auch unter den arbeitslosen Angestellten überproportional vertreten waren. Auch der seit 1937 stark ausgeprägte Beitrittsdruck vermochte nicht, die bestehende Fixierung der Parteimitgliedschaft auf die Jahrgänge vor und nach der Jahrhundertwende hin zu einer relativ gleichmäßigen Vertretung aller Altersstufen in der Partei einzuebnen. Selbst unter den Reichsbahnbeschäftigten, die sich - nach den vorliegenden Quellen zu urteilen - diesem Druck am stärksten ausgesetzt sahen, hatte die spezifische Altersstruktur der NSDAP bis zum Ende des "Dritten Reiches" Bestand. Erstmals 1939 und dann wieder seit 1941 erfolgten im Untersuchungsgebiet weniger als die Hälfte aller Neueintritte aus den beschriebenen zwanzig Geburtsjahrgängen 1893 bis 1912.[476]

Zeitgenössische Literatur und historische Forschung sind sich weitestgehend einig darin, dass den im Umfeld des Weltkrieges durch die junge Generation erlittenen Prägungen eine herausragende Bedeutung bei der Radikalisierung in der Weltwirtschaftskrise zukam. Weiterhin wird versucht, diese Generation in mehrere Teil-Generationen aufzusplitten und insbesondere der "Kriegsjugendgeneration" der Geburtsjahrgänge 1901 bis 1910 gegenüber der zwischen 1890 und 1900 geborenen "jungen Frontgeneration" und der "Nachkriegsgeneration" der nach 1910 Geborenen einen besonderen Rang auch hinsichtlich der Anfälligkeit für eine NSDAP-Mitgliedschaft zuzuweisen. Erklärt wird die auch in dieser Studie nachgewiesene zentrale Rolle dieser Jahrgangsgruppe mit deren Sozialisierung in der Not der Nachkriegszeit und einer Überantizipation des kriegerischen Gedankens.[477]

Für das Untersuchungsgebiet kann eine solche kurze und scharf abgegrenzte Generationenabfolge nicht bestätigt werden. Vielmehr handelt es sich im Untersuchungsgebiet ausweislich des ermittelten Eintrittsverhaltens in die NSDAP um eine etwa 27 Geburtsjahrgänge umfassende Generation der zwischen 1887 und 1913 Geborenen, die sich 1933 im Alter von 21 bis 46 Jahren befanden, einen tatsächlichen (biologischen) Generationenabstand also. Zudem ist der Höhepunkt der Eintrittsbewegung in die NSDAP - sowohl absolut als auch relativ - am Übergang von der "jungen Frontgeneration" zur "Kriegsjugendgeneration" zu verzeichnen. Die auch innerhalb der Generation zwischen verschiedenen Geburtsjahrgängen sowie verschiedenen Lebenslagen unterschiedlichen Erfahrungen aus Krieg und Nachkrieg haben zweifellos zur Radikalisierung - in diesem Falle des "nationalen" Lagers - beigetragen, sie haben den Aufstieg der NSDAP erleichtert, aber sie erklären ihn nicht hinreichend, weder für die Generation in ihrer Summe noch für einzelne ihrer Jahrgangsgruppen.

Die radikalisierende, eintrittsrelevante gemeinsame Erfahrung der NSDAP-Mitglieder und damit auch der gesamten ("bürgerlichen") Jugendgeneration ist nicht primär im Umfeld des Weltkrieges, sondern in ihrer sozialen Stellung und deren kollektiver Reflexion vor und in der Weltwirtschaftskrise zu suchen. Aber: Als übergreifende Disposition der dargestellten drei Teilgenerationen steht die lebensgeschichtlich auf Krieg und Nachkrieg zurückgehende extreme Verunsicherung. Eine Verunsicherung, die ohne Hinzutreten weiterer Umstände - sprich: dem massenhaften Zusammenbrechen von Zukunftshoffnungen in der Weltwirtschaftskrise - sich nicht zwingend in politische Radikalisierung hätte umsetzen müssen. Dass die Radikalisierung im "nationalen" Lager stärker ausfiel als im "sozialistischen" hat allgemein wohl auch mit dem zwischen den Lagern zeitverschobenen Generationswechsel in den Führungspositionen zu tun; die SPD war in ganz Anhalt nach wie vor in der Hand der Gründergeneration der 1890er Jahre, die generationelle Erneuerung war steckengeblieben, die deutlich jüngere KPD - vollkommen anders als die NSDAP auf der "nationalen" Seite - nur von untergeordneter Bedeutung. Auf die höhere "Gewöhnung" vieler Arbeitergruppen an Zeiten von Arbeitslosigkeit sei nur noch einmal am Rande hingewiesen.

Der Sondereffekt, dass zwischen 1929 und 1931 die proletarischen Neumitglieder im Gegensatz zu den "bürgerlichen" Neumitgliedern sogar mehrheitlich aus den Geburtsjahrgängen 1901 bis 1910 kamen und sich auch nachfolgend stärker in diesen Jahrgängen konzentrierten,[478] erklärt sich wiederum aus den Besonderheiten ihrer Erwerbsbiographie. Arbeiter wurden in einem Alter schon mit dem sich verengenden Arbeitsmarkt konfrontiert als sich ihre "bürgerlichen" Altersgenossen noch in der Ausbildung befanden. Infolge dieser Differenz wie auch infolge familiärer Abhängigkeiten auf der "bürgerlichen" Seite waren Arbeiter früher politisch mündig als junge Angestellte oder gar noch sehr lange vom Elternhaus abhängige Studenten[479] und kamen auch deshalb früher für eine NSDAP-Mitgliedschaft in Frage. Der Entwicklungsunterschied scheint - nach dem auch nach 1933 fortbestehenden Unterschied in der Altersverteilung zu urteilen - auch späterhin seine Bedeutung nicht verloren zu haben. Es wäre daher zu erwägen, die "NSDAP-Generation" nicht anhand ihres Lebensalters, sondern anhand ihres Berufseintrittsalters zu definieren.

Für die zahlenmäßig erheblichen Eintritte von Arbeitern in die NSDAP vor 1933 ist zudem die Wechselwirkung zweier sich im gleichen Zeitraum vollziehender Entwicklungen verantwortlich zu machen: 1. die Umorientierung innerhalb des "nationalen" ("bürgerlichen") politischen Lagers im Generationenwechsel und 2. die Ausdehnung dieses politischen Lagers auf Kosten des "sozialistischen" ("proletarischen") politischen Lagers seit 1928. Im Ergebnis dieser Prozesse speiste sich auch der Zulauf an proletarischen Mitgliedern zur NSDAP vor 1933 aus zwei verschiedenen Quellen. Einerseits handelte es sich um schon von jeher der sozialistischen Arbeiterbewegung fernstehende Arbeiter (auch solche, die ihrem eigenen Verständnis nach keine Arbeiter waren, wie z. B. die Söhne von selbständigen Handwerksmeistern). Anderseits gingen auch Arbeiter, die selbst oder deren Familien zuvor dem "sozialistischen" Lager zuzurechnen waren, zur NSDAP über. In Bernburg waren dies vor allem hochqualifizierte Arbeiter in exklusiver Stellung. Im Landkreis Bernburg jedoch scheint die NSDAP vor allem unter den am Wohnort beschäftigten, nicht auspendelnden Arbeitern Mitglieder (und Wähler) gewonnen zu haben. Auch diese hingen bis dahin vor allem der SPD an, waren aber erst nach 1900 oder gar erst 1918 politisiert worden.[480]

Die Hoffnungen, die in die nutzenorientierten Parteibeitritte seit 1932 gesetzt worden waren, erfüllten sich in der Regel nicht. Mit einer Parteimitgliedschaft waren kaum Vorteile zu erzielen, genauso wenig ließen sich vermeintlich oder tatsächlich drohende Nachteile abwenden. Sie stellte im "Dritten Reich" letztlich oftmals nur eine weitere vorgeschaltete formale Bedingung dar, deren Erfüllung kaum einen Einfluss auf die nachfolgende fachliche Selektion, z. B. von Bewerbern in einem Auswahlverfahren, hatte. Die NSDAP war somit definitiv keine "Karrieremaschine", konnte es auch infolge der massenhaften Mitgliedschaft objektiv nicht sein.

Anfangs der 40er Jahre begann die NSDAP-Reichsleitung mit der planvollen Aufnahme der gerade erwachsen werdenden HJ- und BDM-Führer und -Führerinnen den Generationswechsel zu steuern. Diese jungen Neumitglieder, sozialisiert im "Dritten Reich" und großenteils wohl selbst Kinder von NSDAP-Mitgliedern, hatten in der Frage der Parteimitgliedschaft in der Regel keine Konflikte auszutragen, sie standen ihr völlig unkritisch resp. "überzeugt" gegenüber. Letztendlich war im Vollzug dieser letzten Eintrittswelle in den 40er Jahren im Untersuchungsgebiet annähernd jeder fünfte erwachsene Mann Mitglied der NSDAP.

Die einzige gravierende Veränderung in der Zusammensetzung der NSDAP-Mitgliedschaft im Untersuchungsgebiet bildete der starke Zuwachs an weiblichen Mitgliedern seit 1937. Hatten diese bis dahin in der Partei mit einem für "bürgerliche" Parteien eher typischen Anteil von etwa einem Zwanzigstel der Mitgliedschaft nur eine marginale Rolle gespielt, so wurde 1937 die Eintrittsbeschränkung auf 5 % der Mitgliedschaft fallengelassen. Der daraufhin bis auf ein reichliches Drittel beständig steigende Anteil v. a. jüngerer Frauen unter den Neueintritten führte zu einer Erhöhung ihres Anteils an der Gesamtmitgliedschaft bis auf knapp 15%. Diese Erhöhung war (partei-)administrativ herbeigeführt und im Falle der 1944 eingetretenen Geburtsjahrgänge 1926 und 1927 sogar auf ein Zehntel des jeweiligen Geburtsjahrgangs quotiert worden.

Die bisherige wissenschaftliche Diskussion über den sozialen Charakter der NSDAP weist eine eigenartige Schieflage auf: anstatt sich zuerst für die Zusammensetzung der Mitgliedschaft zu interessieren, haben es die meisten Forscher vorgezogen, die NSDAP soziologisch in erster Linie über ihre Wählerschaft zu definieren.[481] Wenn Mitgliedsdaten ausgewertet werden begnügen sich die Verfasser in der Regel mit einer exemplarischen Darstellung zu Zeitpunkten günstiger Quellenlage; generell vermisst man - mit einer Ausnahme[482] - die prozesshafte Betrachtung. Es konnte keine Untersuchung ermittelt werden, die die Zusammensetzung lokaler bzw. regionaler NSDAP-Mitgliedschaften von der Gründung der Partei bis 1945 lückenlos auf statistischer Grundlage nachzeichnet.

Im Gegensatz zu der hier für den Kreis Bernburg begründeten Charakterisierung der NSDAP als "kleinbürgerlich-nationale Generationspartei" schrieb die Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten der NSDAP mehr oder minder deutlich den Charakter einer "Volkspartei" zu.[483] Die Umschreibungen reichen dabei von einer "gleichsam volksparteiliche[n] Struktur",[484] über "volksparteiliche Sammlungsbewegung, die als einzige der Weimarer Parteien sozial heterogene Massen integrieren konnte",[485] bis hin zu "eine[r] Art Volks- oder Massenintegrationspartei, die im innersten Kern von den Mittelschichten gestützt wurde".[486] 1993 erschien sogar ein Themenheft der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft" unter dem Leitthema "Die NSDAP als faschistische 'Volkspartei'".[487] Und schließlich erklären Falter und Mühlberger in einer der jüngsten zum Thema erschienenen Studien die NSDAP schon im Titel apodiktisch zur "Volkspartei".[488] So verwundert es dann auch nicht, dass ein Versuch Mühlbergers, alle bisherigen Forschungen zur Sozialstruktur der NSDAP bis 1933 zusammenzufassen, mit der Schlussfolgerung endet: "The NSDAP was indeed what the Nazis claimed it to be, a Volkspartei, not a class or middle-class affair."[489] Als Begründung für diese Charakterisierungen muss in erster Linie die zahlenmäßig starke Präsenz von Arbeitern in der Partei - vor allem vor 1933 - herhalten.

Unter einer Volkspartei wird gemeinhin eine Partei verstanden, deren Programmatik breiteste Bevölkerungskreise anspricht und auf dem Wege des politischen Kompromisses über geeignete Koalitionen wirtschaftlichen und sozialen Interessenausgleich, allerdings um den "Preis" einer deutlichen Entideologisierung, anstrebt. Dieses Bemühen um Ausgleich soll sich im Falle positiver Resonanz - so die Modellvorstellung - auch in einer ausgewogenen, der Bevölkerungszusammensetzung entsprechenden Zusammensetzung der Wählerschaft und der Parteimitgliedschaft äußern. Eine Einstufung der NSDAP als "Volkspartei" verbietet sich schon von vornherein aufgrund ihres gewalttätigen, Kompromisse und Koalitionen negierenden Politikstils. Doch auch unter der alleinigen Herausstellung des Aspektes der Mitgliedschaftszusammensetzung ist festzustellen, dass eine Charakterisierung der NSDAP als "Volkspartei" die Verhältnisse im Kreis Bernburg nicht adäquat widerspiegelt.
Manstein hat den Versuch unternommen, die auf Ebene des Deutschen Reiches vorliegenden und sich stark auf die Phase des Aufstiegs der NSDAP bis zur Machtübernahme 1933 konzentrierenden Forschungen zu ihrer Sozialstruktur über die verschiedenen Ansätze und Kategorisierungen hinweg zu vergleichen. Im Ergebnis dieses Vergleichs konstatiert er allenthalben methodische Schwächen: "Auf der quantitativen Forschungsebene begegnet man vielfach einer methodischen Nonchalance, die häufig die Ergebnisse in Frage stellt. Gravierende Fehler werden oft jahrzehntelang einfach fortgeschrieben. Dazu paßt, daß es häufig an der Transparenz und Nachvollziehbarkeit der methodischen Vorgehensweise mangelt, so daß die Aussagekraft und die Beschränkungen der Ergebnisse nicht klar werden."[490] Mansteins Einschätzung bezieht sich vor allem auf die Komplexe Repräsentativität der Quellen, die aufgrund von Selbsteinschätzungen getroffenen Berufsangaben, die Kategorisierung der Berufsbezeichnungen,[491] die innerparteiliche Fluktuation, den sozialstatistischen Vergleichsmaßstab und letztendlich die Vergleichbarkeit mit anderen Arbeiten. Die Kritik Mansteins ist noch dahingehend zu ergänzen, dass die Zahl der Arbeiten zur NSDAP-Mitgliederstruktur nach wie vor zu gering ist.[492]

Trotz dieser Kritik kommt die Forschungsliteratur - weitgehend kompatibel mit den in dieser Untersuchung für den Kreis Bernburg vorgestellten Daten - in der Summe zu einem relativ einheitlichen Ergebnis: Sofern nicht Teile der Arbeiterschaft der Mittelschicht zugeschlagen werden steht einer sehr starken bis starken Unterrepräsentanz der Unterschicht eine starke bzw. sehr starke Überrepräsentanz der Mittelschicht und der Oberschicht in der NSDAP gegenüber. Innerhalb der Unterschicht ist vor allem zwischen durchgängig stark unterrepräsentierten ungelernten Arbeitern und in den einzelnen Jahren jeweils schwach bis stark überrepräsentierten Facharbeitern zu unterscheiden. Eine Einstufung der NSDAP als "Volkspartei" ist mit diesem Befund jedoch nicht vereinbar. Lediglich wenn man die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung aus dem Fokus verbannt läßt sich der Anschein einer Volkspartei herbeidefinieren.

Zudem deutet sich bei vergleichender Einbeziehung der zahlreichen regionalgeschichtlichen Arbeiten an, dass in großindustriellen und (frei)gewerkschaftlich durchorganisierten Gebieten nicht nur die NSDAP relativ schwach blieb,[493] sondern auch die Unterrepräsentanz der Arbeiterschaft in der Parteimitgliedschaft zunahm. Somit wäre - den Generationenaspekt an dieser Stelle außerhalb der Betrachtung gelassen - eher von einer Bipolarität des Sozialcharakters der NSDAP auszugehen: volksparteiliche Sammlungsbewegung in der Diaspora der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung jedoch Mittelstandspartei in deren Hochburgen. Geringe Ansätze dieser sozialstrukturellen Bipolarität sind auch im Kreis Bernburg in Form einer Entgegensetzung von Kreisstadt und Dörfern erkennbar, doch keinesfalls berechtigen diese Ansätze dazu, die NSDAP in ihrer Gesamtheit als "Volkspartei" im Sinne einer relativ gleichmäßigen Vertretung aller sozialen Schichten in der Partei zu sehen. Es ist zu vermuten, dass dieser dargestellte Zusammenhang für das Deutsche Reich insgesamt gültig ist. Falter und Mühlberger z. B. kommen in ihrer Studie zu Stadt und Landkreis Wetzlar, einem Gebiet, das eine ähnliche Strukturierung aufzuweisen hatte wie der Kreis Bernburg, zu analogen Aussagen. Auch bei ihnen ist - vollkommen kompatibel mit den Ergebnissen für den Kreis Bernburg - die NSDAP männlich, protestantisch, von einer Generation dominiert, unter den Arbeitermitgliedern jünger als im Durchschnitt der Mitgliedschaft, in der Kreisstadt eindeutig eine Angelegenheit der Mittelschicht, im Landkreis dagegen unter einer großen Streuung mehrheitlich proletarisch. Trotzdem erklären sie die NSDAP apodiktisch schon im Titel der Untersuchung zur "Volkspartei", obwohl die von ihnen vorgestellten Zahlen zumindest erhebliche Zweifel an dieser Sichtweise bestehen lassen.[494]

Es werden bei der Einstufung der NSDAP als "Volkspartei" im allgemeinen - nicht nur von Falter und Mühlberger - drei entscheidende Umstände nicht beachtet:

  1. Von einem nennenswerten Anteil an Arbeitern unter den NSDAP-Mitgliedern wird in der Regel auf die Berechtigung des Begriffes "Volkspartei" geschlossen. Dabei wird jedoch vernachlässigt, dass die Arbeiterparteien selbst mit ihrer Wählerschaft zu keiner Zeit (vielleicht lokal mit Ausnahme der Wahlen im Umfeld der Novemberrevolution 1918) das ihnen theoretisch "zustehende" Potential, die Gesamtheit aller Arbeiter, ausschöpfen konnten.[495] In der vorliegenden Literatur wird es durchweg unterlassen, die NSDAP im jeweils bestehenden lokalen, regionalen bzw. nationalen Parteiensystem auch mitgliederstatistisch zu verorten, bevor eine Bewertung ihres Charakters vorgenommen wird. Wie die Aufstellung für die Stadt Bernburg 1931 zeigt, hatten die gegnerischen Parteien aber zu allen Zeiten auch eine messbare Arbeitermitgliedschaft aufzuweisen.[496] Diese von jeher von der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung nicht erfassten, in der Weimarer Zeit teilweise "bürgerlichen" Arbeiterorganisationen (den "Hirsch-Dunckerschen", den "Christlichen", dem "Nationalen Arbeiterbund" etc.) anhängenden Arbeiter sind denn auch überproportional relativ früh hinter der NSDAP zu vermuten. Und schließlich ist immer wieder darauf hinzuweisen, dass Söhne von selbständigen Handwerksmeistern z. B. zwar sozialstatistisch in der Regel als "Arbeiter" gezählt wurden, ihrer gesellschaftlichen Zuordnung und der Selbsteinschätzung nach es aber nicht waren, relativ unabhängig davon, ob sie Aussicht hatten, den väterlichen Betrieb einmal zu übernehmen. Es bleibt festzuhalten, dass die Lagergrenzen zu keiner Zeit den sozialstatistischen bzw. versicherungsrechtlichen Abgrenzungen folgten.

  2. Die Grenzen zwischen den politischen Lagern befanden sich zu allen Zeiten im Fluss, wurden permanent neu ausgekämpft, was jeweils auch Auswirkungen auf die konkrete Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften hatte. In homogen protestantischen Gebieten wie dem Kreis Bernburg zeigte sich dies vor allem in Veränderungen der Arbeiter- und Angestelltenanteile, in gemischtkonfessionellen Gebieten kam der Religionsaspekt noch hinzu.

  3. Die Lagergrenzen waren mit steigender Ortsgröße tendenziell stärker umkämpft. Dieser Fakt erklärt auch, warum es über alle regionalgeschichtlichen Untersuchungen hinweg den Anschein hat, als wenn die NSDAP besonders im ländlichen Raum viel eher nach sozialstatistischen Kriterien zur "Volkspartei" werden konnte, während dieser Zustand z. B. in Berlin nie zur Diskussion stand.[497] Aufgrund der schwächeren Befestigung des "sozialistischen" Lagers im ländlichen Raum gelang es der NSDAP dort mehr und eher als in Klein- oder Großstädten, die Lagergrenze zu verschieben.[498] Zudem griffen oftmals die älteren Muster der Familienzugehörigkeit bzw. des bäuerlichen Eigentümerbewusstseins noch eher als die formale Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit. Diese älteren Muster lassen dann auch die an städtischen Verhältnissen orientierte sozialstatistische Einteilung in Unter-, Mittel- und Oberschicht für ländliche Verhältnisse zumindest als problematisch erscheinen.

Die Festlegung auf den vermeintlichen volksparteilichen Charakter der NSDAP ist nicht zuletzt Resultat der geringen Forschungsintensität auf dem Gebiet der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Partei für den Zeitraum seit 1933, für den nur wenige Studien vorliegen. Kater zeigt, dass seit 1933 ein zur volksparteilichen Entwicklung gegenläufiger Trend bestand, die Unterrepräsentanz der Arbeiter weiter zunahm.[499] Auch Falter und Niklas-Falter kommen in ihrer Untersuchung der Berliner NSDAP-Mitgliedschaft im Jahre 1939 zu ähnlichen Ergebnissen und halten diese - in Anlehnung an Ernst Nolte - auf der Basis eines sehr weit gefassten Kleinbürgerbegriffs für "eine aus allen Schichten gespeiste kleinbürgerliche Bewegung".[500]

Festzuhalten bleibt: Die NSDAP war zu keiner Zeit eine "Volkspartei" oder gar eine "Omnibuspartei", in der jeder mitfahren durfte, konnte oder gar wollte. Bleibt man innerhalb des letzten Bildes, so ist festzustellen, dass viele schnell vorankommen wollten und glaubten, dieses Beförderungsmittel dazu unbedingt benutzen zu müssen. Andere wollten die ersteren nicht aus dem Blick verlieren und mussten deshalb mit einsteigen. Aber vielen war eben auch der Fahrpreis zu hoch. Und etliche schließlich waren von vornherein von der Beförderung ausgeschlossen.

Von der Geschichtsschreibung zur Sozialstruktur der NSDAP ist der Generationsaspekt bisher als der Schichtzugehörigkeit nachgeordnet betrachtet worden. Deutlich wird diese Geringschätzung schon anhand der Präsentation der jeweils ermittelten Daten. Es ist gemeinhin unüblich, die exakten Geburtsjahrgänge der darzustellenden Mitgliedergruppe auszuweisen; vielmehr begnügt man sich mit der Ermittlung des jeweiligen Durchschnittsalters oder der Darstellung von Altersgruppen.[501] Mühlberger in seiner jüngsten Darstellung des bisherigen Forschungsstandes verzichtet sogar gänzlich darauf, der Generationsansatz ist ihm einen einzigen Satz wert.[502] Wehler - obwohl auch Anhänger der Volkspartei-These - verzichtet im Gegensatz zu Mühlberger nicht auf Angaben zur NSDAP-Altersstruktur.[503]

Verantwortlich für die weitgehende Ausblendung der Generationenproblematik ist die Tatsache, dass die momentan dominierende Auffassung von der NSDAP als "Volkspartei" in Auseinandersetzung mit dem bis dahin die wissenschaftliche Diskussion bestimmenden Begriff der "Mittelstandspartei" entwickelt wurde. Außerdem handelt es sich zumindest teilweise um eine Übernahme aus dem Bereich der historischen Wahlforschung, in dem der Begriff der "Volkspartei" NSDAP zuerst geprägt wurde. Die Instrumentarien der historischen Wahlforschung mussten angesichts geringer Varianz in der Alterszusammensetzung der zu untersuchenden Gebiete fast zwangsläufig versagen.[504] Aber die - problematische - Begriffsbildung selbst wurde auch für den Bereich der Mitgliederstruktur als griffig angesehen und übernommen.

Unter den Autoren, die bisher den Generationen-Aspekt explizit aufgegriffen haben, ist insbesondere Kater zu nennen, der zwar einen "Kausalzusammenhang zwischen dem [...] Generationskonflikt [mit den Vätern der Nationalsozialisten - T.K.] [...] und dem heraufziehenden Nationalsozialismus" konstatiert, aber anscheinend mangels ausreichender empirischer Daten keine weitergehenden Schlüsse auf den Charakter der Partei zieht.[505] Ähnlich ist für Thamer die "Bewegung" "[...] in mancher Hinsicht [...] auch Ausdruck eines Generationenkonflikts. [...] Der jugendliche Charakter der faschistischen Bewegungen relativiert auch die scheinbar eindeutige Aussage ihrer sozialen und beruflichen Zugehörigkeit, denn viele der jugendlichen Mitglieder hatten ja noch keinen Platz im Berufsleben und in der Gesellschaft gefunden, so dass eben gerade nichtökonomische, immaterielle Motive für ihr politisches Engagement eine große Rolle spielten."[506] Peukert weist insbesondere auf den direkten Zusammenhang zwischen überproportionaler Jungerwachsenenarbeitslosigkeit und in gleichem Maße überproportionaler Vertretung dieser Altersgruppe in den Kampfbünden aller Weltanschauungsrichtungen hin.[507] Gerade die von Peukert thematisierten direkten und indirekten Zusammenhänge zwischen generationsbedingter Höhe der Arbeitslosigkeit und NSDAP-Mitgliedschaft stehen auch als Ergebnis dieser Untersuchung.

Die Situation im Kreis Bernburg Anfang der 30er Jahre und der Aufstieg der NSDAP kann - in Anlehnung an Heinsohn - auch als "youth bulge"-Phänomen beschrieben werden.[508] Die Geburtsjahrgänge 1893-1912, aus denen die NSDAP ihren Mitgliederkern rekrutierte, umfassten 1933 45 % aller männlichen Einwohner im Kreis. Diese "Jugendblase" von 20 Geburtsjahrgängen machte die NSDAP zu ihrem Instrument im Kampf um gesellschaftliche Positionen, um eine angemessene Geltung. Männer der ersten Lebenshälfte auf der Suche nach Positionen, darauf lässt sich die NSDAP auch nach 1933 noch reduzieren.[509]

*

Von der exakten sozialstrukturellen Verortung der NSDAP ist nicht zuletzt die Bewertung ihrer Nachwirkungen auf die politischen Systeme im Nachkriegsdeutschland abhängig. Es handelt sich hier in erster Linie um die Frage, welche Funktion in der langfristigen Entwicklung des Parteiensystems der NSDAP zuzuschreiben ist. Eine lagerübergreifende "Volkspartei" NSDAP hätte letztlich zwangsläufig die Grenzen zwischen den politischen Lagern erodiert und zur Schleifung der seit dem Kaiserreich existenten Lager beigetragen.[510] Demgegenüber wäre eine "nationale" bzw. "bürgerliche" Partei mit sehr spezieller sozialstruktureller Profilierung - wie die in dieser Untersuchung skizzierte "kleinbürgerlich-nationale Generationspartei" NSDAP - nur in der Lage gewesen, die Lagergrenzen zu verschieben, nicht aber, sie zu erodieren. Selbst 1939 noch spiegelt die Mitgliederstruktur der NSDAP lediglich die statistische Relation der beiden politischen (Wähler-)Lager des Jahres 1930. Daran wird deutlich, dass die NSDAP nur geringe Gewinne realisieren konnte. Insofern spricht einiges dagegen, dass eine solche Erosion der Lagergrenze stattgefunden hat. Auch lässt sich diese Frage im übrigen nicht aus der Momentaufnahme einer Mitgliederstatistik, sondern nur aus der Kenntnis der langfristigen historischen Entwicklung heraus beurteilen. Aus Sicht des hier untersuchten Kreises Bernburg ist festzustellen, dass sich 1945 die vor 1933 bestehenden politischen Lager erstaunlich schnell organisatorisch rekonstituierten und sich bis mindestens Anfang der 50er Jahre auch in Funktion befanden. Die Schleifung der Lagergrenzen sollte erst der SED in einem wahrscheinlich sehr viel längeren Prozess, als er sich aus der historischen Draufsicht darstellt, gelingen. In einer Untersuchung zu deren Mitgliederzusammensetzung wäre dann auch zu klären, ob die Befestigung der "Diktatur des Proletariats" mittels einer Massenpartei im Kreis Bernburg nach 1945 trotz oder wegen der zuvor exorbitant hohen Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Anhangsorganisationen möglich wurde.
In anderer - hypothetischer - Projektion ist die exakte Charakterisierung der NSDAP aber auch wichtig für den Fall, dass 1945 die Alliierten Deutschland nicht besetzt hätten. Eine "Volkspartei" NSDAP ließe ein deutlich geringeres Konfliktpotential und daraus folgernd auch deutlich geringere gesellschaftliche Transformationsmöglichkeiten erwarten als eine "Generationspartei" NSDAP.



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Teil B: Dokumentation

Inhalt

Der Datensatz der NSDAP-Mitglieder im Kreis Bernburg (1921-1945) - methodische Anmerkungen

Die Bevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 nach Berufsgruppen und Ortsgröße

Mandatsverteilung im Anhaltischen Landtag 1918-1932

Bericht des SA-Sturmführers Gerhard Boas über die Misshandlungen von SPD-Funktionären in Bernburg in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1933

Beschluss des NSDAP-Kreisgerichts Bernburg-Stadt gegen Hans Buch, Bernburg, 1935

Rechtfertigungsschreiben des ehemaligen Ortsgruppenleiters Bernburg-Wasserturm, Kurt Kleinau, an das Oberste Parteigericht der NSDAP 1939

Die Mitgliedschaft von im Jahre 1940 in der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg beschäftigten Angestellten in der NSDAP und in NS-Anhangsorganisationen

NSDAP-Sättigung in Bernburger Unternehmen und Verwaltungen 1944

Personalstatistik der Reichsbahndirektion Magdeburg per 15.10.1945

Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944

Statistische Kerndaten der NSDAP im Untersuchungsgebiet 1929-1944 (jeweils Jahresende, Ausgangsbasis 1929)

Mitgliederentwicklung (kumulativ) und nachgewiesene jährliche Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1929-1944

Anteil der Ortsgrößenklassen an der NSDAP-Gesamtmitgliedschaft im Untersuchungsgebiet 1929 bis 1944 (kumulativ)

Frauenanteil unter den NSDAP-Mitgliedern im Untersuchungsgebiet 1929 bis 1944 (kumulativ)

Durchschnittsalter der NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1929-1944 (kumulativ und verzerrungsbereinigt)

Mit Geburtsjahr im NSDAP-Datensatz erfasste Mitglieder (unbereinigt)

Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder unter den Beschäftigten der Reichsbahndirektion Magdeburg per 28.02.1946, geordnet nach Altersgruppen und Qualifikationsstufe

Anteil der Geburtsjahrgänge 1901 bis 1910 unter den in die NSDAP im Untersuchungsgebiet neu eintretenden Personen nach Eintrittsjahrgängen und sozialer Zugehörigkeit

Anteil der Kernjahrgänge an den jährlichen Neueintritten in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944

Soziale Zugehörigkeit der NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1929-1944 (kumulativ und verzerrungsbereinigt)



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Der Datensatz der NSDAP-Mitglieder im Kreis Bernburg (1921-1945) - methodische Anmerkungen

Die Analyse der NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg basiert auf einem Datensatz von 9.089 NSDAP-Mitgliedern, die im Kreis Bernburg von den ersten Anfängen der Partei bis 1945 nachgewiesen werden konnten. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung versucht die vorliegende Untersuchung damit, einen neuen methodischen Weg zu erschließen. Untersuchungen zur Mitgliederstruktur der NSDAP stützen sich üblicherweise entweder auf zufällige Datenfunde herausragender Qualität für eng umrissene Zeiträume oder auf für repräsentativ angesehene Stichprobenerhebungen, vorzugsweise aus den im Bundesarchiv Berlin (ehemals Berlin Document Center) in Teilen erhaltenen NSDAP-Mitgliederkarteien. Mit dem hier vorliegenden Datensatz wurde der - äußerst arbeitsaufwendige - Versuch unternommen, alle zu NSDAP-Mitgliedschaften in einem fest umrissenen Gebiet zu ermittelnden Angaben zu erfassen und quellenkritisch zusammenzuführen. Diese verdichteten und ständig miteinander abgeglichenen Angaben wurden aus nachfolgenden Quellenbeständen gewonnen (Auflistung in der Reihenfolge ihrer Bedeutung für die Studie):

a) im Zeitraum zwischen 1945 und 1948 für Zwecke der Entnazifizierung auf lokaler Ebene von den Polizeibehörden erstellte NSDAP-Mitgliederverzeichnisse und andere Materialien, die sich heute in Stadt-, Kreis- und Gemeindearchiven, im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg und dessen Abteilung Dessau sowie im Zwischenarchiv Hoppegarten des Bundesarchivs befinden;

b) Materialien des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin: ehemalige Regional- und Personen-Mitgliederkartei der NSDAP, Mitgliederkartei des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, Veränderungsmitteilungen des NSDAP-Gaues Magdeburg-Anhalt aus den 30er und 40er Jahren, Neueintrittslisten des NSDAP-Gaues Magdeburg-Anhalt in den 40er Jahren, Schriftverkehr mit der NSDAP-Ortsgruppe Bernburg 1925 ff., Parteikorrespondenz und Vorgänge der Parteigerichtsbarkeit;

c) ergänzende Quellen: Wahlakten (Kandidatenaufstellungen zu den Gemeinderatswahlen und Zustimmungsunterschriften), Wählerlisten, Einwohnerverzeichnisse, Adressbücher, Gefallenenlisten mit Vermerk der NSDAP-Mitgliedsnummer, lokale Zeitungen, Personalakten, Aufstellungen über gewerblich Beschäftigte in Bernburg 1939/40 und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zu diversen Zeitpunkten etc.[511]

Die Vielzahl genutzter Quellen führte dazu, dass der größte Teil der im Datensatz erfassten Mitglieder mehrfach verifiziert ist. Für mehr als ein Viertel der im Datensatz vertretenen Mitglieder liegt zudem die korrekte NSDAP-Mitgliedsnummer vor.

Es handelt sich bei den für die Erstellung des Datensatzes verwendeten Quellen in der Mehrzahl um datenschutzrechtlich relevante Archivalien, d. h. es liegt im Ermessen des jeweiligen Archivs, die gesetzlich vorgegebenen Schutzfristen zu verkürzen und sie somit der Forschung zugänglich zu machen. Erfreulicher- und dankenswerterweise haben - mit zwei Ausnahmen - alle staatlichen und kommunalen Archive im Untersuchungsgebiet von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und somit den ihnen mit den Archivgesetzen übertragenen Ermessensspielraum wissenschaftsfreundlich ausgeschritten. Die Solvay Deutschland GmbH hingegen verweigerte eine Einsichtnahme in ihr etliche relevante Quellen beinhaltendes Bernburger Werksarchiv.[512] Des weiteren sind auch - ungeachtet der allgemein für die Ermittlung des NSDAP-Mitgliederbestandes als sehr gut zu bezeichnenden Quellenlage - etliche Archivalienverluste zu beklagen, als deren Ursachen (von Fall zu Fall verschieden) Kriegs- und Nachkriegswirren, unqualifizierte Kassationen, nachträgliche Vertuschung von lokalen Skandalen, aber auch schlichter Aktendiebstahl von "interessierter Seite" anzunehmen sind. Das gilt nicht nur für Lokalarchive, sondern z. B. auch für die Universitäts- und Landesbibliothek Halle, wo nach 1945 - offensichtlich aus einer ideologischen Motivation heraus - der "Freiheitskampf", eine frühe Zeitung der Bernburger Nationalsozialisten, vernichtet worden ist. Am schwersten fällt freilich ins Gewicht, dass es keine überlieferten Bestände der NSDAP-Gauleitung Magdeburg-Anhalt gibt; die Existenz einer Überlieferung der NSDAP-Kreisleitung Bernburg war von vornherein nicht zu erwarten.

Die im Umfeld der Entnazifizierung erstellten NSDAP-Mitgliederlisten bzw. Erfassungskarteien in den Regional- und Lokalarchiven, denen die große Masse der verarbeiteten Daten entnommen wurde, beinhalten (in wechselnder Kombination) Angaben zu Name, Vorname, Geburtsjahr, Geburtsort, Wohnort, früherem Beruf (vor dem Wirksamwerden von Zwangsmaßnahmen), jetzigem Beruf (d. h. zum Zeitpunkt der Listenerstellung), früherer und jetziger Arbeitsstelle. Zeitgenössisch speisten sich die Angaben in diesen Listen aus zwei Quellen, zum einen aus den entsprechenden zeitgenössischen Fragebögen, deren wahrheitswidrige Ausfüllung unter (weitgehend wirksamer) Strafandrohung stand, zum anderen aus abgeschriebenen Original-Mitgliederkarteien, die allem Anschein nach noch in größerem Umfang verfügbar und wohl nur im Ausnahmefall vernichtet worden waren.[513] Die Chance, eine NSDAP-Mitgliedschaft nach 1945 den Untersuchungsbehörden gegenüber zu verbergen, war angesichts einer vor 1933 sehr starken Arbeiterbewegung und der kleinstädtisch-dörflichen Siedlungsstruktur sehr gering und im wesentlichen wohl nur für Umsiedler gegeben. Letztere aber wurden in diese Untersuchung nicht einbezogen. Insofern ist den Entnazifizierungsmaterialien ein hoher Wahrheitswert beizumessen.[514] Die nachstehende Abbildung zeigt die am häufigsten - v. a. im Bereich der Arbeitsämter - verwendete Form von Erfassungskarten für ehemalige Nationalsozialisten.[515]


Erfassungskarte für ehemalige Nationalsozialisten 1946 (Vorderseite)

Erfassungskarte für ehemalige Nationalsozialisten 1946 (Rückseite)

Die zu Beginn der Bearbeitung des Projektes in die Bestände des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin gesetzten hohen Erwartungen haben sich nur zu einem geringeren Teil erfüllt. Es hat sich gezeigt, dass die mit den ehemaligen BDC-Beständen vorhandene Überlieferung der Mitgliederkarteien der NSDAP zwar eine sehr gute und äußerst wichtige ergänzende Quelle für die Untersuchung der Zusammensetzung lokaler Mitgliedschaften der NSDAP darstellt, insgesamt den Mitgliederbestand der NSDAP jedoch nur verzerrt abbildet und zur alleinigen Quelle einer Untersuchung nicht taugt. Von der beabsichtigten Erstellung eines parallelen repräsentativen Datensatzes aus BDC-Quellen mußte daher frühzeitig Abstand genommen werden.

Insbesondere überlagern sich in der Nutzung der BDC-Karteien drei Problemfelder: die Unvollständigkeit des Bestandes, die nach 1945 aus pragmatischen Verfolgungserwägungen erfolgte Umstellung der ehemaligen Regionalkartei ("Blaue Kartei") von einer ehemals systematischen auf eine alphabetisch-phonetische Ordnung und die schon zeitgenössisch an vielen Stellen nachlässige Karteiführung. Die Probleme stellen sich im einzelnen wie folgt dar:

1. Die zentralen Mitgliederkarteien der NSDAP waren zum Zeitpunkt ihrer Erbeutung durch die US-Army 1945 schon nicht mehr vollständig, die Vernichtung hatte augenscheinlich bereits begonnen. Die ehemalige Regionalkartei soll aus diesen Gründen nur noch etwa 80 % des ehemaligen Bestandes enthalten, evtl. ist dieser Wert auch etwas niedriger anzusetzen. Die ehemalige NSDAP-Personenkartei enthält heute möglicherweise nur noch etwas weniger als die Hälfte aller jemals in die Partei eingetretenen Personen.

2. Ursprünglich besaß die NSDAP-Regionalkartei eine systematische Ordnung nach dem Schema Gau-Kreis-Ortsgruppe und war erst auf der Ebene der jeweiligen Ortsgruppe alphabetisch sortiert. Die nach 1945 im Interesse einer schnellen Auffindbarkeit von Einzelpersonen erfolgte Umstellung auf die jetzige alphabetisch-phonetische Ordnung macht jeden Versuch zunichte, in vertretbaren Arbeitszeiträumen große Datenmengen für bestimmte regionale NSDAP-Untergliederungen ermitteln zu wollen. Außerdem birgt auch die jetzige alphabetisch-phonetische Ordnung eine Reihe weiterer Fehlermöglichkeiten. So findet man beispielsweise "Schröter, Waldemar" nur unter "Schröder, Walter" oder auch "Ullmann, Heinz" unter "Uhlmann, Heinrich". Weiterhin ist auch von den seinerzeitigen Bearbeitern kein einheitliches Schema der phonetischen Zuordnung entwickelt worden, so dass verschiedene Ordnungsprinzipien innerhalb der Abschnitte des Alphabets nebeneinander stehen.

3. Die zeitgenössische Karteiführung war an vielen Stellen auf allen Organisationsebenen ungenau bis nachlässig; die Mitgliederkarteien stellen somit auch die Summe aller fehlerhaften und unterlassenen Meldevorgänge in der Informationskette Ortsgruppe - Kreisleitung - Gauleitung - Reichsleitung dar. Oft entsteht der Eindruck, dass Veränderungsmeldungen nur widerwillig und verspätet abgegeben und weitergeleitet wurden. So sind denn anderswo nachgewiesene und zwangsläufig zum Ortswechsel führende Versetzungen in den NSDAP-Mitgliederkarteien nicht widergespiegelt, Ummeldungen stimmen an etlichen Stellen nicht mit dem tatsächlichen Karriereverlauf überein.[516] Weitaus gewichtiger für die heutige Forschung ist jedoch, dass die noch in stärkerem Umfang überlieferte Regionalkartei zeitgenössisch augenscheinlich nicht mit der gleichen Sorgfalt gepflegt wurde wie die Personenkartei, d. h. Änderungen oftmals nur in der Personenkartei und nicht in der Regionalkartei vorgenommen wurden.[517] Diese Ungenauigkeiten in der Regionalkartei entwerten diesen großen Datenbestand für die Forschung deutlich. Auch ist die Regionalkartei definitiv nicht nach dem Bruttoprinzip geführt worden. Vielmehr wurden verstorbene, ausgetretene und ausgeschlossene Mitglieder aus der Regionalkartei entfernt - doch dies wiederum nicht durchgängig und sofort, sondern möglicherweise im Rahmen kampagnenhafter Karteibereinigungen.[518] Insbesondere für die Anfangszeit nach der Parteineugründung 1925 gibt es eine Häufung von Fehlstellen in der ehemaligen Regionalkartei, die - wenn man nicht Anhänger von Verschwörungstheorien ist - mit zeitweise schlechter Mitgliedererfassung, zeitgenössischer Bereinigung (am wahrscheinlichsten) oder Arbeitsüberlastung erklärt werden müssen. In anderen Fällen drängt sich wiederum der Verdacht auf, dass bei einem Wiedereintritt nach längerer Zeitspanne nicht die alte Karteikarte weiterbenutzt, sondern eine neue Karteikarte ohne Verweis auf frühere Mitgliedschaften angelegt wurde. Auch scheint es so, dass in einigen Fällen Mitgliederkarteikarten der Regionalkartei erst mit dem gemeldeten Todesfall wieder neu angelegt wurden; in der Personenkartei wiederum wurden bei etlichen Todesfällen erst die Karteikarten vernichtet und später ein erneuter Verweis auf die bestandene Mitgliedschaft angelegt. Anhand der ebenfalls ausgewerteten Veränderungsmitteilungen des Gaues Magdeburg-Anhalt aus den 40er Jahren ist ersichtlich, dass man diese an vielen Stellen nicht mehr in die Regionalkartei einarbeitete, d. h. Straßen-, Orts-, Namenswechsel (infolge Verheiratung) sowie auch Todesfälle nicht mehr nachtrug. Auch wurden Mitgliedsnummern falsch übermittelt sowie Wohnort und Ortsgruppe verwechselt. Dass die NSDAP, wie die meisten anderen Parteien auch, den Beruf des betr. Mitglieds nur anlässlich des Eintrittes und danach nicht mehr ermittelte, sei hier nur am Rande erwähnt, wie auch die Tatsache, dass Frauen nach der Verheiratung in den Karteien nicht mehr unter ihrem Geburtsnamen zu ermitteln sind. Es besteht angesichts dieser Ungenauigkeiten und Fehlstellen keine Möglichkeit, das Problem der Mitgliederfluktuation mittels der BDC-Karteien hinreichend bearbeiten zu können.
Alle auf Massenquellen ohne weitere Nachprüfung (BDC, Gauleitungsakten und dergleichen) beruhenden Studien müssen sich von vornherein mit der geringen Trennschärfe der Berufsbezeichnungen zufrieden geben und werden deshalb zwangsläufig ungenau. Am gravierendsten dürfte sich dies bei der Berufsbezeichnung "Kaufmann" auswirken. Dahinter können sich sowohl Händler jeder Größenordnung als auch kaufmännische Angestellte aller Hierarchiestufen oder gar mittelständische Unternehmer verbergen.[519] Ähnlich kann es sich mit der Berufsbezeichnung "Müller" verhalten, der im Kreis Bernburg neben der 'Normalform' Müllergeselle auch Mühlenbesitzer oder auch Arbeiter in der Salzmühle des Kaliwerkes Solvayhall gewesen sein kann. Auch Beschäftigte des öffentlichen Dienstes sind anhand der BDC-Mitgliederkarteien nur zu einem geringen Teil kenntlich zu machen. Eine kleinräumig aufgezogene Studie kann über Drittquellen diese Ungenauigkeiten weitestgehend ausräumen; bei sich auf ganz Deutschland erstreckenden mitgliederstatistischen Studien ist dies nicht möglich.

4. Die BDC-Quellen lassen keine Aussagen über die vor 1923 vorhandenen NSDAP-Mitgliedschaften im Untersuchungsgebiet zu; auch im Falle von nach Aufhebung des Parteiverbots 1925 wieder beigetretenen Mitgliedern wurde in den Mitgliederkarteien eine frühere Mitgliedschaft nicht aufgeführt.

In der Summe der vorstehend benannten Einschränkungen (1.-4.) lässt sich einschätzen, dass aus den Mitgliederkarteien des ehemaligen BDC gezogene Stichproben lediglich die Mitgliedschaft des Jahres 1944 widerspiegeln und demzufolge auch nur für 1944 annähernde Repräsentativität beanspruchen können.

Anhand des Dorfes Aderstedt (bei Bernburg) lassen sich die mit den BDC-Karteien bestehenden Probleme exemplarisch im Detail sehr gut nachvollziehen. In einem Jubiläumsartikel zum zehnjährigen Bestehen der NSDAP-Ortsgruppe Aderstedt benannte der "Anhalter Kurier" im Jahre 1935 13 dauerhaft ortsansässige Gründer der Ortsgruppe namentlich, hinzuzählen ist noch der schon 1926 wieder verzogene erste Ortsgruppenleiter.[520] Von diesen 14 Personen sind nur neun in der ehemaligen Regionalkartei nachzuweisen (= 64 %). Ein weiteres, bei Abfassung des o.g. Artikels 1935 schon längere Zeit verstorbenes Mitglied ließ sich in der Personenkartei auffinden.[521] Es fehlen somit in beiden Karteien a) zwei der drei bis 1935 schon verstorbenen Gründungsmitglieder, b) der Ortsgruppenleiter des Jahres 1925 und c) der in dem Jubiläumsartikel ausdrücklich benannte und bis dahin wohl einzige Träger des Goldenen Parteiabzeichens am Orte.[522] Darüber hinaus enthält die Karteikarte eines weiteren Gründungsmitglieds in der ehemaligen Regionalkartei einen Vermerk über einen Austritt 1931 ohne Wiedereintritt, in der Personenkartei wird dessen Wiedereintritt im Jahre 1933 jedoch vermerkt.

Anhand des Dorfes Unterwiederstedt - zwischen Sandersleben (Anhalt) und Hettstedt (Preußen) gelegen - ist es möglich, die Genauigkeit der BDC-Karteien in den 40er Jahren exemplarisch zu beurteilen. Mitte 1942 wurden die bis dahin der Ortsgruppe Sandersleben angehörenden Unterwiederstedter Mitglieder aus dieser - augenscheinlich wegen Überschreitens der 50-Mitglieder-Schwelle nach einer Eintrittswelle zum 1. Januar 1942 - herausgelöst. Wegen dieser Bildung einer neuen Ortsgruppe finden sich sämtliche 1942er Mitglieder Unterwiederstedts in den überlieferten Veränderungsmitteilungen des Gaues Magdeburg-Anhalt. Doch in der ehemaligen NSDAP-Regionalkartei sind lediglich 50 der 55 in den Veränderungsmitteilungen benannten Mitglieder nachzuweisen, ein weiteres Mitglied findet sich in der ehemaligen Personenkartei. Dieser mit insgesamt 7 % geringen Zahl an fehlenden Mitgliedern steht jedoch eine hohe Fehlerquote in den Angaben zu den Wohnadressen der betreffenden Personen gegenüber. Während die zum 1. Januar 1942 neu aufgenommenen Mitglieder sofort unter der Ortsgruppe Unterwiederstedt verbucht und auch ihre Wohnadressen richtig angegeben wurden, sind von dieser Fehlerhaftigkeit die Altmitglieder bis 1941 betroffen. Man versuchte zuerst, diese - zumindest in der Kartei - der benachbarten preußischen Ortsgruppe Oberwiederstedt zuzuordnen. Gleichzeitig wurde für alle diese Mitglieder einheitlich eine neue Wohnadresse "O." (= Oberwiederstedt) festgelegt und dieses Oberwiederstedt - auch wieder auf dem Papier - dem Gau Südhannover-Braunschweig zugeschlagen. Der Fehler der falschen Gauzuordnung wurde später bemerkt und korrigiert, die abstrusen Wohnadressen "O." für Unterwiederstedter Altmitglieder blieben jedoch in der Kartei unentdeckt und deshalb auch unverändert. Schon im Jahre 1933 ist für ein Unterwiederstedter Mitglied, das zuvor der Ortsgruppe Hettstedt angehörte und mit der Bildung der Ortsgruppe Sandersleben jetzt dieser zugeteilt wurde, eine analoge willkürliche Neufestlegung der Wohnadresse in "Sandersleben" festzustellen. Selbstredend hatte ein Wohnortswechsel von Unterwiederstedt nach Sandersleben auch in diesem Falle nicht stattgefunden.

Um zu verhindern, dass der für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung zusammengestellte NSDAP-Datensatz für den Kreis Bernburg die NSDAP-Mitgliedschaft vorwiegend aus der Sicht des Jahres 1944 widerspiegelt, wurden die unter c) erwähnten Quellen (Wahlunterlagen, Zeitungsberichterstattung, Gefallenenlisten etc.) erhoben. Insbesondere die Verarbeitung der Kandidatenlisten der NSDAP (einschließlich ihrer Vorläufer) zu den Gemeinderatswahlen und die dazugehörigen Zustimmungsunterschriften halfen, den Datensatz auch für den Zeitraum vor 1933 aussagefähig zu machen. Weitere Angaben zur konkreten Mitgliedschaft von Personen waren den Zeitungen zu entnehmen. "Der Mitteldeutsche" und der "Anhalter Kurier" (beide Bernburg) hoben seit 1933 "Pg.'s" besonders hervor, die sozialdemokratische "Volkswacht" ließ es sich bis zu ihrem Verbot 1933 angelegen sein, Nationalsozialisten auch namentlich zu benennen. Aus Wähler- und Einwohnerlisten und Adressbüchern schließlich wurden ergänzende Angaben zu Beruf und Geburtsjahr gewonnen.

Der Wert des in dieser Untersuchung angewandten methodischen Verfahrens ist unmittelbar vom Grad der mit dem NSDAP-Datensatz zu erzielenden Vollständigkeit und Repräsentativität abhängig. Bezüglich der Vollständigkeit kann davon ausgegangen werden, dass der NSDAP-Datensatz mehr als 80 % des ehemaligen Gesamtmitgliederbestandes im Untersuchungsgebiet umfasst. Im allgemeinen lässt sich eine solche Behauptung nur schwer verifizieren, da seitens der NSDAP-Untergliederungen zeitgenössisch keine Organisationsdaten veröffentlicht wurden; es war ihnen untersagt, ohne Genehmigung aus München eigene mitgliederstatistische Erhebungen zu veranlassen und vorhandene Statistiken außerhalb der Partei in Umlauf zu bringen.[523] Einzelaussagen bestätigen jedoch die weitgehende Vollständigkeit der gesammelten Daten. So gab der ehemalige Ortsgruppenleiter der Ortsgruppe Gerbitz im Entnazifizierungsverfahren 1948 an, die Ortsgruppe habe 1939/42 "ungefähr 36 Parteigenossen" umfasst.[524] Die im NSDAP-Datensatz vorhandene Anzahl von Personen bewegt sich für den benannten Zeitraum in genau dieser Größenordnung, wobei es einige Unklarheiten hinsichtlich des genauen Eintrittsdatums und eventuellen Ortswechsels gibt. Nach dieser Quelle wäre der Datensatz - auf das Dorf Gerbitz bezogen - als im wesentlichen vollständig anzusehen. Eine weitere Quelle, eine interne NSDAP-Mitgliederliste aus den Kaliwerken Solvayhall 1943, bestätigt den Befund der relativen Vollständigkeit. Fast alle der auf dieser Mitgliederliste aufgeführten Personen fanden sich in dem zum Zeitpunkt des Auffindens dieser Liste im wesentlichen schon fertiggestellten Datensatz wieder. Von den wenigen Mitgliedern, die im NSDAP-Datensatz nicht verzeichnet waren, muss (nach der bekannten Beschäftigtenrelation von Kreisangehörigen und Kreisfremden) der größte Teil als außerhalb des Kreises Bernburg wohnend vermutet werden.

Die Repräsentativität des NSDAP-Datensatzes ließe sich nur anhand exakter Überlieferungen der Einwohnermeldeämter und einzelner vollständiger Orts-Mitgliederlisten zu ausgewählten Stichtagen überprüfen. Solcherart Quellen liegen jedoch nicht vor. Generell sinkt jedoch - durch den mit diesem Datensatz gemachten Versuch der vollständigen Erfassung aller zur Verfügung stehenden Daten - mit zunehmender Datenmasse und deren kritischer Verarbeitung tendenziell auch die Möglichkeit statistischer Verzerrungen. Da dieser Datensatz mehr als 80 % der über längere Zeiträume im Untersuchungsgebiet wohnhaften NSDAP-Mitglieder umfasst, ist die mögliche Fehlerhaftigkeit hinsichtlich der unproportionalen Abbildung verschiedener Personengruppen von vornherein begrenzt. Gering unterrepräsentiert werden jene Personen sein, die weder im Kreis Bernburg eingetreten sind noch bei Kriegsende dort wohnten, sondern nur für eine kurze Zeit dort verweilten. So wurde z.B. das durchweg von außerhalb stammende und Bernburg auch relativ schnell wieder verlassende Personal der Euthanasie-"T4"-Aktion überhaupt nicht in den Datensatz aufgenommen. Das ist jedoch deshalb von minderer Relevanz, weil diese fluktuierenden Mitglieder, um statistische Verzerrungen zu vermeiden, nicht in die Auswertungen eingingen. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass die bis 1945 Gefallenen und Verstorbenen gering unterrepräsentiert sind. Allerdings ist ein sehr großer Teil der u. a. diese Mitgliederabgänge widerspiegelnden Veränderungsmitteilungen der 40er Jahre erhalten und konnte in den NSDAP-Datensatz eingearbeitet werden.

Im NSDAP-Datensatz wurden Angaben zu sämtlichen Orten des anhaltischen Kreises Bernburg erfasst; in die Auswertung einbezogen wurden jedoch nur jene Orte, die zum Kreis Bernburg in den Grenzen der Jahre 1946 bis 1950 gehörten.[525] Um Irritationen zu vermeiden wird dieses vor 1945 noch nicht bestehende administrative Gebilde in der Analyse der NSDAP-Mitgliedschaft durchgängig als "Untersuchungsgebiet" benannt. Die Maßnahme wurde einerseits nötig, um im zweiten Teil des Projektes eine territoriale Vergleichbarkeit mit den für die SED nur summarisch auf Kreisebene vorliegenden Angaben herstellen zu können,[526] andererseits wäre für die seinerzeit ausgegliederten Orte in der Summe auch nicht eine solche Quellendichte herzustellen gewesen, wie für die nach 1946 noch dem Kreis Bernburg angehörenden Orte.

Verzeichnis der im NSDAP-Datensatz verarbeiteten Quellen

Archivalische Quellen

Bundesarchiv Berlin, BDC, Mitgliederkarteien der NSDAP; BDC, Ortsgruppen-Korrespondenz Bernburg; BDC, "Gau Magdeburg-Anhalt der NSDAP: Namentlich zu meldende Änderungen" (3 Ordner); BDC, "Gau Magdeburg-Anhalt der NSDAP: Aufnahmeanträge (Namentliche Listen)" (2 Ordner); NS 26/215; NS 51, Dienststelle Bouhler, Nr. 204.

Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. K3 Ministerium des Innern, Nr. 1034, 1046, 1060, 1066, 1106, 1799; Rep. M 60 Reichsbahndirektion Magdeburg, FK, Teil 1, Nr. 63.

Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, IV/403/10+11; IV/403/274; IV/403/362; V/6/18/2; V/6/18/3; FDGB-Bezirksvorstand Halle, 5171.

Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Kreisverwaltung Bernburg Nr. 806; 810; 811; 813; 833; 839; 840; Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 446; 449; 587; 947; 797; 800; 801; 817-825; 832; 851; 857; Staatsministerium Dessau 3, Lit. H, Nr. 92; Deutsche Solvay-Werke, Nr. 355, 1122.

Stadtarchiv Bernburg 6/311; 6/430; 6/489; 6/659; 6/666; 6/667; 6/1079; 6/1285; 8/28; 8/205; 8/440; 8/511; 8/1440; 8/1653; 8/1668; 8/1680; 8/1681; 8/1740; 8/1800; Adressbücher der Stadt und des Landkreises Bernburg.

Kreisarchiv Bernburg, Aderstedt, Sozialismus Nr. 6; Aderstedt, Kapitalismus, Nr. 10, 15; Baalberge 14, 138, 142; Gröna, Nr. 58; Ilberstedt, Nr. 69, 109, 222; Leau, Nr. 5, 52, 72; Nienburg 4, 13; Peißen 13, 28; Plötzkau 30; Pobzig, Nr. 54, 60; Poley, Nr. 15, 25; Schackstedt 31; Wedlitz 7.

Euthanasie-Gedenkstätte Bernburg: Personalaufstellung Landesheilanstalt.

Gemeindearchiv Amesdorf, Wählerlisten Amesdorf und Warmsdorf 1946.

Stadtarchiv Dessau, OB 1383.

Gemeindearchiv Drohndorf, "Verzeichnis über NSDAP-Mitglieder und Mitgliederliste der KPD + SPD 1946"; "Einwohner 1900-1950".

Stadtarchiv Güsten, Nr. 307.

Verwaltungsgemeinschaft "Bördeblick" (Hecklingen), Stadtarchiv Hecklingen, "Registrierung der ehemaligen Mitglieder der NSDAP und Militaristen 1946"; "Säuberung der Verwaltung 1945/46".

Gemeindearchiv Hohenerxleben, "Statistisches Amt Bevölkerungsstatistik".

Stadtarchiv Nienburg/Saale, Findbuch 1, Nr. 811.

Gemeindearchiv Neundorf, B IV / 3; B IV / 12; B IV / 17; B IV / 53; C IV / 52; C IV / 112.

Gemeindearchiv Rathmannsdorf, 23; 29; 45.

Stadtarchiv Sandersleben, 341; 429.

Verwaltungsgemeinschaft "Wippertal" in Schackenthal, Gemeinde Schackenthal, "Akte betr. Wahlen 1923-1936"; Gemeinde Giersleben, "Protokolle aus den Sitzungen des Antifa-Blockausschusses 1946-1948".

Gedruckte Quellen

Adressbuch der Städte Staßfurt und Leopoldshall sowie folgender Orte: Hecklingen-Löderburg-Neundorf 1938/39, Staßfurt 1938.

Adreßbuch der Stadt Bernburg abgeschlossen am 12. April 1934 / nach dem Stande vom 15. April 1938, Bernburg 1934 / 1938.

Anhalter Kurier, Bernburg, 1931, 1933, 11./12.06.1938 (Festbeilage: "20 Jahre Kampf um Deutschlands Freiheit, Die Entwicklung der NSDAP. in Bernburg").

Anhaltische Bürgerzeitung (Güstener Zeitung) 12.10.1931.

Anzeiger für die Kreise Aschersleben Quedlinburg-Calbe-Mansfeld, Aschersleben, Oktober 1931.

Freiheit. Mitteldeutsche Tageszeitung (Ausgabe Bernburg), November 1947 - Januar 1948, Juni 1948.

Der Kalibergmann. Wochenschrift für ihre Gefolgschaftsangehörigen. Herausgegeben von der Wintershall Aktiengesellschaft, Kassel, 14-19 (1939-1944).

Der Mitteldeutsche, Bernburg, 1934, 1935, 1936, 1939, 1940.

Volkswacht, Bernburg, 1921-1933.

Görlitzer, A. (Hg.), Adreßbuch der nationalsozialistischen Volksvertreter, Berlin 1933.

Heimat-Kalender für die Alt-Bernburger Lande 1936, Bernburg 1935, S.30 f.

Offizielles Industrie- und Handelsadreßbuch des Mitteldeutschen Wirtschaftsgebietes, Erfurt 1929.

Reichsband. Adressenwerk der Dienststellen der NSDAP mit den angeschlossenen Verbänden des Staates, der Regierung-Behörden und der Berufsorganisationen in Kultur, Reichsnährstand, Gewerbliche Wirtschaft, Berlin o. J. (1939).

Der Wehrwolf, Halle/Saale 1924-1934.

Werkzeitschrift. Deutsche Solvay-Werke A.G. Bernburg. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Arbeitspädagogik im Einvernehmen mit der Deutschen Arbeitsfront, Bernburg, 1-7 (1934-1940).

Die Mitgliedschaft von Parteien wird in der Regel anhand bestimmter Sozialmerkmale beschrieben, als deren hauptsächliche 1) das Geschlecht, 2) das Alter, 3) der Beruf bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sozialschicht, 4) das Datum des Parteieintritts (in Verbindung mit anderen Kategorien), 5) die Funktionsinhabe in der Partei (in Verbindung mit anderen Kategorien), 6) die Religionszugehörigkeit, 7) die Gebürtigkeit (lokale bzw. regionale Herkunft), 8) die soziale Zugehörigkeit der Vorfahren (sozialer Aufsteiger/Absteiger) und 9) eine eventuelle vorherige Mitgliedschaft in anderen Parteien und angesehen werden können. Verwertbare Aussagen lassen sich dem für das Untersuchungsgebiet erstellten NSDAP-Datensatz in massenstatistischer Form nur für die unter 1) bis 5) aufgeführten Kategorien entnehmen. Zu den anderen Kategorien liegen Daten nicht in ausreichendem Maße vor. Im Falle der Religionszugehörigkeit kommt hinzu, dass die Bevölkerung des Kreises Bernburg zu neun Zehnteln protestantischer Kirchenangehörigkeit war und die Frage daher von untergeordneter Bedeutung ist.[527] Es fehlen weiterhin auch Hinweise darauf, dass die wenigen Katholiken evtl. eine überproportionale Rolle in der NSDAP gespielt haben könnten.

Die Zusammenstellung eines Datensatzes wie des vorliegenden aus sehr unterschiedlichen Quellen verlangt infolge der Zusammenführung beinahe zwangsläufig differierender Angaben zu denselben Personen ein Höchstmaß an Quellenkritik. In jedem einzelnen Falle ist die Frage zu beantworten, welche Angabe als wahr bzw. plausibel anzusehen ist. Es wurden daher alle differierenden Angaben erfasst und erst in einem späteren Arbeitsschritt bewertet, wobei die Auflösung mundartlicher Verschleifungen beim zeitgenössischen Diktat, z.B. "Jendrusch" statt "Gendrusch", "Klanert" statt "Glanert" oder "Kügelchenweg" statt "Kügelgenweg", noch eines der geringsten Probleme darstellte. Doch trotz der quellenkritischen Erarbeitungsweise mussten in der Auswertung der Daten einige - nachfolgend dargelegte - Zugeständnisse gemacht werden.

Die Angaben über das Alter der Mitglieder gehen bis auf sehr wenige Ausnahmen, in denen eine Angabe des Lebensalters auf den Geburtsjahrgang zurückgerechnet wurde, auf exakte Angaben über das Geburtsjahr zurück. Das genaue Datum der Geburt wurde nicht in die Berechnungen übernommen, weil es nur in einem Teil der Fälle in den Entnazifizierungslisten angegeben wurde. Für den äußerst selten auftretenden Fall, dass mehrere abweichende Angaben zum Geburtsjahrgang vorlagen, wurde die wahrscheinlichere bzw. die zeitlich erste Angabe zur Grundlage genommen.

Die Angaben über den jeweiligen Beruf differieren in sehr viel stärkerem Maße als die Altersangaben. Zum einen gilt es, zwischen den vor und nach Kriegsende 1945 ausgeübten Berufen zu unterscheiden (z.B. Justizinspektor/Tiefbauhelfer), zum anderen mussten die Berufe teilweise aus anderen Quellen ermittelt werden. Da innerhalb der Mitgliedschaftsdauer in vielen Fällen auch Karrierefortschritte zu verzeichnen waren, andererseits aber der genaue Zeitpunkt des Erreichens dieser Karrierestufen in der Regel nicht bekannt ist, konnte nur so gehandelt werden, dass für den Zeitraum ab 1933 die höchste vor 1945 innerhalb des Untersuchungsgebietes erreichte soziale Stellung zum Maßstab der Zuordnung zu den nachstehend vorgestellten Berufskategorien genommen wurde, für die davor liegenden Eintrittsjahrgänge ist ein genauerer Abgleich mit NSDAP-Mitgliederkarteien, Adressbüchern etc. erfolgt. Die der Analyse zugrundeliegenden Berufsangaben widerspiegeln also in einer Reihe von Fällen nicht die berufliche Stellung bei Parteieintritt, sondern jene späterer Jahre. Eine Verzerrung ist dadurch kaum zu erwarten, Karrierefortschritte vollzogen sich in der Regel innerhalb des gleichen Berufsfeldes und ändern daher in der Regel nichts an der Einstufung in die Berufskategorien dieser Untersuchung. Dieses Verfahren ist auch deshalb notwendig, weil die Berufsangaben in den Quellen in einer Reihe von Fällen eine zweifelsfreie Unterscheidung zwischen dem vor und dem nach Kriegsende ausgeübten Beruf nicht zulassen. Für den hier analysierten Personenkreis kann jedoch davon ausgegangen werden, dass infolge der einsetzenden Repressivmaßnahmen (für einen Großteil von ihnen auch dokumentiert) eine Herabsetzung in der gesellschaftlichen Stellung erfolgte, im konkreten also ehemalige Angestellte nach ihrer Entlassung jetzt Arbeitertätigkeiten verrichteten (sehr typisch: Holzfäller im Harz). Des weiteren sind Angaben über den Beruf bei Parteieintritt nur aus den NSDAP-Mitgliederkarteien im Bundesarchiv zu beziehen, was jedoch aus Gründen des zu bewältigenden Arbeitsaufwandes nur für den kleineren Teil der erfassten Personen erfolgte; im übrigen sind dort zu etlichen Personen aufgrund der oben benannten Fehlstellen auch keine Angaben verfügbar. Es ist im Falle von nicht identischen Mehrfachnennungen in Listen der Nachkriegszeit gleichfalls kaum möglich, den zur Zeit des Parteieintritts ausgeübten Beruf exakt zu benennen. Problematisch ist insgesamt, dass die Möglichkeit der Nachprüfung bzw. Ermittlung der Berufe anhand von Adressbüchern nur eingeschränkt besteht. Zum einen verzeichnen diese nur die "Haushaltsvorstände", d. h. Frauen nur im Ausnahmefall (z. B. bei Verwitwung) und in der Regel auch keine noch im elterlichen Haushalt lebenden unverheirateten männlichen Personen, zum anderen erschienen diese zuletzt 1938 (Stadt Bernburg) bzw. 1934 (Kreis Bernburg). Relevante Überlieferungen der Einwohnermeldeämter, die hier evtl. hätten Entlastung schaffen können, gibt es nicht. Sehr hilfreich für die Präzisierung der Angaben im NSDAP-Datensatz ist jedoch ein wiederum mit sehr hohem Arbeitsaufwand aus im Stadtarchiv Bernburg überlieferten Listen erstellter Datensatz von ca. 10.000 gewerblich Beschäftigten in der Stadt Bernburg 1940. Weiterhin sind kriegsbedingte Verzerrungen so weit als möglich herausgefiltert, was allerdings im Falle der schon für die Bedürfnisse der Rüstungsindustrie (Junkers-Werke) bzw. für den Ersatz von Verwaltungskräften angeworbenen, dienstverpflichteten bzw. ausgebildeten Jugendlichen und Frauen nur begrenzt möglich ist.

Bei Bestehen von Zweifeln, ob die jeweilige Tätigkeit im Arbeiter- oder im Angestelltenverhältnis ausgeübt wurde, erfolgte die Einstufung als Arbeiter. Sollten durch dieses Verfahren also Verfälschungen des Ergebnisses auftreten, so beeinflussen sie die Höhe des Angestelltenanteils negativ. Auch eventuell unerkannte, allein für die Zeit nach Kriegsende gültige Berufsbezeichnungen können den Angestelltenanteil zugunsten des Arbeiteranteils weiter vermindern. Lehrlinge eines Berufes werden der entsprechenden Sparte zugeordnet. Auf den Dörfern gab es durchaus häufig einen Wechsel zwischen industriellen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten (im Extremfall vom Schlosser zum Melker). In diesen Fällen wird wiederum die mit einem höheren Sozialstatus belegte industrielle Tätigkeit zum Maßstab der Einstufung genommen.

Zur Auswertung der Schichtzugehörigkeit wurden die Berufsangaben nach einem 21 Kategorien umfassenden Schema kodiert:

Kategorie 1 - Landarbeiter: Forstarbeiter, Gärtner, Geschirrführer, Gutszimmermann, Landarbeiter, landwirtschaftliche(r) Hilfskraft/Gehilfe, Melkermeister, Schafmeister, Schlepperführer, Schweinemeister, Treckerführer, Waldwärter, Wirtschaftsgehilfe.

Kategorie 2 - ungelernte Arbeiter: "Arbeiter", Arbeitsbursche, Bauarbeiter, Bierfahrer, Chemiearbeiter, Fabrikarbeiter, Handlanger, Molkereihelferin, Mühlarbeiter, Reiniger, Steinbrucharbeiter, Transportarbeiter.

Kategorie 3 - Hauspersonal und Dienstboten: Hausgehilfin, Portier, Reinmachefrau, Stütze, Wirtschafterin, Wirtschaftsgehilfe/in.

Kategorie 4 - Facharbeiter und Angelernte des Metallgewerbes: Bauschlosser, Bleilöter, Bleiwalzer, Bohrer, Bordmonteur, Büchsenmacher, Chirurgiemechaniker, Dreher, Elektroschweißer, Feinmechaniker, Flugzeugbauer/Metallflugzeugbauer, Flugzeugmechaniker, Flugzeugprüfer, Former, Gas-und Wasser-Installateur, Gelbgießer, Installateur, Klempner, Mechaniker, Metallschleifer, Metallwerker, Modelltischler, Monteur, Orthopädiemechaniker, Schiffbauer, Schlosser aller Art, Schmiede aller Art, Verzinker, Werkzeugmacher.

Kategorie 5 - Facharbeiter und Angelernte des Bau- und Holzgewerbes: Betonformer, Dachdecker, Eisenbieger, Flechter, Maler, Maurer, Ofensetzer, Schreiner, Steinsetzer, Straßenbauer, Stuckateur, Tischler, Zimmerer.

Kategorie 6 - Facharbeiter und Angelernte des polygraphischen Gewerbes: Buchdrucker, Buchbinder, Schriftsetzer, Stereotypeur.

Kategorie 7 - Bergleute.

Kategorie 8 - Facharbeiter und Angelernte anderer Berufe: Bäcker, Böttcher, Brauer, Boten (mit Ausnahme Bankboten), Büromaschinenmechaniker, Desinfektor, Elektroinstallateur/Elektriker, Elektroschlosser, Elektrotechniker, Feinmeßprüfer, Fleischer, Friseur/Friseuse, Fußpfleger, Glasmaler, Glasschleifer, Goldschmied, Hausmeister (ohne Schulen), Heizer (wenn nicht ausdrücklich als Lokheizer ausgewiesen), Kesselwärter, Koch, Konditor, Kraftfahrer, Kfz.-/Motoren/Autoschlosser, Kraftfahrzeughandwerker, Kutscher, Lagerist, Maschinist, Motorwärter, Mühlenarbeiter, Optiker, Pförtner, Photograph, Pumpenwärter, Sattler, Schiffer, Schneider, Schuhmacher, Schwachstrommonteur, Seilbahnbedienung, Steinhauer, Steinmetz, Stellmacher, Tapezierer, Taucher, Uhrmacher, Vorarbeiter, Wachmann, Weißnäherin, Werksfeuerwehrmann, Zahntechniker. Die Kategorie beinhaltet auch Fälle, in denen infolge Namensgleichheit eine Festlegung auf einen genauen Facharbeiterberuf nicht möglich war. Vor allem unter dieser Kategorie, wie auch unter den Kategorien 4, 5 und 6 dürfte sich ein nicht genau zu beziffernder Anteil von hier in handwerklichen Arbeiterberufen vermerkten Personen befinden, die tatsächlich Söhne von Handwerksmeistern, teilweise mit Aussicht auf spätere Übernahme des Geschäftes, waren.

Kategorie 9 - Arbeiter im öffentlichen Dienst (ungeachtet ihrer beruflichen Vorbildung): Arbeiter in städtischer und Kreis-Verwaltung (einschließlich städt. Boten) und Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg sowie Stadtwerke und Wasserbauverwaltung, Bahnarbeiter, Bahnwächter/wärter, Feldaufseher, städtischer Feuerwehrmann, Gepäckarbeiter, städtischer Nachtwächter, Posthelfer, Rangierer, Reichsbahnhelfer, Schulhausmeister/diener, Straßen/Chausseewärter, Telefonmechaniker, Telegraphen(bau)handwerker. Diese Kategorie repräsentiert nur die gesicherten Mindestanteile an Arbeitern im öffentlichen Dienst. Es kann sich z.B. unter einem als "Schlosser" bezeichneten NSDAP-Mitglied in Güsten durchaus ein Lokschlosser im dortigen Bahnwerk verbergen, ohne dass dies noch nachzuvollziehen wäre.

Kategorie 10 - Angestellte von Handel und Buchhaltung: Apothekenhelferin, Apotheker(in), Bankbeamter/angestellter, Bankbote, Buchhalter, Drogist, Generalagent, Geschäftsführer/leiter(in), Handlungsgehilfe, Kalkulator, Kassenbote, Kaufmann, kaufmännische(r) Angestellte(r), Korrespondent/in, Lagerverwalter, Lohnrechner/schreiber, Magazinverwalter, Mithelfende(r) im Geschäft, Prokurist, Rechnungsführer, Registrator, Registraturhelfer, Revisor, Leiter der Raiffeisenkasse, Reisender, Sparkassenassistent/sekretär, Verkäuferin, Versandleiter, Versicherungsinspektor, Versicherungsvertreter, Wiegemeister. Die hier vertretene Berufsbezeichnung "Kaufmann" lässt in dieser Form keinen Aufschluss darüber zu, ob es sich um einen Geschäftsinhaber oder um einen Angestellten handelt. Es wurde so vorgegangen, dass alle diejenigen, für die kein Nachweis über eine Selbständigkeit, ob über Entnazifizierungslisten oder über die Benennung im Adressbuch, vorhanden war, als angestellt bewertet wurden. Mit Apothekern und Drogisten wurde in der gleichen Weise verfahren. Die (wahrscheinlichen) Söhne von Geschäftsinhabern erscheinen in dieser Aufstellung jedoch weiterhin (unvermeidlich) als im Angestelltenstatus befindlich. Einige der als Kaufleute sich selbst bezeichnenden Personen stellten sich auch als kleine Fabrikanten heraus und wurden im Datensatz auch so verzeichnet. Für die Orte im Landkreis Bernburg ergaben sich diese Selektionsmöglichkeiten nicht durchgängig; es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass einige wenige der dort als Angestellte vermerkten Kaufleute tatsächlich Geschäftsinhaber waren.[528]

Kategorie 11 - Lehrer: Lehrer bis einschließlich Kreisschulrat, Berufsschuldirektor, Fremdsprachenlehrerin, Gewerbe(ober)lehrer, Gymnastiklehrerin, Handarbeitslehrerin, Handelsschuldirektor, Kriegsaushilfslehrerin, Schulamtsbewerber, Schüler der Lehrerbildungsanstalt, Werklehrer, Wirtschaftslehrer(in), wissenschaftlicher Lehrer, Lehrdiakon.

Kategorie 12 - Angestellte und Beamte im öffentlichen Dienst: alle Angestellten- und Beamten-Berufe von Post, Reichsbahn, Polizei, Feuerwehr, Justiz, Zoll, Steuer, Verwaltung, Reichswehr, Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg, Stadt- und Kreiskrankenhaus, Stadtwerke (Wasserwerk, Elektrizitätswerk), Technischem Überwachungs-Verein, Viehwirtschaftsverband Sachsen-Anhalt sowie Anhaltischer Versuchsstation, Abteilungsleiter, Anstaltssekretär, AOK-Buchhalterin, AOK-Verwaltungsinspektor, "Arbeitsamt", Bademeister, "Beamter", Berufsoffizier, Dienstanfänger/anwärter, Dr.-Berufsberater, DRK/Diakon/AOK/Gemeinde-Schwester/Helferin, DRK-Hauptführerin, Fürsorgerin, Gauanwärter, Geometer, Gesundheitspflegerin, Hafenobersekretär, Hallenmeister, Heilgehilfe, Krankenhaus-Obersekretär, (Kranken-)Kassenangestellter, Krankenpfleger, Krankenschwester, Kreisfürsorgerin, Landdienstführer, Landrat, Lazaretthelferin, Lokführer und -heizer (es wird unterstellt, dass es sich jeweils um öffentlich Bedienstete handelt und nicht um Beschäftigte des privaten Transportgewerbes), Museumsangestellter, Oberregierungsveterinärrat, Operationsassistent und Masseur, Posthalter, RAD-Führer, Reichsbankangestellter, Sachbearbeiter, staatlicher Revierförster, Stadtgartenmeister, Standartenführer, Straßenmeister, Strommeister, Telegraphenleitungsaufseher, Telegraphenoberwerkmeister, Telegraphist, Verkehrsinspektor, Vermessungsingenieur, Vermessungstechniker/sekretär, Wasserbauangestellter, Weichenwärter. Einige Aushilfsangestellte, die ihren ursprünglichen Beruf augenscheinlich nur infolge des Krieges aufgeben mussten, wurden unter dieser Kategorie nicht erfasst. Bürgermeister und Stadträte wurden nur dann dieser Kategorie zugeordnet, wenn keine andere Berufsbezeichnung zur Verfügung stand (d. h. das Amt in der Regel hauptamtlich ausgeübt wurde).

Kategorie 13 - landwirtschaftliche Angestellte: Brennmeister, Feldverwalter, Gutssekretärin, Hofverwalter, Jäger, landwirtschaftlicher Inspektor/Verwalter, Schmiedemeister.

Kategorie 14 - Werkmeister etc.: angestellte Handwerksmeister, Betriebsobermeister, Elektrowerkmeister, Fabrikmeister, Formermeister, Hilfsmeister, Lagermeister, Lehrmeister, Maschinenbetriebsleiter, Maschinenmeister, "Meister", Messerschmiedemeister, Molkereimeister, Montagemeister, (Mühlen-)Verlademeister, Obermeister, Schachtmeister, Schriftsetzermeister, Siedemeister, Speichermeister, Steinbruchmeister, Wasch- und Plättmeister, Werkstattleiter, Ziegelmeister.

Kategorie 15 - andere Angestelltenberufe: Abteilungsleiter, Analytiker, "Angestellter", Architekt (sofern nicht freiberuflich bzw. selbständig), Arzt-Sekretär, Aufseher, Aushilfsangestellte, Bauführer, Bautechniker, bautechnischer Sekretär, Bergtechniker, Bergvermessungstechniker, Betriebsassistent, Betriebsingenieur, Betriebsleiter, Betriebsprüfer, Betriebstechniker, Büroangestellte, Bürogehilfin, Bürovorsteher, chemisch-technische Assistentin, (Dipl.-)Chemiker, Chorsängerin, Dekorateur, Diakon, Diätassistentin, Flugbetriebsingenieur, Flugkapitän, Funker, Gewerbegehilfin (Ehefrau), Grubenbeamter, Grubenbetriebsführer, Heimleiter(in), Hochbautechniker, Hofaufseher, Hofmeister, Ingenieur (Bau-/Elektro-/Ober-/Dipl.-; sofern nichts anderes vermerkt als im Angestelltenverhältnis stehend angenommen), Jagdaufseher, Kanzleisekretär, Karteiführer, Kindergartenhelferin, Kindergärtnerin/pflegerin (die Einstufung erfolgte nicht unter der Rubrik der städtischen Angestellten, weil es offensichtlich Kindergärten verschiedener Rechtsformen gab und folglich nur ein Teil der Kindergärtnerinnen im öffentlichen Dienst beschäftigt war), Konstrukteur, Kontrolleur, Küchenmeister, Laborant/in, Laboratoriums-Vorsteher, Lademeister, Lager/Magazin/Materialienverwalter, Lagerführer, Lagerhalter, Lichtspiel/Kinovorführer, Luftschutz- und Werkschutzleiter, Magazinaufseher, Markscheider, Maschinenbetriebsführer, Maschinentechniker, Milchverteiler, Musiker (sofern selbständige Stellung nicht ausdrücklich vermerkt); Niederlagsleiter, Parteisekretär (DVP), Pfarrer, Platzmeister, Probenehmer, Prüfer, Prüfstellenleiter, Redakteur, Saatzuchtleiter, Schauspieler, Schreibhilfe, Schriftleiter(in), Sekretärin, Sprechstundenhilfe, Steiger, Stenotypistin, Steward, Techniker, technische Assistentin/Sachbearbeiterin, technischer Angestellter, technischer Betriebsführer, technischer Zeichner, Telefonbetriebswart, Telefonist, Terminbearbeiter, vermessungstechnischer Zeichner, Verwieger, Volontär, Werkschutzbeamter, Werkstattingenieur, Werkzeugausgeber, Wirtschaftsleiter(in), Zeichnungsverwalter.

Kategorie 16 - Handwerk und Gewerbe: selbst. Apotheker(-Dr.), Baumeister (hinter dieser Bezeichnung verbergen sich - wenn nichts anderes vermerkt - in der Regel Maurer- oder Zimmermeister), Bauunternehmer, Bewachungsinstitut, Buchdruckereibesitzer, selbst. Dekorationsmaler, Dipl.-Optiker, Fährmann, Gastwirt, Händler, Handelsmann, Handwerksmeister aller Berufe, Kantinenpächter, Klavierstimmer, Kraftfahrzeugmeister, Lichtspieltheaterbesitzer, Lotterieeinnehmer, Mühlenbesitzer, Schiffseigner, selbst. Handelsvertreter, Süßmoster, Viehkaufmann, Zahntechnikermeister. Eine weitere Aufschlüsselung dieser Kategorie in Handwerksmeister und Händler erscheint nicht praktikabel, da real oftmals eine Doppelfunktion bestand, z.B. in Gestalt eines Korbmachermeisters, der evtl. den größeren Umsatz mit dem angegliederten Spielwarengeschäft erzielte.

Kategorie 17 - Fabrikbesitzer und Direktoren: Bank-/Sparkassendirektor, Bankinhaber, Betriebsführer, Direktor, Industrieller, Molkereibesitzer, Molkereiverwalter/-leiter, Steinbruchbesitzer, Syndikus, technischer Direktor, Verleger, Verwaltungsdirektor. Sofern die (anzunehmende) Beschäftigtenzahl des Betriebes gegen eine Einstufung als "Fabrikant" sprach wurde der Betreffende als Inhaber eines Handwerksbetriebes (Kategorie 16) eingestuft.

Kategorie 18 - Landwirte und Gutsbesitzer: Bauer, Domänenpächter(in), Gärtnereibesitzer, Landwirt, Öbster.

Kategorie 19 - freie Berufe: Architekt, Arzt, Dentist, Diplom-Volkswirt, "Dr.", "Dr. jur.", Fotograf(in), Hebamme, Heilgymnastin, Hofprediger, Jurist, Klavierlehrer, Konzertsängerin, Kunstmaler, Molkereifachmann, selbständiger Musiker, "Professor", Rechtsanwalt, Rechtsberater, Schriftsteller, selbst. Jurist, selbständiger Ingenieur, Textilsachverständiger, Theater-Intendant, Theologe, Tierarzt, vereidigter selbständiger Bücherrevisor, wissenschaftlicher Sachverständiger.

Kategorie 20 - Schüler und Studenten.

Kategorie 0 - für die Zuordnung zu einer bestimmten Sozialschicht nicht relevante Angaben: Ehe/Hausfrau, Haustochter, Invalide, Lehrling (ohne genauere Spezifikation), Privatmann, Rentner, Witwe, keine Angabe. Unter dieser Kategorie wurden auch solche Fälle zusammengefasst, deren widersprüchliche Angaben keine sinnvolle Zuordnung mehr zuließen.

Die Darstellung der NSDAP-Sozialstruktur erfolgt auf der Basis der Summe der Kategorien 1 bis 20; die Kategorie 0 fließt korrekterweise nicht in die Berechnung ein und wird nur vergleichsweise erhoben ("männlicher Maßstab"). Dieses Verfahren versucht eine Verfälschung durch die zahlreichen quellenbedingten Ausfälle zu vermeiden. Doch auch ohne diese Ausfälle wäre bei einer Einbeziehung der irrelevanten Angaben das Geschlecht faktisch zu einer Berufskategorie erhoben worden - schließlich handelt es sich bei der Kategorie 0 zur knappen Hälfte um berufslose Frauen. Tatsächlich tritt auch bei dem hier gewählten Verfahren eine Verfälschung des Ergebnisses auf, doch ist diese bei weitem geringer.

Aussagen über die Zeiten von Arbeitslosigkeit sind aufgrund fehlenden statistisch verwertbaren Quellenmaterials für größere Gruppen der Mitgliedschaft nicht zu treffen.

Auch die Daten über den Parteieintritt basieren wiederum nur auf dem jeweiligen Eintrittsjahr, nicht jedoch auf dem konkreten Datum; die Mehrzahl der zu erlangenden Angaben enthält dieses einerseits nicht, andererseits wurden in den 30er und 40er Jahren die Eintritte formal auf wenige Eintrittsdaten pro Jahr festgelegt (z.B. 20. April bei Aufnahme der bisherigen HJ- und BDM-Führerschaft). In der Auswertung des Datensatzes können weiterhin durch den alleinigen Bezug auf das Geburtsjahr - wie bei den Altersangaben - geringe Ungenauigkeiten entstanden sein. Im allgemeinen wäre mit einer Erhebung des konkreten Datums der Antragstellung eine größere Genauigkeit zu erzielen, doch steht dieses nicht durchgängig zur Verfügung bzw. es könnte nur mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand in der ehemaligen NSDAP-Mitgliederkartei ermittelt werden. Im übrigen würde es sich auch hier jeweils nur um die Termine der bestätigten Antragstellung handeln; vorherige informelle Vorstöße, auf lokaler Ebene zurückgewiesene Anträge, automatische Zurückweisung durch die Aufnahmesperre nach 1933 etc. blieben nach wie vor unerkannt.

Als Parteieintritt bewertet wird der Ersteintritt in die NSDAP oder in eine in ihrer Organisationskontinuität stehende Vorläuferorganisation. Nachfolgende Austritte, Ausschlüsse, Wiedereintritte sind - soweit dokumentiert - im Datensatz zwar erfasst, finden in der Auswertung aber keine Berücksichtigung. Aussagen über die Fluktuation der Mitgliedschaft sind deshalb nicht möglich. So bleiben denn möglicherweise (jedoch von Ort zu Ort verschieden) auch die Personen tendenziell schlechter im Datensatz vertreten, die 1945 schon verstorben, gefallen oder verzogen waren, des weiteren auch Kriegsgefangene, wieder Ausgetretene bzw. Ausgeschlossene. Ist das Eintrittsdatum nicht bekannt, so wird die erstmalige öffentliche 'Auffälligkeit' in der Betätigung für die NSDAP als 'Eintrittsdatum' festgesetzt. In einigen Fällen können dadurch wieder geringe Ungenauigkeiten entstehen, dass das tatsächliche Eintrittsdatum u. U. noch früher lag als hier festgesetzt. Des weiteren werden auch verbale Angaben (z.B. "Alter Kämpfer", "Goldenes Parteiabzeichen" etc.) in fundierte Schätzungen des Parteieintritts umgesetzt. In einer Vielzahl von Fällen kann das Eintrittsjahr außerdem anhand der fortlaufend vergebenen NSDAP-Mitgliedsnummern nachträglich ermittelt werden. Kandidaturen auf der NSDAP-Liste zu Gemeinderatswahlen werden als Mitgliedschaft spätestens zu diesem Zeitpunkt bewertet. Die Zustimmungsunterschriften für die NSDAP-Listen leistenden Personen werden dagegen nur dann als NSDAP-Mitglieder bewertet, wenn dies in der NSDAP-Mitgliederkartei oder anderen Quellen auch zu verifizieren ist. Wenn für eine Person zwei Angaben zum Eintrittsdatum vorlagen, so findet - bei Gleichrangigkeit der Quellen - der frühestmögliche Nachweis Verwendung. Im Zweifelsfalle wird für den Zeitraum seit Beginn der 30er Jahre den BDC-Angaben eine leicht höhere Wertigkeit beigemessen. Nachgenannte Verbalaussagen im Datensatz sind wie folgt in numerische Werte umgesetzt: "x oder früher": x; "vor x": x-1; "nach x": x+1; "weit/deutlich vor x": x-5. Personen, die in Quellen als NSDAP-Mitglieder angegeben wurden und für die jedoch keine Angabe über das Eintrittsjahr vorliegt, finden sich zwangsläufig in einer besonderen Kategorie zusammengefasst. Nicht in die Auswertung aufgenommen sind Personen, über deren Mitgliedschaft es aufgrund auch nicht anderweitig zu verifizierender ungenauer Angaben Zweifel gibt.

Es würde nahe liegen, das von Mühlberger in seiner Studie über die soziale Zusammensetzung der NSDAP vor 1933 aufgestellte Schema auch auf die hier vorliegende Arbeit anzuwenden.[529] Doch zeigt es sich, dass dieses Vorgehen mit einem deutlichen Informationsverlust einhergehen würde. Eine parallele Kodierung und Auszählung ist angesichts des hohen Zeitaufwandes nicht sinnvoll. Insbesondere ist an Mühlberger zu kritisieren:

    a) die Hinzurechnung der Fälle ohne Berufsangabe[530] zur Basis, was bei dem hier zusammengestellten Datensatz zu Ausfällen von etwa einem Drittel aller Fälle führen und somit eine starke Verzerrung darstellen würde;
    b) das geringe Profil der Kategorien, z. B. in der Mühlbergerschen "Subgroup 9", in der sich sowohl Bahnarbeiter als auch Lehrer (diese wiederum unter Ausschluss der Gymnasiallehrer) einzig aufgrund ihrer Beschäftigung im öffentlichen Dienst wiederfinden. Es stellt sich die Frage, welche grundlegenden Übereinstimmungen in Sozialstatus und Lebensweise Bahnarbeiter und Lehrer verbinden.






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Die Bevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 nach Berufsgruppen und Ortsgröße [531]

 
Bevölkerung [532]
Erwerbspersonen nach der Stellung im Beruf (in %, jeweils mit ihren Angehörigen ohne Hauptberuf) [533]

Selbständige
Mithelfende Familien- angehörige
Beamte und Angestellte
Beamte
Angestellte
Arbeiter
Bernburg
40.732
9
2
26
9
18
62
„5 Orte“
[534]
23.856
10
4
15
8
7
71
„Dörfer“
[535]
24.109
9
8
7
3
4
76
Gesamt
88.697
9
4
18
7
11
68




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Mandatsverteilung im Anhaltischen Landtag 1918-1932 nach den Landtagswahlen vom:

   
Dez.
1918
Juni
1920
Juni
1924
Nov.
1924
Mai
1928
April
1932

USPD

 
6
 
 
 
 

KPD

 
 
4
2
3
3

SPD

22
13
13
15
15
12

DDP (DStP)

12
6
1
3
2
1

Mieterschutz, Pachtschutz und Bodenreform

 
 
1
1
 
 

Bürgerliche Volksgemeinschaft (nur Nov.1924)

 
 
 
14
 
 

DVP

 
5
6
 
6
2

Hausbesitz (Stadt und Land) (Anhaltischer Haus- und Grundbesitz)

 
 
1
 
2
1

Hausbesitz und Gewerbe

 
 
1
 
 
 

Reichspartei des deutschen Mittelstandes

 
 
 
 
1
 

DNVP

2
6
4
 
2
2

Landbund

 
 
3
 
4
 

Deutschvölkische

 
 
2
 
 
 

Nationale Freiheitspartei

 
 
 
1
 
 

NSDAP

 
 
 
 
1
15

Gesamt

36
36
36
36
36
36




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Bericht des SA-Sturmführers Gerhard Boas über die Misshandlungen von SPD-Funktionären in Bernburg in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1933[536]

"Plötzkau/Saale, den 23. Juli 1933

 

Titl.
SA-Gruppe Mitte,
z.Hd. des Gruppenführers Pg. Schragmüller

 

Magdeburg

 

Antwortlich Ihrer Aufforderung, mein Urlaubsgesuch an die Standarte 93 unter Umgehung des Dienstweges ausführlich zu begründen, teile ich Ihnen mit, dass es nach dem Fortgang des Sturmbannführers Hauptmann v. Bothmer keine Ehre mehr ist, Angehöriger des Sturmbannes VIII/93 zu sein. Unter der Leitung des jetzigen Sturmbannführers Kautz sind Zustände eingetreten, die einfach jeder Beschreibung spotten. Ich beziehe mich auf die Befehle der Obersten SA-Führung sowie Ihre Gruppenbefehle, wonach willkürliche Maßnahmen und eigenmächtige Aktionen der SA strengstens untersagt sind.
Die Tatsachen innerhalb des Sturmbannes VIII/93 beweisen das Gegenteil. Es würde zu weit führen., die Disziplinlosigkeit einzelner SA-Einheiten sowie die Uebergriffe der Sturmbannleitung gesondert aufzuführen und dürfte dies Gegenstand einer eingehenden Untersuchung sein. Ich beschränke mich mit dem Heutigen auf ein Schulbeispiel, welches mich veranlasst hat, mein Urlaubsgesuch einzureichen. Es sind dies die Vorgänge bei der Verhaftung der ehemaligen SPD-Funktionäre in der Nacht v. 24.-25. Juni 1933 und bin bereit, für die nachstehenden Schilderungen meine eidesstattliche Versicherung abzugeben.
Am Sonnabend den 24. Juni cr. abends gegen 10 Uhr, erhielt ich durch den Sturmbannführer Kautz persönlich den Befehl, in meinem Sturmbezirk 76/93 sämtliche ehemaligen SPD-Funktionäre zu verhaften und dieselben in Bernburg dem Sturmbann im Hohenzollern-Lokal abzuliefern. Ich nahm darauf ca. 20 Mann in Schutzhaft und transportierte diese nachts gegen 2 Uhr mit einem Lastwagen nach Bernburg. Bei der Ablieferung im Hohenzollernlokal traf ich auf Zustände, die mich im Interesse der von mir eingelieferten Leute zwangen, bis zu deren Vernehmung im Hohenzollernpark zu bleiben. Ich bin nun Zeuge folgender Vorgänge gewesen. Im Hohenzollern waren bereits ca. 100 Häftlinge vorhanden, die einzeln von dem Sturmbannführer Kautz und dem [NSDAP-]Kreisleiter Wienecke vernommen wurden. Die 'Vernehmung' vollzog sich in der Form, dass die Häftlinge bereits auf dem Weg zum Vernehmungszimmer von einem sich im Korridor befindlichen führerlosen SA-Trupp auf das viehischste misshandelt wurden. Die Leute wurden mit Schulterriemen und dergleichen derartig geschlagen, dass sie schon blutig in das Vernehmungszimmer gelangten.[537] Ich selbst habe die weitere Mißhandlung eines Häftlings, der am Boden lag und den man mit den Füßen bearbeitete, in das Gesicht trat usw., verhindert. - Im Vernehmungszimmer angelangt, übertrafen sich der Sturmbannführer Kautz und der Kreisleiter Wienecke in der Mißhandlung der Häftlinge. - Die Leute erhielten von den Genannten Faustschläge in das Gesicht und wurden anschliessend über einen Tisch gezogen, um von hierzu beauftragten SA-Leuten mit Gummiknüppeln bestialisch, teilweise völlig entkleidet bis zur Besinnungslosigkeit geschlagen zu werden. Es sind aus SA-Kreisen Zeugen vorhanden, dass bei verschiedenen Misshandelten der Puls ausgesetzt hatte. Die Häftlinge wurden wiederholt mit einer ca. 2 Mtr. langen Schlinge um den Hals an den Vernehmungstisch gezerrt und zwecks Erpressung von Geständnissen mit dem Messer bedroht. - Ich bin Zeuge dieser widerlichen Vorgänge bis gegen 6 Uhr morgens gewesen und habe festgestellt, dass diese Art Vernehmung nicht den geringsten positiven Erfolg gehabt hatte. - Die grosse Zahl der Verletzten ist durch einen Sanitätstruppführer verbunden worden, und hat dieser ausgesagt, dass am anderen Morgen bei der Ablieferung der Häftlinge an die Polizei, auf Befehl des Sturmbannführer Kautz sämtliche Verbände abgerissen werden und durch unauffälligeres Heftpflaster ersetzt werden mussten. Die teilweise schweren Verletzungen werden durch den Standartenarzt Dr. med. Florie, sowie durch andere Zeugen bestätigt. - Die Bernburger Polizei ist diesen Vorgängen gegenüber machtlos, da sich der Sturmbann VIII/93 über die Staatsautorität nachweisbar hinwegsetzt.
Die vorstehend geschilderten Tatsachen haben nicht nur in der Civilbevölkerung Bernburgs grösste Empörung hervorgerufen, sondern gefährden auch in unseren eigenen Reihen schwer das Vertrauen zu unserer Bewegung. So ist über diese Vorfälle durch die nationalsozialistische Landtagsfraktion Protest bei der Anh. Regierung erhoben worden. Desgleichen laufen von verschiedenen anderen Seiten bei höheren Dienststellen ebenfalls Beschwerden, zumal Erfahrungsgemäss bei der Standarte der Untergruppe alle Eingaben von selbst schwerwiegender Bedeutung ohne Beachtung bleiben. Meines Wissens sollten die Ereignisse von Bernburg unter Namensnennung im Strassburger Sender verbreitet worden sein. -
Ich bitte mein Urteil in dieser Angelegenheit als rein objektiv gegeben zu betrachten, da ich persönlich als ein im freien Beruf stehender Landwirt bei unserer Bewegung nichts zu gewinnen und zu verlieren habe.
Seit Frühjahr 1931 Sturmführer der SA habe ich mich aus reinem Idealismus für unsere herrliche Bewegung eingesetzt, wie ich als Einjährig-Kriegsfreiwilliger von 1914/18 als Frontsoldat für mein Vaterland eingetreten bin. - Ich glaube noch Ideale zu besitzen und kann nich[t] zusehen, wie das Ansehen unserer Bewegung von politisch unreifen, jungen Menschen in den Dreck getreten wird. Ich bin daher auch bereit, die letzten Konsequenzen zu ziehen und wenn nötig, das Braunhemd abzulegen. Da ich Gelegenheit habe, mit unserem obersten Führer Adolf Hitler auf privatem Wege zusammenzukommen, bitte ich um Ihren Rat, ob Sie es für richtig halten, die vorerwähnten Zustände der höchsten Stelle zu unterbreiten.

 

Mit Hitler - Heil,
gez. Boas,
Sturmführer 76/93
z.Zt. beurlaubt."[538]





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Beschluss des NSDAP-Kreisgerichts Bernburg-Stadt gegen Hans Buch, Bernburg, 1935
[538a]

Beschluß

In der Untersuchungssache gegen den Pg Kaufmann Hans Buch in Bernburg Friedrichstr 27 geb. am 28.12.1903 in Bernburg Mitglied seit 1. Mai 1933 Mitgliedsnummer 2 049 226 hat das Kreisgericht der NSDAP Bernburg Stadt folgenden Beschluß gefaßt:
Der Angeschuldigte Pg Hans Buch in Bernburg ist des Verstoßes gegen § 4 Abs 2 b der Satzung schuldig.
Das Kreisgericht beantragt unter Annahme mildernder Umstände die Erteilung einer Verwarnung.
Zugleich wird dem Angeschuldigten die Fähigkeit ein Parteiamt zu bekleiden auf die Dauer von 2 -zwei- Jahren ab Rechtkraft dieses Beschlusses aberkannt.
Gegen diesen Beschluß ist innerhalb einer Frist von acht tagen vom Tage der Zustellung ab gerechnet. Beschwerde zum Gaugericht Magdeburg-Anhalt in Dessau zulässig, die Beschwerde wäre beim Kreisgericht einzureichen und innerhlab der Frist von acht Tagen zu begründen.
	Gründe.
Der Angeschuldigte gibt zu, im März 1934 mit dem Juden Gärtner zusammen im Restaurant Frohne in Bernburg gesessen zu haben. Zu seiner Entschuldigung führt er an, daß Gärtner sein Mitgesellschafter in seinem unter der Firma Gärtner & Co betriebenen Getreidegeschäft sei, und daß ein Hallenser Pg ihn an den Tisch gebeten habe.
Wenn auch damals im März 1934 die spätere Anordnung des Stellvertreters des Führers vom 16.8.34 noch nicht bekannt gegeben war, so ist dies ohne Bedeutung, sie enthält kein neues Recht. Jeder Nationalsozialist muß wissen, wie die Partei zum Judentum steht und welchen Rassestandpunkt die Partei vertritt. Von jedem Nationalsozialisten muß erwartet werden, daß er in der Öffentlichkeit nicht mit den Totfeinden seiner Bewegung sich zeigt. Wenn Pg Buch dennoch mit Gärtner sich an einen Tisch setzte, so verstieß er damit gegen § 4 Abs 2 b der Satzung, sein Handeln war ein Handeln wider die Bestrebungen der NSDAP.
 
An sich hätte Pg Buch den Ausschluß aus der NSDAP verwirkt. Wenn das Kreisgericht ihm mildernde Umstände zugebilligt hat, so ist es nur deshalb geschehen, weil die Anordnung vom 16.8.34 erst später ergangen ist, weil der Pg Kleinfeldt, der an dem frgl Abend ebenfalls mit Gärtner zusammen gesessen hat, auch nur mit einem Verweis bestraft ist, und weil des Kreisgericht noch nicht die Hoffnung aufgeben will, daß er, nachdem der Angeschuldigte in der Hauptverhandlung eingehend über den Rassestandpunkt der Partei belehrt worden ist, die in der NSDAP herrschenden prinzipiellen Fragen verstehen wird.
Da aber die von dem Angeschuldigten in der Verhandlung zum Ausdruck gebrachten Anschauungen über Juden - er schätze den Juden Gärtner als Mensch sehr, er sei ein anständiger Mensch und Frontkämpfer - ein Verständnis der Rassefragen vermissen läßt, da er es ferner im Jahre 1934 es verabsäumt hat, den Judennamen aus der Firma zu entfernen und die Möglichkeit zu benutzen, den Juden Gärtner aus der Firma zu entfernen, sodaß das Gesellschaftsverhältnis bis 1944 verlängert ist, muß ihm die Fähigkeit ein Amt in der NSDAP zu bekleiden, auf die Dauer von zwei Jahren aberkannt werden. Von einem Führer in der Partei muß erwartet werden daß er die Anschauungen in Rassefragen teilt und befolgt. Solange aber sein Gesellschaftsverhältnis mit dem Juden Gärtner besteht, ist es unmöglich, dem Angeschuldigten ein Amt anzuvertrauen Glaubt er aber, das Gesellschaftsverhältnis innerhalb der nächsten 2 Jahre nicht lösen zu können, so würden wir ihm dringend raten, die Folgerungen zu ziehen und seinen Austritt aus der NSDAP zu erklären. Das Kreisgericht hat große Zweifel, ob er angesichts der von ihm inder Hauptverhandlung ausgesprochenen Anschauungen tatsächlich, die von einem Nationalsozialisten als selbstverständlich zu erwartende Stellungnahme gegenüber dem Judentum vertreten wird. Es muß von jedem Pg erwartet werden, daß sein Bekenntnis zum Nationalsozialismus nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, sondern innere Überzeugung, nach der er auch handelt.
Bernburg, den 21 März 1935

Beisitzer				Vorsitzender				Beisitzer
gez Bornemann			gez P. Körber				gez N Söhns




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Rechtfertigungsschreiben des ehemaligen Ortsgruppenleiters Bernburg-Wasserturm, Kurt Kleinau, an das Oberste Parteigericht der NSDAP 1939[539]

"Begründung meiner Berufung gegen das Urteil des Gaugerichts der NSDAP - Gau - Magdeburg-Anhalt vom 22.4.1939.

Am 1. November 1931 in die Partei eingetreten und unter der Mitgliedsnummer 680 964 geführt, habe ich vom ersten Tage an für die Partei, für unser Vaterland und gegen alles Zersetzende, gegen alle Feinde unserer Weltanschauung gekämpft. - 14 Tage nach meinem Eintritt war ich SA-Mann und hier habe ich mich, so können alle meine damaligen Kameraden, angefangen von unserem Sturmführer Freiherrn v. Bothmer bezeugen, Tag um Tag und manche Nacht für unsere Idee eingesetzt. - Ich wohnte damals und wohne noch heute in einer ausgesprochenen Arbeitergegend. Was das für mich damals bedeutete brauch ich nicht zu schildern. - Ich weiß jedoch auch heute noch: Der Haß der ganzen Gegend war grenzenlos! - Bald war das "Nazischwein" an allen Ecken bekannt und meine Familie wurde mehr und mehr gemieden, meine Frau angespuckt und bedroht. - Furchtbare Kämpfe mit der eigenen Frau um den Einsatz in der Partei waren die Folge.
Dennoch ließ ich mich nicht abhalten, jeden Dienst ausnahmslos mitzumachen, Saalschutz in und außer Bernburg zu stellen, in Kellern und Sälen zu kampieren - und Frau und Kinder in Angst allein zu Haus zu lassen!
Im November 1932 meldete ich mich, da dringendst noch ein Zellenleiter in meiner Wohngegend gesucht wurde als erster und einziger aus meinem Sturm freiwillig, ohne zunächst zu wissen, was mit diesem Amt verbunden war. - Bald mußte ich erkennen, daß SA-Dienst und der Dienst in der Politischen Leitung nicht ohne gegenseitige Störung vorgenommen werden konnte. Ich ließ mich deshalb von der SA beurlauben, da ich wußte, wie wichtig die Politische Betreuung der Partei und Volksgenossen wurde. - Wie oft mußten wir uns nun vor rotem Gesindel in Acht nehmen. - Bei einer Klebestreife erhielt ein Kamerad von mir - dicht bei mir - einen Schlag über den Kopf - etwas später hatten wir einen schweren Überfall in der hiesigen Breiten Straße. - Als Zellenleiter meiner Gegend übernahm ich u. a. dreimal die Aufgabe der Partei, als Beisitzer-, Vorsteher- Stellvertreter u. Schriftführer bei den damaligen Wahlen mit den anderen Parteien zusammen. zu arbeiten.
Am 15. März 1934 wurde ich dann bei der Neu-Einteilung der hiesigen Ortsgruppen zum Ortsgruppenleiter ernannt. 5 Jahre bin ich gerade jetzt ein Ortsgruppenleiter gewesen, der nicht nur das getan hat, was man von ihm verlangte, sondern darüber hinaus so Manches immer wieder freiwillig tat.
Bis vor etwa 1/2 Jahr habe ich stets an 5 Tagen der Woche - außer Sonnabends - meine abendlichen Sprechstunden gehalten, u. zwar oft 3 Stunden und mehr. - Was das für mich als angestellten Reisevertreter bedeutet hat, das können nur Wenige ermessen! - Wie oft bin ich gefragt worden: "Ja, wie machst du das nur?!" Dabei waren meine Reisen meist recht weit - Immer und immer wieder habe ich mein Fahrrad mitgenommen, um ja einerseits das geschäftliche Pensum zu schaffen, andererseits um jedoch auf jeden Fall des abends wieder daheim, d. h. besser gesagt: in der Geschäftsstelle zu sein. - Wie oft habe ich mich wahrhaft abgehetzt, sodaß der Schweiß noch spät abends nicht weichen wollte! - Und dann - mit ach so schnellem Essen hin zur Geschäftsstelle. - Das letzte i-Tüpfelchen durfte nicht vergessen werden! Schulung selbst in jeder Woche einmal und dazu immer wieder gewappnet sein! - Oft - nach der Schulung, wenn alle anderen Kameraden schon beim Bier saßen, arbeitete ich noch allein. - Wie selten habe ich mich dann doch noch zu den bittenden Kameraden gesetzt - selbst dann oft fix und fertig - um schließlich - einen Apfelmost - ein Karamelbier oder eine Tasse Kaffee - (ganz selten ein Glas Bier) - mitzutrinken. - Lieber gab ich oft für die durstigen Kehlen der Kameraden eine Lage, ehe ich mir die bitter notwendige Nachtruhe raubte! - Meine Nerven waren so manchmal nach diesem stundenlangen Sprechens und Antwortstehens zum Auseinanderreißen! Der Rauch quälte mich oft, da ich als Nicht-Biertrinker auch so gut wie nicht rauche! - Dabei mußte ich stets sehr früh wieder aufstehen, um die frühesten Züge zu erreichen! Schließlich mußte ich ja auch noch jeden Tag selbständig erwägen, was für meinen Beruf zu erfüllen war, um auch den Chef zu befriedigen! - Viel hätte damals nicht gefehlt und auch ich lag auf der Straße, man litt auch damals nicht - und ich trug es erst recht - daß ich während meiner Kundenbesuche das Partei-Abzeichen trug! - Im Gegenteil: meine Reisetätigkeit habe ich die ganzen Jahre hindurch zur intensivsten Propaganda - manchmal auch beantwortet mit Boykott seitens der Kunden - ausgenutzt!! - Wie oft hätte ich dann den späteren Nachmittag und die Abende benutzen müssen und können, noch Geschäfte zu tätigen! - Um des Einsatzes für die Bewegung willen habe ich darauf verzichtet![540]
Als erster Ortsgruppenleiter meiner Ortsgruppe bin ich dann bis auf den heutigen Tag bestrebt gewesen, allen Partei und Volksgenossen gerecht zu werden. Alle meine Kameraden lieben mich und ich liebe sie!
Ich will nicht sprechen von den selbstverständlichen Pflichten gegen. in Not befindlichen Menschen. - Sie kamen und kommen auch heute immer wieder gern zu mir, und ich weiß, sie werden auch in aller Zukunft mich um Rat fragen, so lange ich hier wohne! Selbst so viele unserer ehemaligen Feinde sind es heute, die immer wieder - und sei es nur auf der Straße - Rat und Auskunft und Hilfe erbitten.
Selbstverständlich habe ich stets im Dienste für die NSV und das WHW. an erster Stelle gewirkt. - Ich bin stets der beste Sammler gewesen! - Die ärmsten Hütten und Wohnungen haben mich und jene Menschen oft zusammen zu den Glücklichsten gemacht! - Bei der letzten Gau-Straßensammlung sammelte ich an der Ecke unserer Arbeitergegend in 2 Stunden ohne Abzeichen Rk. 16,- in lauter 5 und 10 Pf-Stücken! - Für das Opferbuch des Gaues sammelte ich an 14 Nachmittagen 850,- Rk. - Bei der letzten Eintopfsammlung dieses Jahres als ich schon beurlaubt war fehlten Helfer! - Ich erfuhr davon - ließ meine Kinder allein zu Haus - und sammelte in einem Block statt bisher 17,- Rk. jetzt 30,60 Rk. - Einige Pgs. traf ich noch garnicht mal an!
Meinen Kameraden half ich, wo ich nur konnte:
Wie oft habe ich ärmeren Parteigenossen Beiträge bezahlt! - Wie viele Patenstellen habe ich im Laufe der Jahre übernommen! - Als erster und einziger Ortsgruppenleiter am Ort übernahm ich schon vor 2 Jahren die Bürgschaft für 25 Kameraden gegenüber der Sparkasse, um die dringende Anschaffung von Mänteln und deren Abzahlung zu ermöglichen. Wie viele Raten bezahlte ich selbst! - Einem Kameraden schenkte ich, als er zu stark von seinen Gläubigern getreten wurde einmal 20 Rk., ein weiteres Mal 50 Rk. - Ein anderer Blockleiter wollte sich vor dem letzten Parteitag Stiefeln kaufen. - Ich schenkte diesem alten Parteigenossen 20,- Rk.
Jede Aktion unserer Bewegung habe ich mit heißem Herzen gefördert! - Jeder Mensch allein war mir schon Gebot! - Meine Frau trat von sich aus 1932 in den Opferring, um etwas später in die Frauenschaft zu gehen. - Seit 3 Jahren arbeitet sie ständig mit und ist heute Zellenleiterin. Wie manche Stunde muß auch hier geopfert werden und müssen meine 3 Jungens von jetzt 11, 8 und 3 Jahren sich allein überlassen werden!
Vor allem dieser 3 Jungens wegen, die alle drei die schönsten Hoffnungen für uns und für unser Vaterland erfüllen werden bitte ich! - Der Älteste ist bereits seit 1 Jahr auf der Nationalpol. Bildungsanstalt in Ballenstedt und ist einer der besten seiner Klasse.
Dies nun mein Leichtsinn:
Ich fuhr vor etwa einem halben Jahr von Schladen bei Braunschweig nach Bernburg. - Ich löste, da ich mein Fahrrad bei mir hatte auch eine Fahrradkarte nach Braunschweig. - In Braunschweig mußte ich umsteigen und da ich noch einige Kunden besuchen wollte, nahm ich die Fahrradkarte zu mir in die Brieftasche. - Da ich jedoch unvorhergesehen erst am nächsten Tage weiter fuhr, dachte ich nicht an meine noch bei mir habende d. h. noch voll gültige Fahrradkarte und löste eine neue. - Zu Haus angekommen bemerkte ich die in Schladen bis Bernburg gelöste Fahrradkarte. - Da mir nun stets am Endziel meiner Reise diese Karte abgenommen wird, nahm ich an, daß die Karte, die ja im Übrigen erst zu 1/10 der vorgesehenen Reise benutzt war noch Gültigkeit habe. - Ende November 1938 fuhr ich abermals nach Schladen, d. h. ich kam dort von Ringelheim-Salzgitter kommend etwas später an, sodaß ich den geplanten Mittagszug nicht mehr erreichen konnte. - Kurzerhand nahm ich den Fahrplan zur Hand und konnte ich feststellen, daß ein Zug von Seesen über Börssum nach Braunschweig fuhr, der in 20 Minuten in Börssum fahren sollte. - Im Augenblick setzte ich mich auch schon auf den Sattel und raste in furchtbarstem Tempo nach Börssum d. h. eine Station hinter Schladen d. h. näher an Braunschweig. - Ich wollte unbedingt noch 2 Stunden Zeit gewinnen, um 2 Kunden in der Nähe des Hauptbahnhofs i. Braunschweig zu besuchen. - Mit letzter Lungenkraft und in Schweiß gebadet langte ich an dem Bahnhof in Börssum an, während der Zug schon eingelaufen war.
Ich schrie noch über den Zaun dem Zugpersonal zu, noch zu warten, was man auch mit Zeichen beantwortete. - Schnellstens trat ich an den Schalter und löste, um schneller abgefertigt zu werden eine Karte bis Braunschweig, jedoch keine Fahrradkarte. - Diese hatte ich bei mir und band dieselbe - schon auf dem Bahnsteig angekommen an. - Im letzten Augenblick gab ich nun mein Fahrrad in den Gepäckwagen und stieg, völlig erschöpft in das Abteil. - In Braunschweig wurde ich nun von dem Gepäckmeister angehalten und gefragt, ob ich die Karte umgeändert habe. - Ich leugnete nicht einen Augenblick. - Ich wurde dann zu Protokoll vernommen: Ich hatte den Ort Bernburg in Nienburg umgeschrieben, d. h. nach Radierung umgeschrieben. - Eine Schädigung, so glaubte ich würde ja hierdurch nicht eintreten, da ja der Preis der Karte der gleiche bliebe, da ja Nienburg eine Station vor Bernburg liegt. - Ich hatte mir für jenen Abend vorgenommen in N. auszusteigen, um einen Pg. Marnitz, der als Komiker bekannt ist und den ich schon selbst lange kenne für einen Kameradschaftsabend zu gewinnen. - Ich wußte, daß M. auch nur des Abends anzutreffen ist, da er selbst als Reisevertreter arbeitet. -
Ich war mir auf keinen Fall bewußt, daß ich hier solch ein Verbrechen beging. - Hätte ich nur geahnt, daß jener kleine Abschnitt, der von der Reichsbahn selbst oft sehr gering behandelt wird als Urkunde angesehen wird, ich hätte auch selbst den Versuch nicht unternommen, hier etwas zu unternehmen. Ich glaubte eben, die so gut wie nicht benutzte Karte in der für sie gültigen Entfernung nochmals benutzen zu dürfen. -
Ich versichere hierdurch, niemals vorher auch nur die geringste Veruntreuung vorgenommen zu haben! - Ich versichere, niemals auch nur Ähnliches tun zu wollen!
Soll mein Kämpfertum nun aufhören? - Jeder achtet mich, da ich bisher nur Gutes tat! - Nun wird ein Geachteter zum Geächteten werden! - Ein Mensch, der mit Leib und Seele ein Gefolgsmann des Führers ist, der in der Kampfzeit Alles auf sich genommen hatte, was für den siegreichen Durchbruch der Idee des Führers notwendig war soll durch einen solch unglücklichen Schritt unglücklich werden! - Statt der Ehre soll Unehre meinen besonderen Einsatz beschließen!
Sie wissen nicht, was in diesen Tagen in meinem Herzen vorgeht! - Manche Stunde war ich dem Wahnsinn nahe, meine Nerven sind zum Zerreißen, mein Leben ist nicht mehr lebenswert. Es will und kann nicht Frühling für mich werden! -
Im Vorstehenden gebe ich Verschiedenes über mich persönlich zur Kenntnis, was zu meiner Entlastung beitragen könnte. - Ich bin sonst nicht der Mensch, zu prahlen. - Hier hielt ich es jedoch für meine Pflicht!
Doch was ich nun selbst schrieb, bitte ich auch durch Zeugen erhärten zu lassen, die ich vollständig beliebig nennen könnte. - Ich bitte folgende Parteigenossen als Zeugen zu hören, ob man zu mir Vertrauen hat, wie ich mich die ganzen Jahre hindurch geführt habe, wie arbeitete und wie meine Lebensweise war.
1). Kreisleiter Pg. Wieneke / Staßfurt
2). der frühere Kreisleiter, Pg. Petri / Dessau (dieser setzte mich damals ein!)
3). der stellvertr. Ortsgruppenleiter
Pg. Walter Koppius, Bernburg, Schäferstr.
4). der Ortsgruppenleiter,
Pg. Karl Düring, Bernburg, Grönaerstr.
5). der Kassenleiter
Pg. Erich R[...], Bernburg, Albrechtstr.
6). der Kassenleiter (früher meine Ortsgr.).
Pg. Erich B[...], Dessau
7). der DAF-Ortsgruppenamtsleiter
Pg. Albert W[...], Bernburg, Leopoldstr.
8). der Zellenleiter
Pg. Rudi B[...], Bernburg, Albrechtstr.
9). der Zellenleiter
Pg. Erich L[...], Bernburg, Leopoldstr.
10). der Blockleiter, Pg. Richard A[...],
Bernburg, Wasserturmstr.
11). der Blockleiter, Pg. Fritz A[...]
Bernburg, Christianstraße
12). der Ortsgr.-Amtsltr. Friedr. R[...],
Bernburg, Leopoldstraße
Diese Zeugen könnte ich fortsetzen bis zum letzten Partei und Volksgenossen bis zu jeder Frau in der Frauenschaft, bis zu jedem Pimpf! -
Eine Tatsache möchte ich nun noch erwähnen, um zu zeigen, daß ich auch in dieser Hinsicht stets hilfsbereit bin:
In der Nacht vom 3. zum 4. April ds. Js., in der ich meinen zweiten Jungen zu einem Kindertransport von meiner Krankenkasse aus fortbrachte glaube ich durch mein zielbewußtes Auftreten dem Angestellten M[...] in Köthen, der fast mit seinem Jungen (völlig) unter den fahrenden D-Zug geraten war mit das Leben gerettet zu haben. -
-
Ich möchte Sie nun hierdurch ganz inständigst zu bitten, nur dies eine Mal Gnade vor Recht ergehen zu lassen und einem alten Parteigenossen aus seinem mühsam aber ehrlich erkämpften Ehrenplatz nicht zu entfernen.
Meine Kameraden erwarten mich und ich möchte mich wieder mit ihnen einsetzen!
Ich gelobe, meinem Führer zu dienen, wie ich nur kann und Alles zu tun, diesen meinen schweren Fehler wieder gut zu machen! -
Ich bitte nochmals meiner Kinder wegen!

Heil Hitler!
K. Kleinau

N.B.
Auf Seite 2 des Beschlusses des Gaugerichts ist eine Aussage meinerseits nicht ganz richtig wiedergegeben: Ich sagte damals, daß ich meine Fahrradkarte damals von Bernburg auf Nienburg nur deshalb abänderte, da ich an jenem Abend noch den Pg. Marnitz in Nienburg für einen Kameradschaftsabend gewinnen wollte. - Ich habe damit nicht sagen wollen, daß ich die Fahrt nicht in meinem Interesse unternommen hatte. - Ich war auf einer geschäftl. Reise und wollte an jenem Abend auf der Rückreise nur die Gelegenheit ausnutzen, um in N. mit vorzusprechen und dann mit dem Rade nach dem nahen Bernbg. zu fahren
N.B.
Ich wurde irrtümlich als Vertreter bezeichnet. Ich bin seit 10 Jahren angest. Reisender der Firma 'Polter-Lauterbach['], Leipzig, durch deren Vertrauen ich jetzt einen Wagen gestellt erhielt. - Vor dieser Zeit war ich 7 Jahre bei der Firma "Gabler, Wrede" Co in Magdeburg gleichf. angest. Reisender. Nur durch völligen Rückgang dieser Firma habe ich damals gewechselt.            d.o."




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Die Mitgliedschaft von im Jahre 1940 in der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg beschäftigten Angestellten in der NSDAP und in NS-Anhangsorganisationen [541]

Name Vorname
Geburts- jahr
Beruf
NSDAP- Eintritt
politisches Vorleben, Umstände des Eintritts in die NSDAP bzw. in NS-Anhangsorganisationen sowie ausgeübte Funktionen
B. Kurt
1902
Laborant
1932
SA-Oberscharführer, NSDAP-Zellenleiter
Becker Karl Ernst
1893
Dr.phil., Botaniker, Abteilungsleiter, Leiter der Außenstelle des Pflanzen- schutzamtes
nein
seit 1923 Mitglied im Reichskolonialbund / „Dr. Becker meldete sich 1939 als förderndes Mitglied der SS, weil er 1938 als Nichtmitglied der NSDAP oder einer angeschlossenen Organisation bei der Besetzung der Direktorstelle der Anhaltischen Versuchsstation übergangen war und Gefahr lief, auch seines Amtes als Leiter des Pflanzenschutzamtes enthoben zu werden, wenn er weiterhin außerhalb der NSDAP stehen würde. Er wählte die fördernde Mitgliedschaft zur SS, weil er dadurch der NSDAP die geringsten Beiträge zu liefern brauchte (1,50 RM monatlich) und am wenigsten Gefahr lief, ein Amt übernehmen zu müssen. An einer Veranstaltung der SS hat er nie teilgenommen und stellte auch die Beitragszahlung mit Kriegsbeginn ein. Das Amt als Blockleiter der NSV legte er 1936 nach zweijähriger Tätigkeit nieder, als er erkannte, daß die gesammelten Gelder größtenteils nicht zu Wohlfahrts-, sondern zu Parteizwecken verwendet wurden.“ (Dr. Becker als Leiter der Versuchsstation über den Wissenschaftler Dr. Becker, 29.11.1945), seit 1934 Mitgliedschaft im Reichsluftschutzbund, seit 1935 in der NSV, seit 1936 in der Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung und in der Freiwilligen Schulungsgemeinschaft des RDB [Dr. Becker hatte möglicherweise als seit 1921 beschäftigter Beamter eine solcherart gesicherte Stellung erreicht, dass er es sich erlauben konnte, der NSDAP nicht beizutreten; trotzdem sah auch er sich genötigt, mehreren kleinen Organisationen anzugehören. – T. K.]
Breiter Friedrich
1890
Laborant
1940
Kriegsbeschädigter aus dem Ersten Weltkrieg / 1910-1933 SPD-Mitglied und bis 1933 Kassierer der Ortsgruppe des Reichsbundes der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen, hat sich im Mai 1933 zur NSKOV übernehmen lassen „um einmal eine gewisse Uebersicht über die sich nun entwickelnden Verhältnisse zu behalten und hier und da evtl. eingreifen zu können. Wie hielten dies umso notwendiger, als der damalige kommissarische Leiter Blencke, der sich jetzt in Haft befindet, als Geschäftemacher übelster Art bekannt war. Mein Amt als Kassierer habe ich dann bis zur Auflösung der NSKOV innegehabt. Wiederholten Aufforderungen der NSDAP beizutreten habe ich nicht Folge geleistet bis zum 1. März 1940, als zwei anderen Kameraden und mir von einem Vertreter der Gauleitung in Dessau klar gemacht worden war, daß derjenige, der im Staatsdienst stehe und sich weigere Parteigenosse zu werden, dann auch bezüglich seiner Dienststelle die Konsequenzen zu tragen habe. Daß dies für mich keine leere Drohung war, geht wohl daraus hervor, daß ich wegen meiner politischen Einstellung 1933 durch 6 SAleuten von meiner Dienststelle weggeholt wurde und [ich] es nur der vernünftigen Einstellung eines auswärtigen Amtsleiters zu verdanken hatte, daß ich nicht in das Gefängnis eingeliefert wurde." (Rechtfertigungsschreiben nach Entlassung am 29.10.1945) Im Laufe des Krieges fungierte er zeitweilig als Betriebsobmann. Er wäre 1939 nur auf das besondere Zureden zweier Vorgesetzter hin stellvertretender Betriebsobmann geworden, „da wir im Interesse der Versuchsstation nicht wieder einen im Nationalsozialismus aufgehenden Betriebsobmann, sondern einen vernünftig sozial denkenden und handelnden Mann haben wollten, der vor allem auch das Vertrauen der Belegschaft hatte, was bei seinem Vorgänger durchaus nicht der Fall war.“ (Dr. Becker, 07.11.1945)
F. Rudolf
1907
Dr., Nahrungs- mittelchemiker
1937
1924 bis Ende Mai 1933 Mitglied des Jungdeutschen Ordens, zuletzt Jugendführer der Jungdeutschen Jugend vom Elbgau, 15.6.1933 SA, SA-Rottenführer
Franze Hermann
1875
Oberlaborant
nein
 
H. Traute
1911
Laborantin
nein
 
Heinecke Heinrich
1875
Laborant
nein
 
Hüllweck Gustav
1889
Dr., Chemiker, wiss.Ass.
nein
Inhaber EK II aus dem Ersten Weltkrieg sowie Anhaltisches Friedrichskreuz und Ehrenkreuz für Frontkämpfer, 1924-1933 Mitglied der Johannis-Loge „Baldur zu den 3 Sternen“ in Altenburg/Thüringen, Mitgliedschaft in DAF bzw. RDB, NSV (seit 1934), Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung (seit 1936, Sachbearbeiter für die fünf Ortsgruppen in Bernburg), Reichsluftschutzbund (seit 1936), Reichskolonialbund (seit 1936), Arbeitsdank (1935-37), DDAC (seit 1935). [Wahrscheinlich lief Dr. Hüllweck wegen seiner Logen-Mitgliedschaft nicht Gefahr, mit einer NSDAP-Mitgliedschaft behelligt zu werden. Im Gegenzug wurde er auch nicht verbeamtet. – T. K.]
L. Charlotte
1923
Laborantin
1941?
während der Schulzeit Jungmädelschaftsführerin; „Fräulein L[...] ist vom BDM in die NSDAP überwiesen.“ (Dr. Becker als Leiter der Versuchsstation, 29.11.1945) [Die Aussage ist unglaubwürdig. Der Vater war in den 40er Jahren stellvertretender NSDAP-Ortsgruppenleiter. Hierin dürfte eher der Auslöser der „automatischen Übernahme“ zu sehen sein. – T. K.]
L. Werner
1900
Dr., Landwirt- schaftschemiker, wiss. Ass.
1937
„Am 30. September 1933 erhielt ich [als Angestellter an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin seit 1925] die [...] Kündigung [zum Vertragsende], obwohl mein Vertrag noch bis zum 31.12.34. lief. Aus den Fragebogen, die damals im Auftrage der NSDAP von allen Beamten verlangt wurden, war ersehen worden, dass ich 1930 Mitglied der Demokratischen Partei geworden war. Man legte mir nämlich nahe, mich einer Gliederung der Partei anzuschliessen, wenn ich mit einer Belassung im Dienst rechnen wollte. Da ich an meinem Beruf sehr hing und mein erstes Kind unterwegs war, entschloss ich mich, zum 1.XI.33. der SA beizutreten. Daraufhin wurde mein Vertrag wieder bis zum 31.12.35. verlängert. Meine Habilitation wurde aber trotzdem weiter verhindert und ich musste als Nicht-Parteigenosse zu dem genannten Zeitpunkt aus dem Hochschuldienst scheiden. Trotz vieler Bewerbungen war es mir auch nicht möglich gewesen, eine meiner Vorbildung entsprechende Stellung im Lande Preussen zu erhalten. Nach vieler Mühe und Not gelang es mir, nach vierteljähriger Erwerbslosigkeit - ich war nur freier wissenschaftlicher Mitarbeiter - die Anstellung als wissenschaftlicher Assistent an der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg zu erhalten. Um mich der Tätigkeit in der SA und der Partei, in die ich zum 1. Mai 1937 übernommen wurde, fernzuhalten, widmete ich mich frühzeitig der Tätigkeit im Luftschutz [...]" (Rechtfertigungsschreiben nach Entlassung am 29.10.1945); Betriebsrat Dr. Hüllweck am 7.11.1945 über Dr. L.: „Meines Wissens ist weder von der Direktion noch von der damaligen Regierung ein Druck ausgeübt worden, in die Partei einzutreten, denn es befanden sich zu der Zeit 4 Akademiker an der Versuchsstation, die keine Pgs waren und auch nicht geworden sind. Ob und inwieweit von der SA ein Druck ausgeübt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. In seiner Stellung in der Versuchsstation hat er als Pg keine besonderen Vorteile gehabt, ob er selbst mit solchen Vorteilen durch den Eintritt in die Partei gerechnet hat, ist natürlich nicht festzustellen. Es ist selbstverständlich, daß er als Pg bessere Beziehungen zu den leitenden Pgs hatte als Nichtparteigenossen. Immerhin kann ich aufgrund von Gesprächen, die ich mit ihm über politische Dinge führte, sagen, daß er nicht als fanatischer oder restlos überzeugter Anhänger der Partei zu bezeichnen war.“ Der Übertritt Dr. L.‘s zur NSDAP 1937 erfolgte von der NSOG (früher Opferring), deren Mitglied er seit dem 01.10.1933 war; die SA-Mitgliedschaft datierte vom 01.11.33. Weiterhin gehörte er der NSV seit April 1934, dem RDB seit dem 01.06.1936 (Vertrauensmann), dem NS-Bund Deutscher Techniker (aus dem Verband Deutscher Chemiker überführt) und der Motor-SS an.
L. Hans
1896
Prof. Dr., seit 1938 Direktor
(zuvor Abtei- lungsleiter)
1937
im Ersten Weltkrieg Leutnant, Inhaber des EK II, des Anhaltischen Friedrichskreuzes und des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer; 1921 als Student Zeitfreiwilliger in Halle, seit 1920 Orgesch später 12.5.1925-1.12.1933 Stahlhelm, DNVP 1924-33, Deutsche Kolonialgesellschaft 1925-34 (1929-33 Funktionär), 1924-29 Mitglied Reichsbund der höheren Beamten, vorher seit 1921 Reichsbund deutscher Diplomlandwirte; SA seit 1.12.33 [wahrscheinlich Folge der Übernahme des Stahlhelms in die SA], SA-Obertruppführer, NSV 1.4.34, 1.5.35 „NSKOB“; seit 1.5.1920 „BDO“
M. Werner
1916
Diplomlandwirt
nein
 
P. Hans
1898
Dr., Chemiker
1933
 
R. Richard
1899
Gartenbau- inspektor
nein
 
R. Franz
1900
Dr., Diplomland- wirt, wiss. Ass., Abteilungsleiter
1937
 
Sammet Kurt
1893
Dr., Diplom- landwirt, Abteilungsleiter
ja
 
S. Regina
1925
Laborantin
1943
„Fräulein S[...] ist vom BDM ohne ihr Zutun in die NSDAP überwiesen.“ (Dr. Becker als Leiter der Versuchsstation, 29.11.1945) [Die Aussage ist unglaubwürdig. Der Vater war städtischer Polizeileutnant und NSDAP-Mitglied seit 1937. – T. K.]
S. Gerhard
1901
Dr., Agrikultur- Chemiker
1933
„Für meine endgültige Anstellung durch den Staat [als bisheriger Angestellter der Preußischen Bergwerks- und Hütten-AG im Kaliwerk Vienenburg] wurde als Voraussetzung erachtet, daß ich die Gelegenheit, im Mai 1933 der Partei beizutreten, nicht vorübergehen ließ, da ja Partei und Staat eins wären. Der Aufruf zum Beitritt in die S.A. im November 1933 erfolgte unter noch stärkerem moralischem Druck: die Partei würde die Entlassung aller derer erwirken, die sich diesem Aufruf versagten, besonders soweit sie sich in staatlichen Stellungen befänden. Um meine Anstellung, die im August 1933 zur endgültigen geworden war, nicht zu verlieren und damit meine und meiner Familie Existenz erneut zu gefährden trat ich auch der S.A. bei. Weder in der Partei noch in der S.A. habe ich eine besondere Funktion ausgeübt.“ (Rechtfertigungsschreiben nach Entlassung, 29.10.1945)
Unverdorben Otto
1880
Dr, Chemiker, Abteilungsleiter
nein
im Ersten Weltkrieg EK II, Verwundetenabzeichen, Ehrenkreuz für Frontkämpfer; 1921-24 Deutscher-Beamten-Bund, seit 1924 Reichsbund der höheren Beamten, 1935 RDB; Reichsluftschutzbund März 35, NSV 1.9.34, RDB 1.7.34, NSKOV Sept. 1933, NS Bund Deutscher Techniker (als Mitglied des Vereins Deutscher Techniker)
Wimmer Gustav
1865
Prof. Dr., seit 1930 kommissarischer, seit Dez. 1932 bis Ende 1937 ordentlicher Leiter, danach Weiterarbeit auf Vertragsbasis
nein
 
W. August
1909
Feldverwalter
1937
„Feldverwalter W[...] ist nach seinen Angaben wegen Interessenlosigkeit aus dem NSFK ausgeschlossen worden und trat der NSDAP bei, da er [1937] bei der Stadtverwaltung in Zerbst beschäftigt war; das Amt eines Blockleiters der NSDAP hat er nur aushilfsweise etwa ein Jahr ausgeführt.“ (Dr. Becker als Leiter der Versuchsstation, 29.11.1945)




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NSDAP-Sättigung in Bernburger Unternehmen und Verwaltungen 1944

Betrieb/Verwaltung
Beschäftigte 1940[542]
NSDAP- Mitglieder bis Ende 1944[543]
NSDAP- Mitglieder in %
Finanzamt Bernburg
96
62
65
Stadtverwaltung Bernburg[544]
350
210
60
Technischer Überwachungs-Verein Magdeburg e.V., Dienststelle Bernburg
20
11
55
Lehrer im Kreis Bernburg[545]
279
150
54
............in Anhalt insgesamt[546]
---
---
63
Vermessung[samt?] beim Landrat des Kreises Bernburg
15
8
53
Arbeitsamt Bernburg[547]
70
32
46
Elektrizitätswerk Bernburg
74
31
42
Bernburger Bank
18
7
39
Stadt- und Kreissparkasse Bernburg[548]
107
38
36
Stadtwerke Bernburg
60
18
30
Telegraphen-Baubezirk IV [Bernburg] des Telegraphen-Bauamtes Halberstadt
29
8
28
Elster & Cie, Opel-Automobile, Reparatur-Werkstätten, Garagen, Groß-Tankstellen
15
4
27
Reichsbahndirektion Magdeburg[549]
---
---
27
A. Kohlweyer, Bernburger Waagen- und Pumpenfabrik
13
3
23
Walter Feser, Kraftfahrzeuge-Reparatur-Werkstatt-Ersatzteile-Bereifungen-Zubehör-Oele und Fette-Garagen, Vertreter der Auto-Union AG
13
3
23
Junkers Flugzeug- und Motorenwerke Aktiengesellschaft, Flugzeugbau, Zweigwerk Bernburg[550]
619
141
23
Bauverwaltung beim Landrat des Kreises Bernburg
14
3
21
Otto Dornblüth Nachf. Inh. Gustav Kunze, Buchdruckerei und Verlag
14
3
21
Otto Riebe K.G., Eisenwaren
19
4
21
Deutsche Solvay Werke AG[551]
929
193
21
Anhaltische Versuchsstation
54
11
20
Karl Seufert, Spezialhaus für Elektrotechnik und Rundfunk
20
4
20
Heeresbauamt Bernburg
31
6
19
Oscar Zieseke, Eisen-, Kohlen- und Baustoffhandlung
16
3
19
Wintershall Aktiengesellschaft Werk Bernburg (Kalibergbau)
156
28
18
Wilhelm Oppermann & Co., Kohlengroßhandlung
18
3
17
Hermann Brehme, Gartenbauer
12
2
17
Hermann Klietz, Schuhgeschäft
12
2
17
Zuckerfabrik Dröbel GmbH
263
43
16
Friedrich M. Buhlmann, Kolonialwaren-Großhandlung
32
5
16
Max Fritz, Tapeten-Linoleum-Teppiche-Gardinen
13
2
15
Anhaltische Studiengesellschaft mbH Betrieb A
20
3
15
Erich Rudolph, Leuchtreklame- und Schilderhersteller
14
2
14
Molkereigenossenschaft Bernburg
29
4
14
Berthold Höltge, Tiefbauunternehmung (Steinsetzmeister)
30
4
13
Anhalter Kurier. Bernburger Tageblatt und Generalanzeiger für Anhalt
68
9
13
Automobilhaus Ewald Kögler, Kommanditgesellschaft, Vertriebsstelle für Mercedes-Benz-Fahrzeuge
16
2
13
Buch & Staake, Getreide, Futter- und Düngemittel
16
2
13
Schultheiß-Brauerei AG, Niederlage Bernburg
16
2
13
Pfarrer (aktiv) im Kreis Bernburg 1933-45[552]
56
7
13
Richard Schrader, Türen- und Fensterfabrik
17
2
12
W. Siedersleben & Co. (Landmaschinenbau)
507
58
11
Keilmann & Völcker GmbH, Eisengießerei und Maschinenfabrik
246
28
11
Carl Kurts GmbH, Eisenhandlung
18
2
11
L. Kessler & Sohn, Metallwerke
157
17
11
Robert Mundt, Färberei und Korbwarenfabrik
19
2
11
„Handwerk und Gewerbe“[553]
1417
143
10
Wilhelm Wohlhaupt, Architekt und Zimmermeister, Baugeschäft
50
5
10
Gustav Sauer, Baugeschäft
20
2
10
Baumeister Otto Butzmann, Baugeschäft
41
4
10
Friedrich Köbbel, Dachdeckermeister
22
2
9
Baumeister Otto Zahn, Maurermeister
11
1
9
Richard Hey, Maschinen- und Apparatebau
11
1
9
Gebrüder Möbers, Bauunternehmung, Wuppertal-Elberfeld, Baustelle Bernburg
34
3
9
Kuranstalt Bernburg der Reichsbahn-Versicherungsanstalt
34
3
9
Gebr. Lange GmbH, Papierfabrik und Holzschleiferei
103
9
9
Sächsisch-Anhaltische Armaturenfabrik & Metallwerke AG Bernburg
149
13
9
Ernst Sar, Zimmermeister
46
4
9
Ernst Schrader & Sohn, Holzhandlung
23
2
9
Anhaltische Waagenfabrik Bernburg, Friedr. Otto Müller, Kom.-Ges.
24
2
8
Paul Vogeley, Bernburger Drahtwaren- und Staket-Fabrik
12
1
8
Richard Weigel GmbH Schokoladenfabrik
113
9
8
Verbrauchergenossenschaft eGmbH Bernburg
63
5
8
Alfred Trauschke, Ingenieur/Zentralheizungsbau, Rohrleitungsbau
38
3
8
Hans Hensel, Herren- und Knabenbekleidung
13
1
8
Linden-Lichtspiele Friedrich Haberland
13
1
8
Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt, Filiale Bernburg
27
2
7
Theodor Hey GmbH, Weinberg
56
4
7
Baugeschäft Franz Beierling
28
2
7
Albert Jenssen, Installationsgeschäft-Klempnerei-Heizungsanlagen
14
1
7
Capitol-Lichtspiele O. Tschakert
14
1
7
Hallescher Bankverein, Filiale Bernburg
14
1
7
Kniese & Obereich, Eisenwaren und Werkzeuge
14
1
7
Schütz & Sohn, vorm. Anhaltwerk
14
1
7
Curt Steinmüller, Handelsvertreter
43
3
7
Richard Beinhoff, Kaufmann
30
2
7
August Scherf, Dekorationsmaler
15
1
7
Gellendien & Haffner GmbH, Dampfkesselfabrik-Großbehälterbau-Blechschweißerei-Röhrenwerk- Eisenkonstruktionen
106
6
6
Hermann Schütze, Dampfsägewerk und Nutzholzhandlung Bernburg und Aschersleben
19
1
5
Rudloff & Martz, Melasse-Spiritus-Fabrik
59
3
5
E.W.H. Sommer & Söhne, Metallwarenfabrik
20
1
5
Schweinefuss & Dolg, Maschinenfabrik-Mühlenbauanstalt-Eisengießerei
21
1
5
Saatzuchtwirtschaft C. Braune GmbH
130
6
5
Gustav Schulz, Steinbrüche und Tiefbau
198
9
5
Autohof Bernburg Kurt Grabaum
23
1
4
Papierwarenfabrik M. Korsch KG
24
1
4
Emil Kressmann, Kaufmann
77
3
4
Kaufhaus Werner Makowski
56
2
4
August Pape Nachf. Inh. Hermann Bermel, Baugeschäft und Holzhandlung
70
2
3
Scheller & Wöhner, Baugeschäft
75
2
3
Gebr. Huber, Berlin-Halensee, Beton- und Eisenbeton-Baugeschäft, Baustelle Bernburg
38
1
3
Treuhandgenossenschaft des Bauhandwerks, Abteilung: Ziegelwerke Bernburg
38
1
3
Hermann Theile & Sohn, Dekorationsmaler
56
1
2
GRUPE. Kommanditgesellschaft für Bauausführungen, Staßfurt, Baustelle Junkerswerke Bernburg-Neugattersleben
51
0
0
Dampfwäscherei „Edelweiß“ Fr. Röver, Komm.-Ges.
45
0
0
Max Zahn, Dekorationsmaler
39
0
0
Karl Scheimann, Baugeschäft
35
0
0
Hans Bertram, Architekt und Zimmermeister
32
0
0
von Spiegel, Markt 8-9 (Handel)
29
0
0
Wilhelm Bergner, Färberei und Chemischreinigung
27
0
0
Heinrich Alex Muthig, Kaufmann
23
0
0
Naverma-Haus (GmbH Magdeburg), versch. Filialen
22
0
0
Bernburger Möbelfabrik Boldt, Matthias & Co.
19
0
0
Albrecht Stiddien, landwirtschaftlicher Betrieb, Bernburg-Dröbel
18
0
0
Fuhrgeschäft Ferdinand Bodendiek
18
0
0
C. Samuel, Inh. C. Fischer, Holzhandlung
17
0
0
Haft & Lunze, Malermeister
16
0
0
Hotel „Goldene Kugel”
16
0
0
Robert Pistor, Karosserie- und Fahrzeugbau
16
0
0
Bernburger Durchschreibebücher-Fabrik Paul Schobes
15
0
0
Max Ermes, Chemische und technische Produkte für die Spiegelindustrie
15
0
0
Otto Thetmann, Möbelwerkstatt
15
0
0
Friedrich Spengler, Bauer
14
0
0
Louis Balzer, Inh. Otto Böttcher, Steinsetzmeister und Tiefbaugeschäft
14
0
0
Albert Buhlmann Nachf. Inh. Reinhold Hey, Kohlengroßhandlung
13
0
0
Carl Kruse, Malermeister
13
0
0
Kegel & Kirchberg o.H.
13
0
0
Carl Rudloff, [Landwirt?]
12
0
0
E. Sprunk & Co., Manufakturwaren/Wäsche
12
0
0
Emil Bergmann, Malermeister
12
0
0
Gaststätte Zum Erbprinz
12
0
0
Kraftverkehr Willi Wisnefski, Spedition und Möbeltransport, Omnibusbetrieb
12
0
0
Raumkunst-Werkstätten Dräger, Müller & Co.
12
0
0
August Haut, Damen-, Herren- und Kinderbekleidung, Schuhwaren, Wäsche und Berufskleidung
11
0
0
Fritz Ruhe, Klempnermeister
11
0
0
Knauth & Hohl, Getreide/Futter/Dünge-mittel/Saaten
11
0
0
Otto Tobies, Kaufmann
11
0
0
Rudolf Mandler, Atelier für Porträts: Architektur-Technische Aufnahmen-Reproduktion-Spezialhaus für Amateurphotographie-Projektion und Kino, Karlsplatz 31
11
0
0
Wilh. Lehmann, Dachdeckermeister, Inhaber: Wilh. und Walter Lehmann
11
0
0




»»» zum Inhalt Teil B: Dokumentation  
Personalstatistik der Reichsbahndirektion Magdeburg per 15.10.1945[554]


Beschäftigte gesamt
"Pg.'s"
Nicht-"Pg.'s"
bisher entlassene "Pg.'s"
noch beschäftigte "Pg.'s" in % der gegenwärtig Beschäftigten
noch beschäftigte und schon entlassene "Pg.'s" in % der gegenwärtig Beschäftigten
A Beamte            
a) Besoldungsgruppe            
1
1
0
1
0
0
0
2
5
5
0
1
100
120
3
10
10
0
1
100
110
4
1
1
0
0
100
100
5
43
38
5
0
88
88
b) mittlerer gehobener Dienst
618
304
314
47
49
57
c) mittlerer Dienst
3.426
1.393
2.033
154
41
45
d) unterer Dienst
5.742
1.520
4.222
204
26
30
SUMME a) - d)
9.846
3.271
6.575
407
33
37
B Angestellte
18
1
17
1
6
11
C Arbeiter
7.119
839
6.280
140
12
14
Beschäftigte gesamt
16.983
4.111
12.872
548
24
27




»»» zum Inhalt Teil B: Dokumentation  

Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944

 
1921 / 26 [555]
1929 [556]
1930
1931
1932
1933
1934
1935
1936
1937
1938
1939
1940
1941
1942
1943
1944 [557]
ermittelte Neueintritte insgesamt[558]
124
87
118
243
395
996
190
87
127
1261
386
181
586
325
216
160
566

lokale Verteilung in %
*Bernburg[559]
67,7
49,2
70,8
43,6
44,5
46,3
30,8
64,7
39,5
60,4
57,9
63,9
57,8
60,1
58,8
54,4
44,6
*"5 Orte"[560]
11,3
23,7
15,6
23,2
25,0
27,0
14,6
27,1
32,3
23,5
19,2
13,0
20,8
21,8
23,0
26,6
30,5
*"Dörfer"[561]
21,0
27,1
13,5
33,2
30,5
26,7
54,6
8,2
28,2
16,1
22,9
23,1
21,4
18,0
18,1
19,0
24,9

Frauenanteil in %
5,6
4,6
2,5
2,1
6,3
5,4
3,2
4,6
1,6
9,6
14,0
21,5
21,2
24,0
34,7
39,4
36,2

Durchschnitts- alter[562]
33,3
32,3
30,1
32,7
34,7
36,4
40,5
41,6
44,3
38,9
37,7
31,8
37,8
36,4
31,2
23,5
18,5

Berufe der Mitgliedschaft in %[563]
 
1921 / 26
1929
1930
1931
1932
1933
1934
1935
1936
1937
1938
1939
1940
1941
1942
1943
1944
1 Landarbeiter
1,8
2,5
6,2
2,3
2,4
2,2
2,8
4,2
3,7
1,8
1,5
0,9
1,9
2,9
1,5
0,0
2,7
2 ungelernte Arbeiter
16,1
8,6
15,0
7,0
6,8
4,8
3,5
4,2
1,9
5,4
3,3
8,8
3,1 <