Torsten
Kupfer Generation und Radikalisierung Die Mitglieder der NSDAP im Kreis Bernburg 1921-1945 |
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Berlin 2006 |
TEIL A: DARSTELLUNG TEIL B: DOKUMENTATION TEIL C: ANHANG Die hier vorliegende Fassung ist gegenüber der Ursprungsfassung des Jahres 2006 um ein Dokument im Teil B (NSDAP-Parteigerichts-Verfahren Hans Buch 1935) und den Verweis darauf in der Fußnote 317 ergänzt worden. Inhalt und Seitenzahlen unterliegen keiner weiteren Veränderung. |
Diese
Studie handelt von den Tätern. Gemeint sind jedoch nicht Täter
in einem juristischen Sinne, sondern Täter in moralischer Hinsicht,
als Mitverantwortliche in einem der verbrecherischsten von der
Menschheit überhaupt hervorgebrachten Systeme, als Mitglieder
der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Ausschließlich
dieser Mitverantwortlichkeit, dem "Wer?" und dem "Warum?" widmet
sich dieses Buch. In
der wissenschaftlichen Diskussion führt die Beschäftigung
mit der Mitgliederstruktur der NSDAP - gemessen am Gesamtausstoß
an Literatur - eher ein Schattendasein. Trotz einer Flut von Veröffentlichungen
zum Gesamtkomplex des Nationalsozialismus liegt bisher keine einzige
Monographie zur Mitgliederstruktur der NSDAP in deutscher Sprache
vor. Gleichfalls gibt es bisher - einschließlich der über
eine Reihe von Fachzeitschriften und Sammelbänden verteilten
Aufsätze - keine Studie, die die NSDAP in der Entwicklung ihrer
Mitgliederstruktur in einem fest umrissenen Gebiet von ihren Anfängen
bis 1945 zu rekonstruieren versucht.[2]
Auf der institutionellen Ebene ist der Erfolg des Projektes zu nicht unerheblichen Teilen der konstruktiven Mitarbeit fast aller beteiligten Archive und Privatpersonen zuzuschreiben. Hierbei ist insbesondere - mit sehr wenigen Ausnahmen -die wissenschaftsfreundliche Ausschreitung des den Archivaren mit den Archivgesetzen im Falle von personenbezogenen Daten in die Hand gegebenen Entscheidungsrahmens hervorzuheben. Freilich konnten - trotz einer im allgemeinen guten Quellenlage - nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Insbesondere eine größere Zahl an zeitgenössischen originären Aussagen unterhalb der partei- und zeitungsoffiziellen Ebene wäre erstrebenswert gewesen. Auch eine Analyse der Mitgliedschaft der Anhangsorganisationen ließ sich - mit Ausnahme des Nationalsozialistischen Lehrer-Bundes (NSLB) - mangels verläßlicher Quellen nicht ausführen. Im
Zentrum der vorliegenden Studie steht die Rekonstruktion der NSDAP-Mitgliedschaft
im Kreis Bernburg mittels eines aus allen relevanten verfügbaren
Archivalien zusammengestellten Datensatzes von mehr als 9.000 Mitgliedern
von den Anfängen der Partei bis 1945.[6]
Durch dessen Verknüpfung mit weiteren Quellenbeständen
gelingt die Herausarbeitung eines konsistenten Bildes von der Parteimitgliedschaft
und wird eine retrospektive Motivationsanalyse ermöglicht.
Die
Geschichte der NSDAP im Kreis Bernburg setzt weit vor der ersten
formalen Gründung einer Ortsgruppe im Herbst 1923 ein. Eine
Reihe von Indizien deuten sogar auf die Existenz einer Vorlaufphase
seit den 1890er Jahren hin. In den Jahren vor der Jahrhundertwende
verfestigten sich die bis zum Ende der Weimarer Republik gültigen
und dann (scheinbar) zerschlagenen politischen Grundkonstellationen
in Form zweier sich feindlich gegenüberstehender politischer
Lager; gleichzeitig trifft man in Bernburg in dieser Zeit auf die
ersten Spuren völkisch-nationalistischer Organisation. Und
nicht zuletzt wurde - soviel kann schon vorweggenommen werden -
die reichliche Hälfte aller jemals in die NSDAP eintretenden
Personen in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1900 geboren, wobei
die Jahrhundertwende den Gipfelpunkt späterer NSDAP-Neigung
markierte.[7] Die
Jahre um die Jahrhundertwende treten jedoch nicht nur als Geburtsjahre
späterer Nationalsozialisten hervor, sondern auch als Jahre
verschärfter politischer Auseinandersetzung und des ersten
(retrospektiv sichtbaren) Auftretens einer völkisch-nationalistischen
Strömung im Kreis Bernburg im Umfeld der 1898 abgehaltenen
Reichstagswahlen. Die überaus große Konzentration von
Arbeitern in der Bevölkerung hatte schon in den 80er Jahren
und erst recht nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 fast zwangsläufig
zur Stärkung der Sozialdemokratie geführt. Das gesellschaftliche
Klima war daher von einer deutlichen Zuspitzung gekennzeichnet.
Insbesondere das in der Landeshauptstadt Dessau erscheinende sozialdemokratische
"Volksblatt für Anhalt" vermittelt einen plastischen
Eindruck von der bestehenden politischen Konfrontation. Im Halbjahr
vor der Reichstagswahl 1898 beherrschten vor allem zwei Themenkomplexe
dessen lokalpolitische Berichterstattung über den Kreis Bernburg.
Zum einen beleuchtete das "Volksblatt" die in der Tat
skandalösen Arbeitsbedingungen der Arbeiter in etlichen Betrieben
des Kreises und die dazu in einem engen Verhältnis stehenden
unzureichenden Bemühungen der anhaltischen Gewerbeinspektion.
Parallel dazu versuchte es, seinen Lesern die moralische Verkommenheit
der besitzenden und herrschenden Schichten zu verdeutlichen. Heranzuziehende
Beispiele für letztere gab es zuhauf: Der Bernburger Staatsanwalt
Pannier musste wegen jahrelanger Misshandlung seiner Tochter vom
Dienst suspendiert werden; ein Offizier wollte zu einer inzwischen
nicht mehr am bisherigen Orte wohnenden Hure, und weil er sie nicht
antraf schlug er wütend die jetzt dort wohnende Arbeitersfrau,
woraufhin er wiederum von deren Mann zusammengeschlagen wurde (die
Berichterstattung über diesen Fall brachte dem verantwortlichen
"Volksblatt"-Redakteur einen Strafantrag ein); ein früherer
Direktor der Nienburger Eisengießerei im Kreis Bernburg musste
wegen Unterschlagungen in Haft genommen werden. Die "bürgerlichen"
Zeitungen hingegen ignorierten in ihrer Berichterstattung Sozialdemokratie
und Arbeiterschaft so weit als möglich, wenn nicht ein herausragendes
Ereignis wie ein die Stimmung weiter aufheizender Korbmacherstreik
im ersten Halbjahr 1898 dies unmöglich machte.
Der sich in schnellen Zunahme der Wählerstimmen
ausweisende Aufstieg der Sozialdemokratie konnte durch die staatliche
und arbeitgeberseitige Repression bestenfalls verzögert werden.
Um die Jahrhundertwende wurde sie zudem spürbar zurückgefahren.
Bezeichnend für einen beginnenden Wandel in der Einstellung
zur Sozialdemokratie ist das Verhalten der Direktion der Solvay-Werke
anlässlich der Bernburger Stadtverordnetenwahlen 1899 und 1901.
Bei der ersten Teilnahme der SPD seit 1891 im Jahre 1899 hatte es
noch massive Behinderungen gegeben. 80 Wählern der Tagschicht
im Bergwerk Solvayhall war die frühere Ausfahrt zur Wahlteilnahme
verweigert worden. Da der bestplatzierte Sozialdemokrat, Viktualienhändler
Wilhelm Voigt, nur mit 30 Stimmen unterlag, ist anzunehmen, dass
diese Verweigerung den ersten Einzug eines Sozialdemokraten in die
Stadtverordnetenversammlung verhinderte. Auch wurden Arbeiter zur
Überwachung der Stimmauszählung nicht zugelassen.[16]
Bei der folgenden Stadtverordnetenwahl 1901, bei der die Sozialdemokratie
erstmals fünf Kandidaten durchbringen konnte, durften die Arbeiter
der Frühschicht auf den Kali-Schächten der Solvay-Werke
erstmals so zeitig ausfahren, dass sie noch vor Wahlschluss um 14.00
Uhr ihre Stimmen abgeben konnten. Nachdem der Magistrat nicht bereit
war, einer zeitlichen Ausdehnung der Wahl zuzustimmen, hatte ein
Schreiben des Vorsitzenden des Sozialdemokratischen Vereins, Wilhelm
Voigt, an den Generaldirektor der Solvay-Werke und späteren
nationalliberalen Reichstagsabgeordneten für den Wahlkreis
Bernburg-Cöthen-Ballenstedt, Carl Wessel, diese gravierende
Änderung bewirkt.[17]
Die ländlichen Arbeitgeber vollzogen diesen Sinneswandel nicht
mit, sie versuchten weiterhin, ihre ökonomische Macht auszuspielen.
So berichtete das "Volksblatt" noch nach der Reichstagswahl
1912 aus Giersleben, dass auf dem Rittergut alle Frauen, deren Männer
nicht auf dem Rittergut beschäftigt waren, dort nicht mehr
zur Arbeit zugelassen wurden. Hintergrund der Maßnahme war
der begründete Verdacht gegen ihre Männer, sozialdemokratisch
gewählt zu haben.[18] Die Sozialdemokratie hatte ihren Wahlsieg von 1898
also indirekt den nominell beinahe unbedeutenden Antisemiten zu
verdanken. Angesichts eines Stimmenvolumens von 3 % der gültigen
Stimmen im Kreis könnte man dies leicht als 'antisemitisch-mittelständlerischen
Bodensatz' abtun. Es lohnt jedoch ein genauerer Blick auf die lokale
Verteilung der Wählerschaft dieser Partei. Diese konzentrierte
sich in der 4.700 Einwohner zählenden Kleinstadt Güsten
(19 % für Brox) und den benachbarten Gemeinden Giersleben,
Osmarsleben und Rathmannsdorf (10 bzw. 9 %).[24]
Der tiefere Grund dieser Konzentration ist in den politischen Konflikten
in der Stadt Güsten selbst zu suchen, die auch auf die nähere
Umgebung ausstrahlten. Bis 1893 war das politische Leben Güstens
ausschließlich von der vor den Toren der Stadt ansässigen
Rittergutsbesitzerfamilie Kraaz bestimmt worden. Nach dem "Volksblatt
für Anhalt" wären die Mitglieder der Familie die
"Güstener Repräsentanten des Systems Stumm"
gewesen. So, wie der Freiherr von Stumm und Halberg an der Saar
in fast unumschränkter Weise über seine Bergarbeiter herrschte,
so hätte auch die Familie Kraaz ihre ökonomische Allmacht
für politische Zwecke hemmungslos ausgespielt. Konkret wurde
ihren Untergebenen z. B. der jeweils abzugebende Wahlzettel direkt
von den Arbeitsinspektoren zugestellt.[25]
Doch auch die nach außen auf den ersten Blick
so monolithisch erscheinende Sozialdemokratie war keinesfalls frei
von inneren Spannungen. Freilich wurden diese angesichts der fortbestehenden
Repressionen seitens des Staates und auch seitens der Arbeitgeber
von der Öffentlichkeit ferngehalten. Waren es im "nationalen"
resp. "bürgerlichen" Lager die unteren Angestelltenschichten,
deren Loyalität gegenüber dem eigenen politischen Lager
als am geringsten einzuschätzen ist und die potentiell auszubrechen
drohten, so waren es auf der Gegenseite im "sozialistischen"
resp. "proletarischen" Lager die den Angestellten sozial
benachbarten hochqualifizierten industriellen Facharbeiterschichten,
deren Loyalität gegenüber dem eigenen Lager brüchig
war. Der Blick auf die Zeit um die Jahrhundertwende zeigt, dass gerade wegen der starken Polarisierung innerhalb der beiden politischen Blöcke Spannungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen bestanden, die perspektivisch eine Abspaltung ganzer Gruppen bewirken konnten. Jedoch traten diese Spannungen nur punktuell zu Tage, beispielsweise als Unterstützung der Antisemiten gegen den "bürgerlichen" Einheitskandidaten in Güsten und Umgebung 1898 oder als Konflikt der Metallarbeiter mit der freigewerkschaftlichen Kartellmehrheit in Bernburg 1900.
Schon
1912/13 hatte sich die Bürgerblockpolitik des Kaiserreiches
überlebt. Sowohl der Reichstagswahlkreis Anhalt II (Bernburg-Cöthen-Ballenstedt)
als auch die Mehrheit in der Bernburger Stadtverordnetenversammlung
waren trotz "bürgerlicher" Sammlungspolitik an die
Sozialdemokratie verlorengegangen. Schon bei den Bernburger Stadtverordnetenwahlen
1911 war eine gemeinsame Liste der SPD und der Demokratischen Vereinigung
- der am weitesten links stehenden "bürgerlichen"
Gruppierung des Kaiserreichs - mit Erfolg angetreten. 1912 hatte
die Demokratische Vereinigung auch zu den Reichstagswahlen einen
eigenen Kandidaten aufgestellt. Zumindest ein Teil der demokratischen
Wähler votierte in der Stichwahl auf Anraten ihrer Partei für
den sozialdemokratischen Kandidaten und verhalf ihm damit zum Sieg
über den Nationalliberalen. Aus der Bernburger Stadtverordnetenwahl
des Jahres 1913 schließlich gingen die Sozialdemokraten als
Sieger und mit jetzt 16 von 30 Mandaten als Inhaber der absoluten
Mehrheit hervor. Diese Wahlniederlagen stellten für das "Bürgertum"
schwere Demütigungen dar. Der 1895 zur Verhinderung von sozialdemokratischen
Wahlerfolgen eingeführte Wahlzensus hatte im Zuge der allgemeinen
nominellen Lohnsteigerung nunmehr seine Wirksamkeit verloren. In
Reaktion darauf war vom anhaltischen Landtag eine erneute, ab 1914
wirksame Wahlrechtsverschlechterung beschlossen worden.[45]
Durch die Aussetzung sämtlicher Wahlen während des Weltkrieges
kam dieser erneute Wahlrechtsraub jedoch nicht mehr zur Anwendung.
Die
nächste Stadtverordnetenwahl im Jahre 1921 brachte den ersten
direkten Vorläufer der NSDAP hervor, die Deutsch-soziale Partei.[49]
Deren Ortsgruppe war kurz vor der Wahl gegründet worden und
konnte ohne großen Wahlkampf sofort ein Mandat erringen. Entgegen
der Angestelltenliste des Jahres 1919 gab es jetzt auch keine Listenverbindung
mit der erneut aufgestellten "bürgerlichen" Einheitsliste
mehr. Der Bruch mit dem etablierten "Bürgertum" war
offensichtlich. Mit der Deutsch-sozialen Partei des Jahres 1921
trat erstmalig ein amorphes völkisch-nationalistisches Spektrum
an die Öffentlichkeit, das in den Folgejahren an personellem
Zulauf und organisatorischer Vielfalt gewinnen und 1923 in der erstmaligen
Gründung einer NSDAP-Ortsgruppe münden sollte. Zwischen
1921 und 1923 und teilweise auch noch darüber hinaus existierten
im Kreis Bernburg neben der Deutsch-Sozialen Partei der eher noch
stärker antisemitische und schon durchweg das Hakenkreuz als
Erkennungszeichen benutzende Deutschvölkische Schutz- und Trutz-Bund,
der Jungdeutsche Orden,[50]
der Bund Oberland, eine gleichfalls das germanische Sonnenrad als
Symbol benutzende Treuschaft Lützow, deren Benennung eine Bedrohungslage
analog der antinapoleonischen Befreiungskriege vor mehr als 100
Jahren simplifizierte[51]
und aus der später die SA hervorgehen sollte, und ein Bund
Wehrwolf, dessen Symbol ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen war.
Auch der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und der deutschnationale
Stahlhelm Bund der Frontsoldaten wie auch der Marineverein Bernburg
sind zumindest in Teilen dieser Gruppe zuzurechnen. Der "Ring
der Getreuen" im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband,
eine geheime Vereinigung von Mitgliedern, die mindestens fünf
Jahre Mitglied sein mussten, einen besonderen Beitrag bezahlten
und selbst den Ortsverwaltungen als Mitglieder dieses Ringes nicht
bekannt waren, verwandte zudem im Zentrum seines Emblems zwischen
1921 und 1925 das Hakenkreuz.[52] |
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Im Zentrum dieses völkisch-nationalistischen Spektrums stand
bis 1923 die Doppel-Organisation aus Deutsch-sozialer Partei und
1922 gegründeter Treuschaft Lützow. Während die Deutsch-soziale
Partei als legales politisches Instrument agierte, blieben die Existenz
und paramilitärische Struktur der Treuschaft Lützow der
Öffentlichkeit zumindest vorerst verborgen. Doch gerade sie
wird, wenn man den späteren Ermittlungen Glauben schenkt, die
mitgliederstärkere gewesen sein. Eine legale und auch öffentlich
sichtbare Korona um diese beiden Organisationen herum dürfte
Der Wehrwolf Bund deutscher Männer gebildet haben. Er stellte
vor allem ideologisch eine vorweggenommene NSDAP im kleinen dar
und hob sich aus dem restlichen völkisch-nationalistischen
Spektrum durch die Betonung des Volksgemeinschafts-Gedankens heraus.[55]
Insofern erinnert er an das Gleichnis Ingmar Bergmans vom "Schlangenei", durch dessen dünne Schale man das schon fertig ausgebildete Reptil erblicken könne. Der Gründer und Führer dieses seit seiner Gründung im Januar 1923 in Halle/Saale residierenden Bundes, der Gymnasiallehrer Fritz Kloppe, stammte im übrigen aus Bernburg.[56] |
Seit Anfang 1924 stand der Wehrwolf auch in einem formellen Bündnis
mit dem Stahlhelm und sollte jene Personen organisieren, die durch
ihre Jugend am Fronteinsatz gehindert worden waren.[57] In
den turbulenten Herbsttagen des Jahres 1923, als der Kreis Bernburg
das Zentrum sowohl der links- als auch der rechtsradikalen Bewegung
in Anhalt war,[58] kam es
zur ersten formellen Gründung einer Bernburger NSDAP-Ortsgruppe.
In gewisser Weise wirkte sich hier auch die Nähe des deutlich
radikalisierteren (preußischen) Staßfurt aus. Die Angaben
über den genauen Termin dieser Ortsgruppengründung bewegen
sich zwischen dem 11. September und dem 9. November. Auf jeden Fall
wäre eine Bestätigung durch die Reichsleitung aufgrund
des nach dem fehlgeschlagenen Münchener Hitler-Putsch erlassenen
NSDAP-Verbotes nicht mehr möglich gewesen. Eine erneute Ortsgruppengründung,
d. h. eine Legalisierung der bestehenden Gruppe, soll mit 67 Mitgliedern
wahrscheinlich unter dem Namen Nationalsozialistische Freiheitspartei
im März/April 1924 erfolgt sein.[59] In
der dauerhaften Existenz völkisch-nationalistischer Gruppen
in Bernburg spiegelte sich lediglich in extremer Weise die Verfassung
des "Bürgertums" insgesamt. So trat unter den Angestellten
des Bernburger Amtsgerichts nicht nur der NSDAP-Ortsgruppenführer
Gustav Hölzke mit einer extremen politischen Positionierung
hervor, sondern auch die augenscheinlich weit auf der Rechten stehenden
Amtsgerichtsräte Hachtmann und Dr. Röver, letzterer auch
als lokaler Wehrwolfführer. Der
Einfluss der völkisch-nationalistischen Gruppen reichte in
Bernburg bis in die rechtsliberale Deutsche Volkspartei, deren Parteisekretär
Joseph Schmid von der "Volkswacht" sogar als geistiger
Kopf des völkischen Spektrums angesehen wurde. Er machte durch
Aussagen wie: "Die Familie Cohn regiert die Republik, aber
die Volkserhebung kommt, der Sturm bricht los." von sich reden.[79]
Nach längerer Zeit wurde er durch die Deutsche Volkspartei
entlassen und fand als Stahlhelm-Kreisleiter neue Beschäftigung.
Ein weiterer prominenter Überläufer aus der DVP war der
Ingenieur und Fabrikbesitzer August Schweinefuß, der 1919
im Vorstand der DVP-Ortsgruppe und 1921 noch auf der "Vereinigten
Bürgerliste" zur Stadtverordnetenwahl zu finden war[80]
und 1924 für die Nationalsozialistische Freiheitspartei - so
die Firmierung während des NSDAP-Verbots - in die Stadtverordnetenversammlung
einzog.
Die
soziale Zusammensetzung der NSDAP und ihrer Vorgänger- bzw.
Ersatzorganisationen im Zeitraum zwischen 1921 und 1926 gestaltete
sich im Untersuchungsgebiet nicht einheitlich, sondern wies zwei
unterschiedliche Ausprägungen auf: den "Normalfall"
Bernburg/Güsten/Amesdorf/Hecklingen und die "Ausnahme"
Aderstedt. War die Partei im "Normalfall" ihrer Berufsstruktur
nach mehrheitlich eine Partei der neuen und alten Mittelschichten,
in der allein schon die kaufmännischen Angestellten und die
Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes jeweils
ein Fünftel der Mitgliedschaft ausmachten, so war die NSDAP
in Aderstedt eine fast reine Arbeiterpartei. Auch hinsichtlich des
Durchschnittsalters gibt es große Differenzen: 30 Jahre im
"Normalfall" Bernburg/Güsten/Amesdorf/Hecklingen,
42 Jahre in Aderstedt. Und schließlich gab es in Aderstedt
keine Frauen in der Organisation, im "Normalfall" aber
wenigstens 7 % (die jedoch alle aus Bernburg kamen).[83]
Diese unterschiedlichen Ausprägungen von Parteimitgliedschaft
bedürfen differenzierter Erklärungen, für Aderstedt
bestanden offensichtlich andere Entstehungsbedingungen. |
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Verantwortlich
für diesen Extremwert zeichneten in erster Linie Entlassungen
in der Kaliindustrie. Nachdem in der Inflation noch gute Geschäfte
zu machen waren wurden mit der Währungsstabilisierung und der
damit verbundenen Verteuerung der Arbeitskraft seit Ende 1923 die
Belegschaftszahlen rapide reduziert.[94] Die Entstehung der Aderstedter NSDAP folgt einem gänzlich anderen Schema als im Rest des Kreises. Einzig in Aderstedt wurde die NSDAP zur Arbeiterpartei. Sie wies damit eine Sozialstruktur auf, wie sie auch bei ländlichen deutschnationalen Ortsgruppen in jenen Jahren vorgekommen sein soll.[102] Bei einer Arbeiterbevölkerung von reichlich zwei Dritteln der Einwohnerschaft hatte es die Sozialdemokratie in Aderstedt nur in den Wahlen zwischen 1918 und 1920 geschafft, dieses Potential auszuschöpfen bzw. sogar zu überschreiten (78 % bzw. 68 %). Danach pendelte sich ihr Wählerstimmenanteil wieder auf die schon aus dem Kaiserreich bekannten Werte um 50 % ein. Die anscheinend relativ geschlossene Gruppe derjenigen Arbeiter, die die SPD vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht hatte erreichen können, wandte sich jetzt wieder von ihr ab und sah in der NSDAP ihren Vertreter.[103] Von dem schon in der Vorkriegszeit in der lokalen Politik in Gegnerschaft zur SPD tätigen Steinmetz, Landwirt und späteren Bürgermeister Karl Wilhelm sen. ist überliefert, dass er zwischenzeitlich bis Anfang der 20er Jahre der SPD angehörte, bevor er vor allem unter dem Einfluss seines Sohnes, des Elektrikers Karl Wilhelm jun. (später NSDAP-Ortsgruppenleiter in Aderstedt) zum Nationalsozialismus übertrat.[104] Die Abgrenzung beider Aderstedter Arbeitergruppen ist nach außen hin etwas unscharf, es scheint jedoch ein schwacher Trend dahingehend bestanden zu haben, dass bei der SPD tendenziell eher die besser qualifizierten und nach Bernburg einpendelnden Arbeiter zu finden waren, während die NSDAP eher als die Vertreterin der niedriger qualifizierten und in den Steinbrüchen, in der Landwirtschaft und im Kalischacht direkt am Orte beschäftigten Arbeiter anzusehen ist. Die "Volkswacht" wusste zur Gemeinderatswahl 1927 aus Aderstedt zu berichten, dass die neunköpfige "Nationale Liste" der NSDAP mit zwei Ausnahmen aus Beschäftigten der örtlichen Steinbruchfirmen Meißner und Hoier bestand.[105] Von einem eventuell ausgeübten Druck seitens dieser Arbeitgeber zur Präsentierung einer gewünschten politischen Haltung ist jedoch nichts bekannt, auch sind die Betriebsinhaber selbst zu keinem Zeitpunkt als Nationalsozialisten nachweisbar, so dass eher von besonderen engen Kommunikationsbeziehungen in dieser Beschäftigtengruppe ausgegangen werden muss. Die NSDAP-Liste aus der Gemeinderatswahl des Jahres 1927 wies mit der gleichfalls Steinbruchbeschäftigte enthaltenden SPD-Liste doppelt so häufig Überschneidungen in den Berufsangaben auf wie mit der "Unpolitischen Liste" und stand sozialstrukturell faktisch zwischen beiden, einzig ein Kandidat, ein kaufmännischer Angestellter, fand keine berufliche Entsprechung auf den benachbarten Listen.[106] Neben
den lokalen politischen Konstellationen und der politischen Meinungsbildung
in Großgruppen sind es im einzelnen aber erst Faktoren der
Persönlichkeit und der Biographie, die die Hinwendung zur NSDAP
wesentlich mitbestimmten. Für die Mehrzahl der frühen
NSDAP-Mitglieder war der Erste Weltkrieg das einschneidendste Erlebnis
in ihrem Leben gewesen. Es ist nun interessant zu sehen, dass die
Personen an der Spitze der NSDAP im militärischen Bereich keinesfalls
Mannschaftsdienstgrade innehatten: Hölzke war Vizewachtmeister,
der Aderstedter Ortsgruppenleiter Möhring Oberleutnant. Interessant
ist in dieser Hinsicht auch die Mitgliederliste des Marinevereins
Bernburg. Für den Mitgliederbestand des Jahres 1930 sind -
über den gesamten Zeitrum der Existenz der NSDAP - 25 Parteibetritte
nachzuweisen. Knapp ein Viertel dieser Personen (6) findet sich
schon unter den bis 1926 erstmalig eintretenden NSDAP-Mitgliedern,
darunter die Spitzenkandidaten zu den Stadtverordnetenwahlen 1921
und 1924.[107] Es liegt
der Schluss nahe, dass auch ein Äquivalent für die ehemals
in militärischen Führungspositionen gefundene Bestätigung
jetzt in der NSDAP gesucht wurde. Im Gegenzug liegen keine Indizien
dafür vor, dass es eventuell gesellschaftliche Entwurzelung
resp. Schwierigkeiten bei der Führung eines normalen zivilen
Lebens waren, die in dieser Frühphase der lokalen Entwicklung
ausschlaggebend für die Hinwendung zur NSDAP gewesen wären.
Andersherum konnte aber das Engagement in der NSDAP in dieser Hinsicht
Schwierigkeiten verursachen, wie z. B. die vermehrten Disziplinarverfahren
Hölzkes ausweisen.
Insgesamt
ist es aufgrund des weitgehenden Fehlens biographischer Quellen
kompliziert, die Eintrittsmotivationen der frühen Mitgliedschaft
darzustellen. Aus dem gesamten Kreis Bernburg steht keine einzige
illustrierende Biographie zur Verfügung, was angesichts einer
Zahl von weniger als 200 bis zum Jahre 1928 von der "Bewegung"
erfasster Personen auch kaum erstaunt. Ersatzweise ist es jedoch
möglich, auf die Biographie einer frühen Nationalsozialistin
aus der Landeshauptstadt Dessau zurückzugreifen, deren Entwicklungsgang
eine Reihe von Rückschlüssen auf die Bernburger Situation
zulässt. Die 1936 - also äußerst zeitnah und ohne
den späteren Zwang zu Retuschen - niedergeschriebenen Erinnerungen
Emma Hentschels stellen daher einen Glücksfall für die
historische Forschung dar.[109] |
![]() Emma Hentschel (um 1925) [110] |
Emma Hentschel wurde 1881 in Heyersdorf in der preußischen
Provinz Posen geboren und entstammte einem alten schlesischen Bauern-
und Mühlenbesitzergeschlecht. Man kann also unterstellen, dass
die Familie nicht ganz unvermögend, wenn nicht sogar tonangebend
im Dorfe war.[111] Über
die Zahl der Geschwister ist nichts überliefert; auf jeden
Fall erbte sie aber nicht den Hof und zog 1905 nach ihrer Heirat
mit einem Lokführer in die Großstadt Posen. Dort kam sie - zuvor schon glühende Bismarck-Verehrerin - mit den Ideen des ehemaligen Hofpredigers Adolf Stöcker in Berührung, die in ihrer Mischung aus Antisemitismus und sozialkonservativer Reformpolitik sie weiterhin beeinflussen sollten. Nach außen hin trat sie jedoch politisch nicht hervor, was jedoch nicht weiter verwundert; ihr Mann war Beamter, schon von daher war Zurückhaltung geboten, außerdem wurden jeweils im Jahresabstand drei Kinder geboren und schließlich war im Deutschen Reich Frauen eine politische Aktivität überhaupt erst seit 1908 erlaubt. |
Weiter radikalisieren sollte sich ihre politische Haltung im Gefolge
des Ersten Weltkrieges, als Posen in Erfüllung des Versailler
Vertrages an Polen abgetreten wurde. In dieser Zeit wurden sie und
ihr Mann nach eigenem Bekunden infolge der von polnischer Seite
gegenüber dem deutschen Bevölkerungsteil forcierten scharfen
Repression und systematischen Verdrängungspolitik Fanatiker;
"wilder Hass" gegen die "verräterische marxistische
Regierung" in Berlin, die sie an die Polen ausgeliefert hätte,
hätte von ihnen Besitz ergriffen. Über konkrete Verfolgungen
seitens der Polen gegenüber den Hentschels ist jedoch nichts
bekannt. Um der zweifellos auch ohne konkrete persönliche Pressionen
diskriminierenden Lebenslage zu entgehen schloss sich die Familie
Hentschel 1920 dem Massenexodus an und kehrte, wie der größte
Teil der deutschen Bevölkerung Posens,[112]
'heim ins Reich', nach Dessau. Auch
ihre Kinder, die neben dem Studium eigenen Erwerbstätigkeiten
nachgehen mussten, schlossen sich, sobald sie die staatlichen anhaltischen
Gymnasien und die dort gewährte Schulgeldfreiheit hinter sich
gelassen hatten, der NSDAP an. Die Tochter Dorothea wurde 1926 vom
"Völkischen Beobachter" als erste nationalsozialistische
Lehrerin bezeichnet, der Sohn Walter sollte später während
eines Studienaufenthaltes in den USA die dortige NSDAP-Auslandsorganisation
mit aufbauen. Insgesamt schaffte sie es, den selbst erlittenen sozialen
Abstieg durch ihre Kinder wieder zu kompensieren. Tochter Dorothea
avancierte im Dritten Reich zur Gaugeschäftsführerin des
Nationalsozialistischen Lehrerbundes in Magdeburg-Anhalt und später
zur Funktionärin des NSLB an dessen Sitz in Bayreuth, Sohn
Walter erreichte im Reichsluftfahrtministerium die Stufe eines Oberregierungsrates
und Tochter Katharina wurde Auslandslehrerin in Guatemala und später
wohl auch in Spanien.
Die beiden Bernburger Lokalzeitungen, die sozialdemokratische "Volkswacht" und der liberale "Anhalter Kurier", meldeten im Januar 1930, dass sich die Ortsgruppe Bernburg des Bundes Oberland aufgelöst und ihre Mitglieder sich einer anderen "nationalen Gruppe" angeschlossen hätten. Sie würden aber weiterhin im alten Heim, dem Hause des Hauptmanns a. D. Freiherrn Ulrich von Bothmer, Prokurist bei den Metallwerken Kessler & Sohn, zusammenkommen wollen. Beiden Zeitungen war entgangen, dass es sich bei der "anderen nationalen Gruppe" um die NSDAP handelte, die in den vergangenen drei Jahren aus dem öffentlichen Leben Bernburgs verschwunden und nunmehr völlig unbedeutend war.[115] In der Zeit des "Dritten Reiches" verfasste Darstellungen der lokalen NSDAP-Geschichte versuchen zwar, eine ungebrochene Organisationskontinuität und bedeutende Aktivität zu suggerieren, doch handelt es sich hier durchgängig um Übertreibungen.[116] 1927/28 hatte es funktionierende NSDAP-Ortsgruppen im Kreis Bernburg lediglich noch in Aderstedt vor den Toren Bernburgs und wahrscheinlich auch in der Eisenbahner-Kleinstadt Güsten an der Bahnstrecke Staßfurt-Aschersleben gegeben. Zu den 1927 stattgefundenen Bernburger Stadtverordnetenwahlen und den Kreistagswahlen war die NSDAP nicht mehr angetreten. In dieser Zeit kann das vor den Toren Bernburgs gelegene Aderstedt als der Wahrer der nationalsozialistischen Organisationskontinuität im Kreis Bernburg gelten. Nicht nur, dass dort zur Gemeinderatswahl 1927 die einzige nationalsozialistische Liste im Kreis aufgestellt wurde, auch die zehn Positionen umfassende Kandidatenliste der NSDAP zur anhaltischen Landtagswahl 1928 enthielt zwei Kandidaten aus Aderstedt, jedoch keinen aus Bernburg![117] In dieser Wahl konnte sie wiederum eines der 36 Mandate erlangen, das an den Dessauer Gauleiter und späteren Reichsstatthalter Hauptmann a. D. Wilhelm Loeper fiel.[118] Auch der Stahlhelm unterlag im Kreis Bernburg zur gleichen Zeit einer ähnlichen Organisationskrise, ohne dass die NSDAP dies für sich hätte ausnutzen können.[119] In
den Jahren vor 1930, als die NSDAP im völkisch-nationalistischen
Spektrum des Kreises Bernburg eher eine untergeordnete Rolle spielte,
wurde dieses Spektrum in erster Linie vom Wehrwolf Bund deutscher
Männer und Frontkrieger repräsentiert. Auf dem Höhepunkt
seiner Organisationsentwicklung lassen sich 1927 im Kreis Bernburg
13 Wehrwolf-Ortsgruppen nachweisen. Nach einer vorübergehenden
Schwäche 1928/29 waren 1930/31, mit erneut einsetzender Radikalisierung,
wiederum acht Ortsgruppen, teilweise auch mehrere Orte umfassend,
existent. Mit dem Aufstieg der NSDAP verschwanden diese jedoch.
In der Kreisstadt Bernburg scheint die Neugründung vom Frühjahr
1930 keinen langen Bestand gehabt zu haben und ist schon 1931 nicht
mehr nachweisbar. 1932 gab es im Landkreis nur noch Ortsgruppen
in Güsten und Gerbitz, 1933 nur noch die Gerbitzer. Die Mitgliedschaft
des Wehrwolf diffundierte in andere Organisationen, zu einem größeren
Teil zur NSDAP, zu einem geringeren Teil auch zum Stahlhelm. Von
einem mehrheitlichen, direkten und organisierten Übergang der
Mitglieder zur NSDAP kann jedoch nicht die Rede sein.[120]
Angesichts der noch kurz zuvor zu beobachtenden Schwäche der Partei stellte der NSDAP-Wahlerfolg in den Reichstagswahlen vom 15. September 1930 zumindest eine sehr große Überraschung dar. Von lediglich 2 % der gültigen Stimmen in der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 hatte sie sich innerhalb von zwei Jahren auf jetzt 14 % steigern können und wurde faktisch aus dem Nichts drittstärkste Partei im Kreise hinter der SPD und der KPD. Woher kamen aber plötzlich diese Wähler? Eine populäre Legende, dass vor allem die vorherigen Nichtwähler den Aufstieg der NSDAP ermöglicht hätten, kann hier von vornherein ausgeschlossen werden. Selbst unter der Annahme, dass sämtliche der gegenüber 1928 neu hinzugekommenen Wählerstimmen der NSDAP zugefallen wären, hätten sie lediglich ein reichliches Drittel des NSDAP-Stimmenvolumens bilden können. Vielmehr rekrutierte sich der Stimmenzuwachs der Nationalsozialisten zum größten Teil aus dem Wählerpotential der Parteien des restlichen "nationalen" Wählerlagers. Doch nicht alle "bürgerlichen" Parteien waren gleichmäßig von dieser Wählerwanderung in Richtung der Nationalsozialisten betroffen. Während Deutsche Volkspartei, Deutschnationale Volkspartei und Deutsche Staatspartei jeweils zwischen einem Drittel und der Hälfte ihres vorherigen Wählerpotentials verloren, blieben Zentrumspartei und Wirtschaftspartei stabil. Stabil zeigte sich in der Summe auch das "sozialistische" Wählerlager. SPD und KPD hatten zusammen 1928 56 % der gültigen Stimmen bekommen, jetzt 55%. Lagerintern hatte die SPD leicht an die deutlich kleinere KPD abgeben müssen. Zwischen den Ergebnissen in der Kreisstadt, wo SPD und KPD beide noch leicht hatten gewinnen können, und den Ergebnissen im Landkreis tat sich jedoch eine Schere auf. Angesichts auch deutlicherer Verluste der SPD im Landkreis muss davon ausgegangen werden, dass dort auch ehemalige SPD-Wähler in geringerem Umfang zum Wahlerfolg der NSDAP beitrugen. Nur in einem Falle jedoch (Neundorf) hatten ehemalige KPD-Wähler offensichtlich einen beträchtlichen Anteil am Aufstieg der lokalen NSDAP.[123]
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Obwohl
die Wahlergebnisse des Vorjahres noch etwas anderes auszusagen schienen
befand sich die SPD außerhalb der Kreisstadt auch ohne das
Vorhandensein einer politisch ins Gewicht fallenden NSDAP schon
Ende 1929 in der politischen Defensive. Ein Teil der Bevölkerung
des Kreises Bernburg war zu diesem Zeitpunkt schon wieder auf den
Stand des Kaiserreichs zurückgeworfen worden, das eine freie
politische Meinungsäußerung nicht zugelassen hatte. Der
Güstener Holzhausfabrikant und Stahlhelm-Ortsgruppenführer
Lohmüller 'überzeugte' z. B. im Dezember 1929 die bei
ihm beschäftigten Arbeiter von der Notwendigkeit des Besuchs
einer Anti-Young-Plan-Versammlung.[127]
Auch ein in der sozialdemokratischen Zeitschrift "Das Freie
Wort" veröffentlichter Bericht aus dem Nachbarkreis Köthen
dürfte durchaus Gültigkeit für die Verhältnisse
im Kreis Bernburg beanspruchen:
"Landarbeiter im Joch! Die Einzeichnungen zum Volksbegehren [gegen den Young-Plan] auf dem Lande sind in viel größerem Umfang unter Zwang erfolgt, als selbst die Zahl der ungültigen Stimmen vermuten läßt. Auch hier in Mitteldeutschland war das Hauptwerbemittel für Hugenbergs Volksentscheid die Drohung mit der Entlassung. Und davor zittert der Landarbeiter; denn er hat meistens einen Schein unterschrieben, durch den er sich selbst aus der Arbeitslosenversicherung herausgebracht hat."[128] So findet sich denn auch unmittelbar vor dem Volksentscheid gegen den Young-Plan in der "Volkswacht" folgender Aufruf:
Die
NSDAP konnte während des Jahres 1930 ihre Mitgliedschaft verdoppeln.
Sind per Ende Dezember 1929 im Untersuchungsgebiet 87 registrierte
Mitglieder nachweisbar - was in etwa wieder dem Mitgliederstand
des Jahres 1925 entsprach - so waren es ein Jahr später bereits
192.[130] Diese Steigerung
vollzog sich relativ gleichmäßig. Zwar ist zum 1. September
1930 - also im unmittelbaren Reichstagswahlkampf - eine deutliche
Häufung von Eintritten festzustellen, doch fielen dafür
in den beiden Monaten davor und danach die Eintrittszahlen schwächer
aus. Es trat also unter dem Eindruck der Zuspitzung im Reichstagswahlkampf
niemand ein, der nicht auch sonst eingetreten wäre.[131]
Die
Mitgliederzahl der NSDAP erscheint, gemessen an der größten
Partei im Gebiet, der SPD, und auch gemessen an dem in der Reichstagswahl
1930 aktivierten Wählerpotential als sehr gering; auf ein SPD-Mitglied
entfielen sechs Wähler, auf ein NSDAP-Mitglied 36.[133]
Insgesamt ist diese Mitglieder-Wähler-Relation jedoch typisch
für eine radikale Partei in der Aufstiegsphase. Die NSDAP des
Jahres 1930 kann als fast vollständig aus Aktivisten bestehend
angesehen werden, während im Gegensatz dazu der größere
Teil der SPD-Mitglieder als eher inaktiv einzuschätzen ist.[134]
Diese nationalsozialistischen Parteiaktivisten waren die Meinungsmultiplikatoren,
mit deren Wirken sich in erster Linie der Wahlerfolg des 15. September
1930 verband. Eine Analyse dieser Personengruppe ermöglicht
es, den "Explosionsherd" resp. jene Schichten zu finden,
von denen die Radikalisierung im "nationalen" Lager 1930/31
ausging. Im Vergleich der verschiedenen unter der Mitgliedschaft vertretenen Berufsgruppen zeigen sich weitere Verjüngungen auf der proletarischen Seite der Mitgliedschaft. Die geschlossene Jugendlichkeit der Mitglieder aus handwerklich ausgebildeten Facharbeitergruppen, denen zudem eine gewisse Exklusivität zu eigen war, wie Schlosser, Schmiede, Dreher, Tischler, Bildhauer, Elektriker, Kraftfahrer und Autoschlosser, überstieg die vorerwähnten Durchschnittswerte noch erheblich.[141] Auf der "bürgerlichen" Seite der Mitgliedschaft waren von dieser Auffälligkeit nur einzelne Berufsgruppen betroffen, so im Jahre 1930 die kaufmännischen Angestellten, Ingenieure und restlichen Angestellten (Laborant, Gutsbeamter, Landmesser, Betriebsleiter, Bauführer, Krankenwärter, Zahntechniker, Steiger) sowie Kleinfabrikanten und Ärzte. Relativ schwach in den Geburtsjahrgängen 1901 bis 1910 vertreten waren dagegen v. a. Landwirte und Gutsbesitzer, selbständige Handwerks- und Gewerbetreibende sowie Angestellte/Beamte des öffentlichen Dienstes, wobei hier zumindest für die ersten beiden Gruppen in Rechnung zu stellen ist, dass diese Berufe in der Regel nicht schon mit 19 Jahren (Geburtsjahrgang 1910) ausgeübt wurden. Unter den Eintretenden des Jahres 1931 zeigt sich über alle Arbeitergruppen hinweg (mit Ausnahme der Arbeiter im öffentlichen Dienst) eine noch stärkere Präsenz der proletarischen Mitglieder in den Geburtsjahrgängen 1893 bis 1912 und 1901 bis 1910.[142] In gleichem Maße jugendlich waren auf der "bürgerlichen" Seite in diesem Jahre lediglich die landwirtschaftlichen Angestellten. Die noch größere Jugendlichkeit der proletarischen Mitglieder ist im Zusammenhang mit den kürzeren Ausbildungszeiten zu sehen; Arbeiter wurden dadurch früher mit dem Arbeitsmarkt konfrontiert, früher wirtschaftlich selbständig und folgerichtig auch politisch eher mündig. Die Resonanz auf die NSDAP unter jungen Facharbeitern korrespondierte zudem zumindest zum Teil mit einem Rückgang des Einflusses der SPD unter diesen Personengruppen.[143] Hinsichtlich
des Berufsprofils der Mitgliedschaft hatte die NSDAP ihren Platz
an der Grenzlinie der beiden relativ stark gegeneinander abgeschotteten
politischen Lager, des "sozialistischen"/"proletarischen"
und des "nationalen"/"bürgerlichen" Lagers.
Doch - und das ist sehr bedeutsam - sie entstand zumindest in Bernburg
auf der "nationalen" Seite der Lagergrenze, eine andere
Interpretation lassen das vorstehend dargestellte Wahlergebnis der
Reichstagswahlen 1930 und auch die nachfolgend dargestellten Mitgliederverhältnisse
der Bernburger Parteien nicht zu. Im Landkreis gelang es ihr unter
der Vorbedingung nicht so scharf gezogener Lagergrenzen eher als
in Bernburg, Wähler und eventuell auch Mitglieder aus dem "sozialistischen"
Lager zu gewinnen. Die Positionierung an der Lagergrenze erklärt
denn auch zum Teil die hohe Wachstumsgeschwindigkeit schon vor 1933;
sie konnte sich - wenn auch mit unterschiedlicher Intensität
- in zwei Richtungen gleichzeitig ausbreiten. |
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Die
NSDAP bildete in Bernburg 1931 den "Brückenkopf"
des "bürgerlichen" Lagers direkt gegenüber der
SPD und half somit, die Lagergrenze weiter in das bisherige 'Territorium'
des Feindes hinein zu verschieben. Ihre Schnittstellenfunktion zwischen
SPD und DVP dokumentiert sich an den Arbeiter- und Angestelltenanteilen
auf den jeweiligen Listen. Hatte die SPD 86 % Arbeiter aufzuweisen,
so waren es bei der NSDAP 37 % und bei der DVP 2%. Anders im Sektor
der Angestellten und Beamten: 13 % bei der SPD, 50 % bei der NSDAP
und 71 % bei der DVP. Hinzuweisen ist außerdem darauf, dass
bei der NSDAP sich die Relation von Facharbeitern/Angelernten zu
Ungelernten sich noch etwas günstiger als bei der SPD gestaltete
und die NSDAP tendenziell ihre Arbeiter-Aktivisten stärker
aus anderen Facharbeitergruppen bezog als die SPD, insbesondere
aus solchen nichtindustrieller Ausrichtung.[149]
Angesichts der ins Höchstmaß gesteigerten Feindschaft
nach links kann von einer Erosion der bestehenden Lagergrenze trotz
der sozialstrukturellen Schnittstellenfunktion der NSDAP zwischen
SPD und DVP nicht die Rede sein.
Sozialstrukturell am ähnlichsten war der NSDAP zudem die "Bürgerliste", d.h. die DVP. Das dokumentiert sich nicht nur in einer Angestellten- und Beamten-Mehrheit, die es im übrigen auch noch bei der Deutschen Staatspartei gab, sondern in erster Linie darin, dass bei beiden Parteien die kaufmännischen Angestellten die numerisch dominierende Gruppe bildeten.[150] Auch die Deutsche Staatspartei hatte noch gewisse sozialstrukturelle Ähnlichkeiten zur NSDAP aufzuweisen. Beide "liberale" Parteien wurden zudem in starkem Maße auch von sozialen Gruppen getragen, die zu diesem Zeitpunkt unter den hier erfassten Aktivisten der NSDAP noch relativ schwach vertreten waren (Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes bei der DVP, Lehrer bei der Staatspartei), andererseits aber in bedeutendem Maße für die Eintrittswelle in den Jahren 1932/33 verantwortlich zeichnen sollten.[151] Offensichtlich hat die NSDAP vor allem im Generationenübergang das Erbe der liberalen Parteien übernommen und mehrheitlich Personen an sich angezogen, die selbst oder deren Eltern unmittelbar nach der Novemberrevolution Parteigänger der Deutschen Demokratischen Partei und später der Deutschen Volkspartei waren. Die massive Option für die NSDAP anfangs der 30er Jahre erscheint so in erster Linie als Umorientierung des in seiner Mehrheit über keine traditionelle Loyalitätsbindung an eine Partei verfügenden "neuen Mittelstandes", also hauptsächlich der Angestellten und Beamten.[152] In diese Umorientierung waren augenscheinlich auch Personen sozial benachbarter Schichten durch Kommunikationszusammenhänge wie Arbeitsplatz, Verwandtschaft, früheren gemeinsamen Schulbesuch und gemeinsame Freizeitaktivitäten eingebunden, die subjektiv ihre soziale Lage als gleichartig einschätzten. Die NSDAP begann ihren Siegeszug unter den zahlenmäßig den größeren Teil des "nationalen" Lagers stellenden unteren Angestellten und Beamten. Ihre Besonderheit lag jedoch darin, dass sie in schneller Folge bis 1933 alle Sozialschichten, die mehrheitlich dem "nationalen" politischen Lager zuzurechnen waren, dominieren konnte, während die Arbeiterschaft und die Katholiken nur an der Peripherie erfasst wurden. Es handelt sich bei der für Bernburg 1931 festgestellten Zwischenstellung der NSDAP an der politischen Lagergrenze um keinen Zufallsbefund; sondern um den auch in weiteren Orten des Untersuchungsgebietes festzustellenden Normalzustand. So finden sich in Aderstedt vor den Toren Bernburgs bei der gleichen Gemeinderatswahl 1931 analoge Verhältnisse. Der Arbeiteranteil unter den Kandidaten lag bei 100 % im "sozialistischen" Lager, 40 % bei der NSDAP und 14 % im restlichen "nationalen" Lager.[153] Auch unter den Güstener Gemeinderatskandidaten waren gleiche Relationen vorzufinden: 86 % Arbeiter im "sozialistischen" Lager, 25 % bei der NSDAP, 16 % auf den Listen des "nationalen" Lagers. In Güsten hatte die NSDAP außerdem mit 63 % den höchsten Angestelltenanteil aller Listen aufzuweisen.[154] Einzig die Stadtverordnetenkandidaten und Zustimmungsunterschriften Leistenden in Hecklingen folgen nicht diesem Muster. Zwar bestätigt sich in der Kategorie der Selbständigen auch hier die Zwischenstellung der NSDAP; im "sozialistischen" Lager gab es einen Selbständigenanteil von 3 %, in der NSDAP von 23 % und im restlichen "nationalen" Lager von 45 %, doch ordnete sich die NSDAP, was den Arbeiter- und den Angestelltenanteil angeht, zwischen KPD und SPD ein. Allerdings bezog die NSDAP ihre Arbeitermitglieder vor allem aus den Reihen der Landarbeiter und der handwerklichen Facharbeiter, während SPD und KPD ihren eindeutigen Schwerpunkt bei ungelernten Arbeitern und Metallfacharbeitern hatten, so dass sich hier eine Entgegensetzung von im Orte beschäftigten Arbeitern (NSDAP) und in das nahe Staßfurt-Leopoldshall auspendelnden Arbeitern und Angestellten (SPD und KPD) andeutet.[155] Die Verhältnisse in den kleineren Orten des Landkreises sind durch die geringere Ausprägung von Partei- und Milieustrukturen und die Praxis der Aufstellung von "bürgerlichen" Einheitslisten nicht in einer solchen Eindeutigkeit aufzuklären wie hier für Bernburg, Aderstedt, Güsten und Hecklingen geschehen. Insgesamt konnte die NSDAP im Herbst 1931 erst in neun von 34 Wahlorten des Kreises Bernburg eigenständige Kandidatenlisten präsentieren. Die relative Schwäche der NSDAP außerhalb der Kreisstadt erklärt sich einerseits aus einer allgemein geringeren Organisationsneigung ländlicher Bevölkerung, andererseits aber augenscheinlich auch aus der geringeren Präsenz spezifischer - zumeist städtisch angesiedelter - Trägerschichten der Partei. Für Sandersleben z. B. ist überliefert, dass die NSDAP-Ortsgruppe erst wenige Tage vor der Wahl im Oktober 1931 gebildet worden war und sich aufgrund ihrer personellen Schwäche nicht in der Lage sah, eine eigene Liste aufzustellen.[156] Die
Sozialstruktur der NSDAP im gesamten Untersuchungsgebiet deckt sich
im wesentlichen mit den für die Bernburger Stadtverordnetenwahlen
1931 vorgestellten Angaben für die Parteiaktivisten. Ende 1929
betrug der Anteil der Angestellten und Beamten an der Parteimitgliedschaft
insgesamt 48 %, sank dann jedoch unter den Neueintritten 1930 und
1931 auf 41 % bzw. 36%. Der Arbeiteranteil hingegen stieg von 40
% unter allen Mitgliedern Ende 1929 auf 46 % unter den Neueintritten
1930, um dann wieder auf 40 % unter den Neueintritten 1931 abzufallen.
Die restlichen Mitglieder verteilen sich auf Selbständige aller
Art, v. a. Handwerksmeister, Kleinfabrikanten und selbständige
Kaufleute, sowie Schüler und Studenten. Auch für den im
Zeitraum 1929 bis 1931 vorliegenden Höchststand proletarischer
Einfärbung der Partei ist somit eine "bürgerliche"
Parteimehrheit zu konstatieren.
Angesichts
der über lange Zeit geringen gesellschaftlichen Akzeptanz der
NSDAP auch in "bürgerlichen" Kreisen stellt sich
die Frage, was den Massenzulauf in sehr kurzen Zeiträumen auslöste.
Eine monokausale Antwort darauf gibt es nicht, vielmehr scheint
nicht nur ein Weg zur NSDAP geführt zu haben. |
Einkommen
von Angestellten und Arbeitern in der gewerblichen Wirtschaft Bernburgs
1920 (nur männliche Beschäftigte)[163] |
||||||
Monatsein- kommen |
Angestellte in % |
innerhalb der betreffenden Einkommensstufe liegende durchschnittliche Arbeiterlöhne | ||||
Gesamt |
kauf- männi- sche Ang. |
techni- sche Ange- stellte |
Betriebsbe- amte, Werk- meister und ähnliche A. |
Büro- ange- stellte |
||
bis 200 M |
1 |
3 |
0 |
0 |
0 |
Eisen und Metall: Lagerarbeiter (jung) |
201 bis 250 M |
1 |
0 |
3 |
1 |
0 |
Eisen und Metall: Hilfsarbeiter, Kernmacher, Gießer, Handarbeiter für Metall (alle jung), Transportarbeiter |
251 bis 300 M |
1 |
2 |
0 |
0 |
0 |
|
301 bis 400 M |
4 |
6 |
0 |
4 |
5 |
Baugewerbe: Bauhilfsarbeiter (jung); Eisen und Metall: Schlosser, Dreher, Schmied (alle jung), Schweißer, Hilfsarbeiter, Maschinenarbeiter für Holz, Handarbeiter, Dreher; Holzgewerbe: Hilfsarbeiter |
401 bis 500 M |
11 |
16 |
5 |
6 |
14 |
Eisen und Metall: Lagerarbeiter, Maler, Former für Eisen u. Stahl (jung), Schlosser (jung, Stücklohn), Gießer, Fräser, Schmiede, Hobler; Chemie: Handwerker (jung); Nahrungs- und Genußmittelindustrie - Müllereien: Speichereiarbeiter, Lagerarbeiter, Kutscher |
501 bis 600 M |
13 |
11 |
5 |
12 |
62 |
Eisen und Metall: Kernmacher, Mechaniker, Schmelzer, Maschinenwärter, Gußputzer (auch im Stücklohn), Schlosser (auch im Stücklohn), Bohrer (auch im Stücklohn), Handarbeiter für Holz, Handarbeiter im Stücklohn, Werkzeugmacher, Tischler, Former für Rot- und Gelbguß, Tischler, Schleifer (alle im Stücklohn); Chemie: Fabrikarbeiter (auch im Stücklohn) |
601 bis 750 M |
26 |
29 |
15 |
27 |
14 |
Holzgewerbe: Maschinenarbeiter; Eisen und Metall: Monteure, Klempner (beide auch im Stücklohn), Dreher, Handarbeiter für Holz, Kernmacher, Former für Rot- und Gelbguß, Tischler, Schleifer (alle im Stücklohn); Chemie: Fabrikarbeiter (auch im Stücklohn) |
751 bis 1.000 M |
31 |
24 |
47 |
36 |
5 |
Baugewerbe: Poliere; Holzgewerbe: Tischler, Polierer (beide im Stücklohn); Chemie: Handwerker im Stücklohn |
über 1.000 M |
12 |
8 |
26 |
14 |
0 |
Die
Chance des Angestellten auf eine "standesgemäße"
Abhebung von der Arbeiterschaft lag nur im allmählichen Aufstieg
im Betrieb und in der in den Tarifverträgen festgelegten steigenden
Vergütung mit zunehmendem Lebensalter. Beides wurde aber schon
vor der Weltwirtschaftskrise immer unwahrscheinlicher. Zum einen
gab es in der Industrie wie auch im Handel immer weniger Aufstiegspositionen,
zum anderen begannen die Betriebe, Angestelltenpositionen wegzurationalisieren
und nur noch befristete Einstellungen vorzunehmen. Schon vor dem
"Schwarzen Freitag" 1929 bestand eine starke Angestelltenarbeitslosigkeit,
die dann sprunghaft zunahm. Die Folge war, dass eine ganze junge
Angestelltengeneration potentiell zu verelenden drohte und - sehr
wichtig - aus Geldmangel einfach keine Familie gründen konnte.
Hans Fallada hat die Lebensumstände dieses unteren Angestelltenmilieus
in seinem 1932 erschienenen Roman "Kleiner Mann - was nun?"
eindringlich geschildert. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, vor der Vereinzelung und dem Ausgeliefertsein an ein Schicksal, das kaum zu beeinflussen schien, führte große Teile der Angestelltenschaft - und von ihnen ausstrahlend auch benachbarter sozialer Schichten - auf der Suche nach einer positiven Zukunftsgewißheit dahin, die Verantwortung für das eigene Leben an eine höhere Instanz zu delegieren. Als diese bot sich die NSDAP und v. a. ihr "Führer" Adolf Hitler an. Dabei dürfte in den Wahlen bis dahin der größte Teil der anhaltischen Angestelltenschaft für die liberalen Parteien votiert haben: 1918/19 für die Deutsche Demokratische Partei und seit 1920 zur Deutschen Volkspartei überwechselnd, von der sie seit 1930 zur NSDAP überging. Die liberalen Parteien hatten den Angestellten schon die "standesgemäße Lebensführung" nicht ermöglichen könne, als nun die Arbeitslosigkeit um sich griff orientierten sie sich neu. Dabei wirkte sich aus, dass die Angestelltenschaft schon von jeher stark nationalistisch eingestellt war, der die Mehrheit der kaufmännischen Angestellten repräsentierende Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband auch stark antisemitisch. Außerdem verfügten die Angestellten über keine traditionelle politische Loyalitätsbindung an eine bestimmte Parteirichtung; auch das erleichterte den Übergang zur NSDAP. Der unter den kaufmännischen Angestellten tonangebende und schon in seinem Statut die Aufnahme von Juden ausschließende Deutschnationale Handlungsgehilfenverband[164] hatte der nationalsozialistischen Bewegung - wie schon für die Nachkriegskrise dargestellt - das Bett bereitet. Es verwundert daher nicht, dass sich einzig unter den in Bernburg im Herbst 1931 neu gewählten elf NSDAP-Stadtverordneten auch zwei DHV-Mitglieder befanden.[165] In der NSDAP-Gesamtmitgliedschaft Bernburgs Ende 1931 war immerhin ein Viertel aller Mitglieder kaufmännische Angestellte. Die massive Option von Handels- und Buchhaltungsangestellten für den Nationalsozialismus wird auch auf die Bekanntschafts- und Verwandtschaftskreise und die dort zu findenden Angestellten und Beamten anderer Berufsfelder durchgeschlagen haben. Wie die Ergebnisse der Angestelltenversicherungswahlen ausweisen unterlag die gesamte Angestelltenschaft in der Weimarer Zeit einem deutlichen Rechtstrend. Herrschte in der Stadt Bernburg insgesamt noch 1922 Gleichstand zwischen allen drei Gewerkschaftsrichtungen, so war schon 1927 der sozialdemokratische AfA-Bund eindeutig auf den letzten Platz verwiesen - und das trotz anzunehmender relativer Verbesserung der sozialen Lage der Angestellten zumindest der älteren Jahrgänge in der relativen Stabilisierung.[166] Der Rechtstrend unter den Angestellten dürfte sich auch nach 1927 weiter fortgesetzt haben. Im Landkreis Bernburg hingegen scheinen sich die Umschichtungen vorerst zwischen dem liberalen GdA und dem konservativen Gedag vollzogen zu haben. Aus dem Jahre 1932 sind dann jedoch verstärkte Eintrittsbewegungen in die GdA-Ortsgruppen berichtet, die als "Flucht" der Angestellten aus dem AfA-Bund in den GdA gedeutet werden können.[167] |
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Auch
die Kandidatenaufstellung der SPD zu den Gemeinderatswahlen dokumentiert
den beschriebenen Rechtstrend in der Angestelltenschaft. Kamen in
Bernburg, Nienburg, Neundorf und Rathmannsdorf zusammen[171]
1919 noch 26 % aller SPD-Kandidaten aus der Angestelltenschaft,
so ging ihr Anteil schon 1921 auf 22 % zurück, um dann bei
17 % (1924) bzw. 18 % (1927/31) zu stagnieren.
Auch die in der NSDAP sichtbar überproportional vertretenen nichtindustriell-handwerklichen Arbeiter, die in Teilen der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung von jeher fern standen, waren in den Kommunikationszusammenhang der niederen Angestellten- und Beamtenschaft einbezogen. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass in Teilen der Facharbeiterschaft, insbesondere unter den Metallfacharbeitern und -Angelernten ein ähnlicher Rechtstrend oder zumindest eine partielle Abwendung von der sozialistischen Arbeiterbewegung existierte wie unter den Angestellten. Bis 1927 hatte es eine beständige Zunahme des Anteils der Metallfacharbeiter und -Angelernten an den Kandidaten der SPD zu den Gemeinderatswahlen gegeben; in den kontinuierlich mit Quellen zu belegenden Orten Bernburg, Nienburg, Neundorf und Rathmannsdorf zusammen 1919 13 %, 1921 16 %, 1924 20 %, 1927 27%. Im Jahr 1931 jedoch fiel ihr Anteil wieder deutlich auf 20 % zurück. Es ist davon auszugehen, dass Entwicklungen an der Basis mit einer gewissen Verzögerung bis in die Parteiorganisationen und die hier dokumentierte untere Funktionärskategorie 'durchgereicht' wurden. Inwieweit nun aber Teile der hochqualifizierten Facharbeiterschichten - für die hier die Metallfacharbeiter exemplarisch stehen - sich in ihrer politischen Haltung direkt am Beispiel der Angestellten orientierten, ist angesichts der Unkenntnis über die konkreten Komunikationszusammenhänge im sozialen und politischen "Grenzgebiet" kaum zu beurteilen. Zumindest scheint sich aber ihre Bindung an die sozialdemokratische Partei gelockert zu haben, wenn auch offene Übergänge zum Gegner schon aufgrund des internen Gruppendrucks gering blieben.[172]
Schon
im vorhergehenden Kapitel konnte exemplarisch für Emma Hentschel
aus der Landeshauptstadt Dessau gezeigt werden, dass die Mitgliedschaft
in der NSDAP zur Kompensation erlittener persönlicher Zurücksetzungen,
Misserfolge, Frustrationen oder dgl. benutzt werden konnte. In Zeiten
wirtschaftlichen Aufschwungs treten diese jedoch kaum hervor und
die Zahl der sich subjektiv als 'Verlierer' verstehenden ist überschaubar,
so dass auch der Zulauf für extremistische Parteien gering
bleibt. Das kennzeichnete die Situation in Bernburg zwischen 1925
und 1929. Die Weltwirtschaftskrise jedoch zerstörte massenhaft
Aufstiegshoffnungen und löste durch Massenarbeitslosigkeit,
Kurzarbeit und Konkurse massenhafte soziale Abstiegsbewegungen aus.
In späteren Befragungen, in erster Linie in den Entnazifizierungsverfahren
nach 1945, wurde seitens der Anfang der 30er Jahre eingetretenen
Parteimitglieder immer wieder die Bedeutung der grassierenden Arbeitslosigkeit
und des damit verbundenen drohenden oder realen sozialen Abstiegs
für diesen Schritt unterstrichen. Man könnte das durchaus
als Versuch der nachträglichen Reinwaschung ansehen, wenn nicht
auch andere zeitgenössische Quellen, die noch nichts von einer
späteren Entnazifizierung wissen konnten, dies bestätigen
würden. In
den Jahren der Weltwirtschaftskrise in die NSDAP eingetretene Personen
haben immer wieder auf die Bedeutung der Massenarbeitslosigkeit
für diesen Schritt hingewiesen. Angesichts der überproportionalen
Mitgliedschaft von Angestellten in der Partei muss daher die Angestelltenarbeitslosigkeit
als wesentlich die Ausbreitungsgeschwindigkeit und die Zusammensetzung
der Partei beeinflussend angesehen werden. |
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Noch charakteristischer als die Verteilung auf die Angestellten-Großgruppen
gestaltete sich die Altersverteilung der arbeitsuchenden Angestellten.
Zudem wies sie starke Parallelen zur Alterstruktur der Angestellten
in der NSDAP im Untersuchungsgebiet auf. Nach dem Stand vom 31.
Dezember 1930 zählten 68 % der männlichen arbeitsuchenden
Angestellten und 73 % der mit einer NSDAP-Mitgliedschaft 1929/30
registrierten Angestellten zur Kerngruppe der Geburtsjahrgänge
1893 bis 1912. Bei einer weiteren Eingrenzung auf die beschriebenen
Kernjahrgänge 1901 bis 1910 ergeben sich Werte von 41 % zu
43%.[187] |
Altersstruktur
der Angestelltenarbeitslosigkeit in den Arbeitsamtsbezirken Dessau, Bernburg
und Wittenberg 1930/31 (in % der als arbeitsuchend gemeldeten Angestellten
in der jeweiligen Altersgruppe)[188] |
||||||||
Altersgruppe |
männliche Angestellte |
weibliche Angestellte |
||||||
gesamt |
kaufmännische und Büro-Angestellte |
technische Angestellte |
gesamt |
|||||
31.12.30 |
31.12.31 |
31.12.30 |
31.12.31 |
31.12.30 |
31.12.31 |
31.12.30 |
31.12.31 |
|
bis 18 J. |
3 |
2 |
4 |
2 |
|
|
12 |
6 |
über 18 bis 21 J. |
13 |
10 |
16 |
15 |
6 |
2 |
24 |
21 |
über 21 bis 25 J. |
17 |
19 |
19 |
21 |
13 |
16 |
22 |
27 |
über 25 bis 30 J. |
20 |
17 |
18 |
14 |
24 |
20 |
15 |
15 |
über 30 bis 40 J. |
24 |
27 |
25 |
28 |
22 |
25 |
19 |
19 |
über 40 bis 45 J. |
8 |
8 |
5 |
6 |
11 |
10 |
3 |
5 |
über 45 bis 60 J. |
12 |
15 |
9 |
12 |
17 |
21 |
4 |
6 |
über 60 J. |
4 |
3 |
3 |
2 |
7 |
5 |
1 |
|
Summe |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
100 |
Eine
unter dem Schlagwort des "Problems der älteren Angestellten"
in der Weimarer Republik allgemein diskutierte besondere Notlage "älterer"
Angestellter jenseits eines Alters von 30 oder 35 Jahren ist anhand der
vorliegenden Arbeitslosigkeitsstatistik nicht zu erkennen. Sie waren keinesfalls
stärker von Arbeitslosigkeit und Deklassierung betroffen als ihre
jüngeren Kollegen (so man davon ausgeht, dass sie sich in gleichem
Maße wie diese erwerbslos meldeten).[189]
Die beschriebene zeitgenössische Diskussion ist wohl in erster Linie
als Forderung dahingehend zu verstehen, dass vor den jungen Angestellten
erst die "älteren" Angestellten zu versorgen wären.
Neben der allgemeinen Krise am Arbeitsmarkt und dem gleichzeitigen Auftreten
geburtenstarker Jahrgänge auf diesem wird auch die Umsetzung dieser
Forderung durch Arbeitgeber zu den überproportionalen Arbeitslosigkeitswerten
unter der jungen Generation beigetragen haben.[190]
Die
Hinwendung zur NSDAP hat - aus einer Außensicht heraus - gemeinhin
etwas irrationales. Die Weltwirtschaftskrise stellte jedoch einen großen
Teil vor allem junger und vor allem "bürgerlicher" Menschen
vor eine solche existentielle Bedrohung, dass sie dafür aus ihrer
Erziehung und ihrer eigenen Lebenserfahrung heraus keine Bewältigungsmuster
entwickeln konnten und eine 'Endzeitstimmung' entwickelten. In Reflektion
dieser 'Endzeitstimmung' bestanden in der "bürgerlichen"
Gesellschaft eine Reihe von Deutungsangeboten, die im wesentlichen von
den drei Säulen Ablehnung des Versailler Vertrages, Volksgemeinschafts-
und Führerglaube getragen wurden. Diese mussten von der NSDAP lediglich
aufgegriffen, komprimiert und am geradlinigsten vertreten werden.
Noch fragwürdiger als der Volksgemeinschaftsgedanke in seiner völligen Negierung gesellschaftlicher Widersprüche zeigte sich die darauf aufsetzende quasi-religiöse Überhöhung des "Führers".[205] Die Person des gesamtnational auftretenden "Führers" Adolf Hitler hob die NSDAP im Kreis Bernburg spätestens seit 1929 von den anderen völkischen Organisationen ab und sicherte ihr ihnen gegenüber auch in dieser Hinsicht einen nicht mehr aufzuholenden Vorteil, zumal es auch gelang, einen Teil des Hitler'schen Abglanzes auf den regionalen Stellvertreter, Gauleiter Wilhelm Loeper, zu übertragen. Hinzu kommt, dass z. B. der Wehrwolf als eigentlich ernst zu nehmender regionaler Konkurrent sich nicht annähernd so professionell zeigte wie die NSDAP und dessen aus Bernburg stammender "Führer" Fritz Kloppe in Halle nach wie vor einer Tätigkeit als Gymnasiallehrer nachging und es ablehnte, sich an Wahlen mit einer eigenen Liste zu beteiligen.
In der Hinwendung des Bund Oberland- und späteren Bernburger SA-Führers Hauptmann a. D. Freiherr Ulrich von Bothmer (geb. 1889) zur NSDAP wird die Zugkraft des Volksgemeinschafts-Gedankens deutlich. Bis 1929 war der Genralstabsoffizier des Ersten Weltkrieges, der es abgelehnt hatte, in die Reichswehr der Weimarer Republik übernommen zu werden und seit 1921 als kaufmännischer Angestellter der Metallwerke L. Kessler & Sohn in Bernburg tätig war, Parteigänger der Deutschnationalen Volkspartei gewesen. In seinen in den 50er Jahren niedergeschriebenen Erinnerungen bezeichnete er sich selbst aus seinem "ganzen Werdegang heraus [als] ein Kaisertreuer, treu dem Königshaus der Hohenzollern. Wohl sprachen mich die Ziele der NSDAP an. Ich sah in ihr den einzigen aussichtsreichen Gegner gegen Marxismus und Kommunismus und sah in dem Wollen der bürgerlichen Parteien einen Schrittmacher für den Marxismus, dem diese Parteien die breite Masse des Volkes über Not und Verzweiflung in die Arme trieb. Die Lehre 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz' fesselte so ganz mein Herz. [! - T.K.] - Ich gehörte innerlich schon lange zu diesen nationalen Sozialisten. Und doch fand ich den Weg zur Partei erst nach langem Widerstreben, weil mich die oft zu Tage tretende Ablehnung gegen Monarchie und Hohenzollerntreue abstieß. Erst als ich erkannte, dass die bürgerlichen Parteien, auch die königstreue DNVP, niemals in der Lage sein würden, den wertvollsten, unverdorbensten, am wenigsten von Fäulnis ergriffenen Teil des Volkes, die Arbeiterschaft, aus den marxistischen Fängen zu retten, verschrieb ich mich ganz der Partei. Es ging nicht um die Monarchie, sondern um das deutsche Volk, die Rettung Deutschlands vor dem Bolschewismus."[206] Damit übertrug er auch die früher dem Kaiser geltende unbedingte gläubige Gefolgschaft auf Adolf Hitler. Auch bei von Bothmer gingen Volksgemeinschaftsgedanke und Führergläubigkeit eine kaum aufzulösende Einheit ein. Ob der nach dem Ersten Weltkrieg erlittene individuelle gesellschaftliche Statusverlust, der Abstieg vom Offizier zum kaufmännischen Angestellten, bei von Bothmer auch die Akzeptanz der Volksgemeinschaft beförderte, ist nicht mehr aufzuklären. Der
spätere Bernburger Ortsgruppenleiter Bernburg-Wasserturm Kurt Kleinau
steht beispielhaft für jene Mitglieder, die vor ihrem NSDAP-Eintritt
noch nicht durch Mitgliedschaften im völkischen Spektrum hervorgetreten
waren.[207] Kurt Kleinau wurde
1899 in Bernburg geboren und schlug nach dem Besuch des Gymnasiums und
der Teilnahme am Ersten Weltkrieg wie schon sein Vater die kaufmännische
Laufbahn ein, zuerst seit 1919 als Volontär im Kaliwerk Solvayhall,
danach seit 1920 als kaufmännischer Lehrling in der Bernburger Eisenwarenhandelsfirma
Riebe. Nach der Lehre wurde er angestellter Reisender einer Magdeburger
Firma für Werkzeugmaschinen und Werkzeuge. Kurt Kleinau verstand
sich in dieser Funktion als einer herausgehobenen Angestelltenkategorie
zugehörig und legte großen Wert darauf, nicht mit einem einfachen
Vertreter gleichgesetzt zu werden.[208]
Aus der 1926 in einer wirtschaftlich sicheren Situation geschlossenen
Ehe sollten vier Söhne hervorgehen. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise
trafen Kurt Kleinau gleich zu deren Beginn; seine Magdeburger Firma musste
liquidiert werden und er erhielt die Kündigung zum Jahresende 1929.
Es gelang ihm aber, nach nur einem Vierteljahr von einer Leipziger Firma
für Werkzeugmaschinen und Werkzeuge in gleicher Funktion eingestellt
zu werden. Sehr wahrscheinlich hatte seine schnelle Einstellung bei einem
artverwandten Unternehmen auch damit zu tun, dass er im Gegensatz zu anderen
zu gleicher Zeit entlassenen Angestellten etwas anzubieten hatte, er nämlich
über genaueste Kundenkenntnis verfügte und eventuell auch die
Kundenkartei seiner Vorgängerfirma mit einbrachte. Allerdings verringerten
sich in seiner neuen Stellung seine Bezüge um ein Viertel bis ein
Drittel unter gleichzeitiger Ausweitung seines mit Reichsbahn und Fahrrad
zu bereisenden Arbeitsgebietes, dessen größte Erstreckung von
Wolfen-Bitterfeld bis nach Hannover-Kassel reichte. Eine akute materielle
Notlage der Familie ist trotz des reduzierten Einkommens - auch angesichts
der Tatsache, dass man kostengünstig im Haus der Schwiegermutter
wohnte - zu keiner Zeit zu erkennen. Doch das Damoklesschwert des sozialen
Abstiegs schwebte ständig über ihnen; nach einer Tagebuchaufzeichnung
vom August 1932 war Kurt Kleinau auch in seiner neuen Leipziger Firma
schon dreimal vorsorglich gekündigt worden und momentan schon seit
einem Dreivierteljahr auf Kurzarbeit von 75 % gesetzt, was natürlich
auch die Geldeinkünfte der Familie um ein weiteres Viertel reduzierte,
d. h. das Arbeitseinkommen hatte sich gegenüber 1929 etwa halbiert.
Normale Erwerbsverhältnisse sollten sich für ihn erst wieder
1934 ergeben.
|
Alfred
F. wurde 1908 als Sohn eines seit 1911 in Bernburg ansässigen Bäckermeisters
geboren. In den Jahren 1915 bis 1923 besuchte er das Bernburger Karls-Realgymnasium
bis zur Untertertia und trat danach bei der Firma Heinrich Koch Co. Zigarrenfabriken
Bernburg, in die kaufmännische Lehre ein, bei er auch nach Beendigung
der Lehrzeit bis Ende 1926 als Angestellter verblieb. Von Anfang 1927 bis
Mai 1929 war er bei der Bernburger Bank AG als Angestellter beschäftigt,
um dann im Juni 1929 als Bürobeamter in die Zentralverwaltung der Deutschen
Solvay-Werke AG in Bernburg überzuwechseln. Eine über längere
Zeit andauernde wirtschaftliche Notlage ist aus dieser lückenlosen und
eher einen beruflichen Aufstieg markierenden Erwerbsbiographie kaum zu konstruieren.
In gleicher Weise geradlinig wie seine Erwerbsbiographie vollzog sich sein
politischer Werdegang. Anfang 1924 war er im Alter von 14 Jahren Mitbegründer
des Scharnhorst, Ortsgruppe Bernburg, und trat im August desselben Jahres
zum Jungwolf, der Jugendorganisation des Wehrwolf, über. 1925 wurde er
dann dem Wehrwolf überwiesen, von dem aus er im Herbst 1926 zum Bund
Oberland übertrat. Nach der Auflösung des letzteren trat er per
1. Januar 1930 im Alter von 21 Jahren in die NSDAP und im Juli 1931 auch in
die SS ein. 1934 heiratete er die Tochter eines Bernburger Justizsekretärs,
eine ehemalige "Wehrwolf-Opferschwester".[214]
Angesichts seines geradlinigen beruflichen Werdeganges stellt sich die Frage nach den Gründen für sein kontinuierliches aktivistisches Engagement im völkischen Spektrum. So man denn subjektiv so empfundene und auf eine politische Ebene projizierbare Zurücksetzungen als mit verursachend für eine Radikalisierung annimmt, bietet sich hierfür im Falle F.'s eher die Erwerbsbiographie des Vaters an. Der Vater ist in den Bernburger Adreßbüchern als selbständiger Bäckermeister zweifelsfrei nur bis 1913 nachweisbar; nach dem Ersten Weltkrieg gab es die Bäckerei F. nicht mehr.[215] Damit wäre auch zu erklären, warum Alfred F. nicht, wie es vom Sohn eines Bäckermeisters zu erwarten gewesen wäre, den Bäckerberuf erlernte und das Handwerk des Vaters fortführte, sondern die Angestelltenlaufbahn einschlug. Sofern man vor allem in persönlichen Demütigungen den Hauptgrund für die Radikalisierung sehen möchte, so bietet sich im Falle Alfred F.'s das zu vermutende familiäre Trauma des Statusverlustes an, das zudem durch den Sohn eine Überantizipation erfuhr. Der Vater selbst ist nicht als NSDAP-Mitglied nachweisbar. * Zusammenfassend ist für das Untersuchungsgebiet festzustellen, dass der typische Nationalsozialist der Aufstiegsphase eben nicht der sadistische, womöglich noch aus dem Lumpenproletariat stammende prügelsüchtige SA-Mann war, sondern ein relativ junger, eher weicher Kleinbürger, dessen Lebensentwürfe sich vor dem Hintergrund eines überfüllten Arbeitsmarktes und der Weltwirtschaftskrise als nicht realisierbar erwiesen. Fragt man nach dem Gewinn, den die in der Organisation bleibenden Mitglieder der Jahre 1930/31 aus ihrer Mitgliedschaft zogen, so war es über alle dargestellten Gruppen hinweg ein Zugewinn an Selbstwertgefühl und subjektiver Zukunftsgewißheit.
Am
24. April 1932 waren die anhaltischen Nationalsozialisten am Ziel. In den
Landtagswahlen gewannen sie 15 der 32 Mandate und konnten in der Folge eine
nationalsozialistisch-rechtsbürgerliche Regierung unter dem nationalsozialistischen
Staatsminister Dr. Freyberg, bis dahin Rechtsanwalt im preußischen Quedlinburg,
bilden.[217] Schon in den Kommunalwahlen
im Oktober 1931, als die NSDAP in den Städten ihren Erfolg aus den Reichstagswahlen
des Vorjahres wiederholen konnte,[218]
hatte sich dieser Wahlsieg angedeutet. Die
Möglichkeiten zur Verhinderung der nationalsozialistischen Machtübernahme
in Anhalt waren von vornherein äußerst begrenzt. Die NSDAP stellte
nach der Landtagswahl vom April 1932 mit ihren 15 Landtags-Mandaten einen
derartig großen Block dar - 19 Mandate waren für eine Mehrheit
nötig -, dass eine Regierungsbildung ohne sie kaum möglich war.
Es hätten schon KPD, SPD, DDP, DVP und der Anhaltische Hausbesitz ein
Bündnis schließen müssen, um die NSDAP von der Regierung fernzuhalten.
Ein vollkommen utopisches Projekt, schließlich liefen gleich zwei 'Feindeslinien'
durch diese gedachte Gruppierung. Doch war die Regierungsbildung der NSDAP
nicht unausweichlich. Die vom ehrgeizigen Dessauer Rechtsanwalt Dr. Eisenberg[233]
geführte Deutsche Volkspartei hätte es in der Hand gehabt, durch
ihre Verweigerung nur eine Minderheitsregierung aus NSDAP, DNVP und Hausbesitz
zuzulassen; hätte der Hausbesitz sich auch noch verweigert wären
Neuwahlen die unweigerliche Folge gewesen. Das konnte jedoch nicht in der
Intention der DVP liegen. Man hatte seit mehr als einem Jahrzehnt daran gearbeitet,
die verhasste Sozialdemokratie endlich abzuservieren. Aus welchem Grunde sollte
man sich jetzt dem endgültigen Sieg verweigern - auch wenn dieser von
einer anderen Partei erzielt worden und man selber nur noch Zaungast des Geschehens
war? Trotz
des Mitglieder- und Wähleraufschwungs der NSDAP gab es in Bernburg und
den benachbarten Orten keinen den umliegenden preußischen Gebieten vergleichbaren
SA-Terror. In erster Linie verantwortlich dafür scheint die Person des
schon erwähnten SA-Führers von Bothmer gewesen zu sein, der Gewalt
als Mittel der Politik ablehnte. Bothmer selbst schrieb in seinen Erinnerungen:
"Ich war ein eifriger S.A. Führer, besaß in meinem S.A.- Reservesturm
eine große Gefolgschaftstreue und Liebe, aber dieser 'Reserve'-Sturm
war bei den jungen 'aktiven' Stürmern und vor allem bei ihren Führern
nicht beliebt. Unbeliebt nicht etwa, weil wir ein 'Altherren-Sturm' waren,
der sich schonte, nur angab. Oh nein, wir setzten uns vorbildlich ein, alles
alte Soldaten des ersten Weltkrieges, die das Fürchten verlernt hatten.
- Nein, wir hatten, was Dienstauffassung, Einsatzfreudigkeit, betraf, den
besten Ruf auch bei den 'Aktiven'. Wo wir einen Saalschutz übernahmen
oder in kommunistische oder marxistische Versammlungen als Schutz für
unsere Diskussionsredner geschickt wurden, da kam es niemals zu ernstlichen
Zusammenstößen und Schlägereien, weil von uns keine Provokationen
erfolgten und weil wir aber in der Haltung alter Soldaten zum Ausdruck brachten,
daß wir, sollte es zu handgreiflicher Auseinandersetzung kommen, unseren
Mann stehen würden. Auch unsere politischen Gegner achteten uns. So wurden
die SA- Reservisten Bothmers gerne dorthin geschickt, wo es brenzlig roch
und doch Wert auf ruhigen Ablauf gelegt wurde. Auch die übergeordnete
SA.- Führung und politische Leitung wußte: 'Da passiert nichts.'
- Auch die Polizei sah uns deshalb gerne. Aber wir waren nicht beliebt, und
ich war ein Dorn im Auge den S.A.- Vorgesetzten, dem Sturmbannführer
R., dem Standartenführer M.; denn wir waren keine Rabauken, wir lehnten
das rabaukenhafte Auftreten ab. - Ich selbst erlitt manche Kränkung:
'Der Hauptmann', 'der verkappte Reaktionär'. Man machte es mir schon
nicht leicht, immer diszipliniert mit Überwindung manch inneren Widerstandes
die übernommenen Pflichten durchzuhalten. - Oft verstanden mich auch
selbst die Getreuen nicht, wenn ich streng darauf sah, daß nicht einmal
ein 'wilder Mann' vor besonders gefährlichem Einsatz eine Schußwaffe
einsteckte. Nicht immer fand ich Verständnis, wenn ich sagte: 'Nur der
Feige und Schwächling greift zur Pistole. Der Starke verläßt
sich auf sein tapferes Herz und seine Kräfte.' - Denke ich an diese Zeit
zurück, so muß ich sagen: 'Politiker' war ich nicht. - S.A.- Mann.
Ein Mann, der bereit war, unter persönlichem Einsatz die politische Führung
vor Terror zu schützen."[250]
Freilich war auch von Bothmer nicht davon frei, die öffentliche Präsenz
der SA zur Einschüchterung politischer Gegner zu nutzen.[251]
Die Sonderrolle Bernburgs in Bezug auf den SA-Terror drückt sich auch in der von politischen Auseinandersetzungen geforderten Zahl der Todesopfer aus. Nach dem ersten Toten anlässlich des schon geschilderten Vorfalls aus dem Jahre 1923 wurde erst am 3. März 1933 wieder ein wohl dem kommunistischen Spektrum zuzurechnender Arbeiter aus einer vorbeiziehenden NS-Demonstration heraus erschossen.[254] Doch nach dem Weggange des SA-Sturmbannführers von Bothmer kam es unter dem aus Staßfurt geholten Sturmbannführer Kautz zu gleichen Zuständen wie in Staßfurt-Leopoldshall und Hecklingen. In Staßfurt hatte es schon im Herbst 1932 bei schweren Zusammenstößen drei Tote gegeben und am 4. Februar 1933 schließlich war der sozialdemokratische Erste Bürgermeister Hermann Kasten auf offener Straße von einem nationalsozialistischen Oberschüler erschossen worden.[255] Die bisher in Bernburg unterlassenen systematischen Misshandlungen der unterlegenen politischen Gegner wurden in Bernburg in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1933 'nachgeholt'.[256] Beschäftigungsverhältnisse
im öffentlichen Dienst unterlagen seit 1933 der vorherigen Überprüfung
auf politische Zuverlässigkeit seitens der zuständigen NSDAP-Kreis-
oder auch Gauleitung. In deren Ergebnis wurde eine Anzahl von Angestellten
und Beamten entlassen und durch "alte Kämpfer" ersetzt, in
der Stadtverwaltung Bernburg betraf dies z. B. aufgrund des "Gesetzes
zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums mindestens sechs exponierte ehemalige
SPD-Mitglieder und eine "Halbjüdin".[257]
Diese Entwicklung vorausahnend hatten schon 1932 Beamte und Angestellte (sogenannte
"Mantelträger") die SPD anscheinend in größerer
Zahl verlassen.[258] Die
Motivationen der Wählerschaft, die 1932 zu einem Wahlerfolg führten,
in dem die NSDAP immerhin knapp drei Viertel der Stimmen des "nationalen"
Wählerlagers im Land Anhalt auf sich vereinigen konnte,[265]
sind im einzelnen nicht mehr nachzuvollziehen. Offensichtlich scheint aber
die Kombination aus der Projizierung einer 'jüdisch-bolschwistisch-imperialistischen
Weltverschwörung' und der darauf aufsetzenden Lösungsmöglichkeit
in Form der "Volksgemeinschaft" für die Wählerschaft von
hoher Plausibilität gewesen zu sein. Eine besondere Rolle kam insbesondere
der grassierenden Bolschewismusfurcht zu, ein großer Teil der "bürgerlichen"
Wähler meinte, nur noch zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus
wählen zu können. Selbst der der NSDAP scharf gegnerisch gegenüberstehende
Ballenstedter Pfarrer i. R. Karl Windschild aus dem anhaltischen Nachbarkreis
notierte unter dem 6. März 1933 in sein Tagebuch, bezugnehmend auf die
stattgefundenen Reichstagswahlen: "Daß die Kommunisten verloren
haben, ist ja zu begrüßen; denn besser als der Koziterror ist auch
der schlimmste Naziterror noch."[266]
Wenn er auch in der Zukunft sich korrigieren musste, so sollte der "Bolschewismus"
für ihn doch eine wesentliche Bezugsgröße bleiben. Zur ständigen
Neukonstituierung einer Bedrohungslage im Bewusstsein aller Bevölkerungsschichten
trug sicherlich auch - über den politischen Bereich hinaus - das seit
jeher übliche permanente genüssliche Ausweiden aller irgendwie vorgekommenen
und vermeldeten Gewaltverbrechen in den Zeitungen aller politischen Richtungen
bei. Einerseits bestand sicherlich ein Bedürfnis an solcherlei 'Information'
- das Publikum war augenscheinlich von Gewaltakten fasziniert -, andererseits
verabscheute es diese und wünschte sich eine "heile" Welt. ![]()
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Der
Erfolg der NSDAP 1932 zog jene in Scharen an, die glaubten,
dass auch mit einem nationalsozialistischen Parteibuch Karriere
zu machen war, ja mehr noch, dass man es für bestimmte
Karriereschritte oder geschäftlichen Erfolg in Zukunft
sogar benötigen würde. Die Eintrittswelle der Jahre
1932/33 trug die Partei im Untersuchungsgebiet auf eine Stärke
von etwa 1.800 Mitgliedern Ende 1933.[274]
Allerdings, und das ist erstaunlich, die von der SPD als bislang
größter Partei im Untersuchungsgebiet erreichten
Gesamt-Mitgliederzahlen (Ende 1928 3.606 Mitglieder) wurden
von der NSDAP erst im Jahre 1937 übertroffen.[275]
Auch
der spätere Gerichtsvollzieher Kurt Hesse, der während seiner Wehrdienstzeit
1940 formell dem Amtsgericht Bernburg überwiesen worden war, hatte 1934
mittels einer wahrscheinlich auf seinen eigenen Wunsch ausgestellten Bescheinigung
über die Parteimitgliedschaft versucht, seine Karriere zu beschleunigen.
Eine solche Bescheinigung war zu dieser Zeit jedoch vollkommen ungewöhnlich.
Vielmehr wurde seitens des Oberlandesgerichts bei Bewerbern dieser Hierarchiestufe
jeweils routinemäßig bei der NSDAP-Gauleitung angefragt, ob der
Bewerber politisch unbedenklich sei.[289]
Für einen normalen Karriereverlauf wäre die standardgemäße
Formulierung "Charakter und politische Zuverlässigkeit sind in keiner
Weise zu beanstanden" hinreichend gewesen. Eine Parteimitgliedschaft
war bis 1937 dafür nicht zwingend erforderlich, eine SA- oder ähnlich
gelagerte Mitgliedschaft erschien vollkommen ausreichend. Es drängt sich
also eher der Verdacht auf, dass der schon drei Jahre in Wartestellung befindliche
Versorgungsanwärter Hesse mit der eingereichten Bescheinigung über
die Parteizugehörigkeit sicher gehen und seine "Einberufung",
d. h. die Übernahme in den Justizdienst, herbeiführen wollte.[290]
Der
im gesamten Deutschen Reich seit Anfang 1933 auftretende extreme Mitgliederzulauf
veranlasste die NSDAP-Führung dazu, mit Wirkung vom Mai 1933 eine reichsweite
Aufnahmesperre zu verhängen, die nur wenige Ausnahmen, z. B. Übernahmen
aus SA, SS, NSBO, HJ und Stahlhelm, zuließ. Neben rein technischen Gründen
- man kam mit der Erfassung der Neumitglieder und der Bildung neuer Ortsgruppen
nicht mehr hinterher - war in erster Linie die unerwünschte Zusammensetzung
der Neumitgliedschaft für den Erlass der Aufnahmesperre ausschlaggebend.
Schließlich bestand der Wille, dem Untertitel "Arbeiterpartei"
zumindest in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft auch gerecht zu werden
und - so wörtlich der Reichsorganisationsleiter Ley in einer internen
Untersuchung - "Konjunkturritter" von der Partei fernhalten. Doch
die Vielzahl der bereits vollzogenen und bei einer Lockerung der Aufnahmesperre
noch zu erwartenden Neueintritte ließen dieses Ziel in weite Ferne rücken.
Denjenigen aber, die ihre "positive Stellung zum nationalsozialistischen
Staat" dokumentieren wollten, blieb seit Mai 1933 nur der Eintritt in
die Anhangsorganisationen SA, SS, Nationalsozialistisches Kraftfahrer-Korps,
Nationalsozialistisches Fliegerkorps, Nationalsozialistische Frauenschaft,
Nationalsozialistische Volkswohlfahrt u. a.
Die
vorwiegend opportunistische Eintrittsmotivation der Neumitglieder in der Masseneintrittswelle
1932/33 schlug sich auch in deren veränderter sozialer Zusammensetzung
nieder.[325] Allein 28 % der Neueintretenden
1932 und 39 % der Neueintretenden 1933 sind dem öffentlichen Dienst zuzuordnen
(1931 noch 13 %). Deren kompakteste Gruppe stellten die Lehrer mit 13 % aller
Neumitglieder 1933. Insgesamt stieg der Anteil der Angestellten und Beamten
unter den Neumitgliedern von 36 % 1931 über 46 % 1932 auf 54 % 1933.
Im gleichen Zeitraum fiel der Arbeiteranteil unter den Neumitgliedern von
40 % 1931 über 30 % 1932 auf 27 % 1933. Dieser Rückgang ist um so
bemerkenswerter als die NSDAP spätestens in den Landtagswahlen vom April
1932 deutlich in das bisherige (Wechsel-)Wählerpotential der Arbeiterparteien
hatte einbrechen können. Im Eintrittsverhalten findet dies jedoch keine
Widerspiegelung. |
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Im
Zuge der Eintrittswelle 1932/33 stieg auch der Frauenanteil unter den
Neueintretenden von 2 % 1931 auf 6 % 1932 bzw. 5 % 1933, was insgesamt
allerdings nur schwer zu deuten und am wahrscheinlichsten wohl der Ausdehnung
in die Breite der Familien zuzuschreiben ist.
In der Verteilung der nationalsozialistischen Mitgliedschaft sind zwischen industriell und landwirtschaftlich strukturierten Orten keine wesentlichen Unterschiede festzustellen. Insofern gibt es - auf das Untersuchungsgebiet bezogen - keine Belege dafür, das evangelische Land für das "Stammilieu" der NSDAP zu halten.[329] Wie schon 1931 entfielen auch 1932 44 % der Neueintritte auf die Kreisstadt Bernburg, 1933 waren es sogar 46 %; hinzu kamen 25 % bzw. 27 % in der Summe der Kleinstädte Güsten, Hecklingen, Nienburg, Sandersleben und in Neundorf. Die Konstruktion eines ländlich-evangelischen "Stammmilieus" der NSDAP erscheint auch angesichts der teilweise sehr scharfen Konkurrenz zwischen NSDAP und Stahlhelm und der daraus folgernden Instabilität der NSDAP in den ländlichen Orten als nicht sehr glaubwürdig. Aus Hohenerxleben z. B. wird noch Anfang Februar 1933 berichtet, dass die dortige NSDAP-Ortsgruppe durch die Rückkehr der meisten Mitglieder zum Stahlhelm "aufgeflogen" sei.[330] Erst mit der Übernahme der jeweiligen lokalen Stahlhelm-Gruppierung konnten sich auch die ländlichen NSDAP-Ortsgruppen stabilisieren. Noch Ende 1932 hatten die Orte mit mehr als 75% landwirtschaftlicher Bevölkerung die geringste NSDAP-Mitgliedschaftsquote aufzuweisen, ein Jahr später jedoch bereits die höchste! Der NSDAP fiel es vor 1933 offensichtlich sehr schwer, auf den Dörfern, vor allem den landwirtschaftlich dominierten, geeignete Führungspersönlichkeiten zu rekrutieren. Grob gesagt ging Dorfgemeinschaft vor "Volksgemeinschaft", nationalsozialistischer Fanatismus hatte hier kaum einen Platz.[331]
Der
massenhafte Zustrom neuer karrierebewusster Mitglieder in die Partei führte
zwangsläufig zu einer Vielzahl von Konflikten. Er müsse sich
zur Zeit "dem überschäumenden Drängen zahlreicher
Parteigenossen an die Futterkrippe entgegenstemmen"[335]
berichtete der NSDAP-Gauleiter von Magdeburg-Anhalt, Wilhelm Loeper, am
5. April 1933 an den NSDAP-Reichsorganisationsleiter Dr. Ley. Die "alten
Kämpfer" wollten versorgt werden und etliche Neumitglieder hatten
1933 ein Tauschgeschäft vollzogen: Parteibuch gegen Karriere bzw.
Funktionserhalt.
Die
seit dem 1. Mai 1933 in der NSDAP geltende "Mitgliedersperre"
für die Neuaufnahme von Mitgliedern kannte nur wenige Ausnahmen,
in der Regel für die Aufnahme von Mitgliedern aus NS-Anhangsorganisationen
heraus. Demzufolge blieb das Aufnahmevolumen in den Folgejahren gering.
Im Jahre 1937 schließlich wurde seitens der NSDAP-Reichsleitung
eine sogenannte "Lockerung" der Mitgliedersperre verkündet.
In der Praxis bedeutete diese "Lockerung" die erneute vollständige
Öffnung der Partei für Neueintritte. Lediglich "Staatsfeinden"
und "Juden" blieb der Zugang zur Partei versperrt.[349]
Die Größenordnung dieses späteren Zulaufs hatte sich schon Jahre zuvor in der Höhe des nationalsozialistischen Zeitungsbezugs angedeutet. Schon im März 1935 betrug die Auflage der offiziellen NS-Lokalzeitung "Der Mitteldeutsche. Anhalter Nachrichten" (Zweigbetrieb Bernburg der Magdeburger Trommler-Verlags-GmbH) 7.222 Stück.[355] Darüber hinaus erschien in Bernburg jedoch nach wie vor auch der ehemals volksparteiliche "Anhalter Kurier". Es bestand demzufolge keine Notwendigkeit, die erst 1932 ins Leben gerufene NS-Zeitung zu halten - es sei denn, man beabsichtigte auch auf diesem Wege, nationalsozialistische Gesinnung deutlich sichtbar zu bekunden.
Auch
die seit 1937 erfolgenden Eintritte waren in ihrer übergroßen
Mehrheit von Opportunismus getragen. Es wäre allerdings verfehlt,
die Neumitglieder der Jahre 1937/38 nur als jene sehen zu wollen, die
es 1933 vor der "Schließung" der Partei 'nicht mehr rechtzeitig
geschafft' hatten. Dagegen spricht, dass für diesen Schritt bis zum
1. Mai 1933 genügend Zeit zur Verfügung gestanden hatte, die
"Schließung" der Partei für Neuaufnahmen zuvor bekannt
geworden war und es wohl auch nach dem 1. Mai 1933 noch einige auf dieses
Datum rückdatierte Eintritte gegeben hatte. Die 1937er NSDAP-Mitglieder
waren 1933 in der Regel Mitgliedschaften in anderen NS-Organisationen,
in SA, SS, NSKK etc., auch im zu dieser Zeit noch formell selbständigen
Stahlhelm, eingegangen. Diese sollten aus ihrer damaligen Sicht die "positive
Stellung zum nationalsozialistischen Staat" hinreichend dokumentieren.
Mit der Zunahme des Konformitätsdrucks ab 1937 erwies sich dies aber
sowohl aus Sicht der den Eintrittsdruck Ausübenden als auch aus ihrem
eigenen Blickwinkel als nicht mehr genügend. Die opportunistischen
Verhaltensweisen der Jahre 1932/33 und 1937/38 sind demzufolge deutlich
anders gelagert: im ersten Fall vorauseilender Gehorsam von Personen,
die in ihrer übergroßen Mehrheit aus eigenem Antrieb zur Partei
stießen, im zweiten Fall eher nachfolgender Gehorsam von Personen,
die seit 1937 mehrheitlich Opfer des auf sie von verschiedenen Stellen
ausgeübten Drucks zum Beitritt wurden.
Die
Eintrittswelle der Jahre 1937/38 stellt sich hinsichtlich der Zusammensetzung
der Neumitgliedschaft als Fortsetzung der Eintrittswelle des Jahres 1933
dar.[408] 53 % der Neueintretenden
des Jahres 1937 waren Angestellte und Beamte (1933: 54 %); bis 1940 sollte
ihr Anteil unter den Neueintritten dann sogar auf 61 % steigen. 41 % der
Neueintritte kamen 1937 aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes
(1933: 39 %); 1940 sollten nach einem zwischenzeitlichen Rückgang
sogar 43 % erreicht werden. Auch das weiter steigende Durchschnittsalter
der Neueintritte von 38,9 Jahren 1937 (1933: 36,4 Jahre) deutet auf ungebrochene
Kontinuität hin. Gleiches gilt für die Altersverteilung innerhalb
der Neumitgliedschaft, in der die Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912
mit 67 % bzw. 66 % aller Neueintretenden 1937 bzw. 1938 noch stärker
dominierten als 1932/33 (jeweils 61 %). Auch die Geburtsjahrgangsgruppe
1901 bis 1910 findet sich unter den Neueintritten mit 32 % bzw. 31 % 1937/38
auf dem gleichen Niveau vertreten wie noch 1933 (31 %).[409]
Innerhalb dieser Kernjahrgangsgruppen waren auch 1937/38 Arbeiter überproportional
vertreten, während Angestellte und Beamte leicht unter dem Durchschnitt
blieben.
Die einzige gravierende Veränderung in der Zusammensetzung der Neumitgliedschaft war die kontinuierliche Steigerung des Frauenanteils unter den Neueintretenden von 9,6 % 1937 (1933: 5,4 %) auf 39,4 % im Jahre 1943. Die Voraussetzung für diesen enormen Zulauf bildete die Aufhebung der bis dahin bestandenen Eintrittsbeschränkungen gegenüber Frauen (maximal 5 % der Mitgliedschaft) durch die NSDAP-Reichsleitung 1937.[411] Angesichts der bis dahin in der NSDAP vorherrschenden Ausgrenzung der Frauen aus dem politischen Bereich[412] ist dies erstaunlich, doch als alleinverursachend ist diese Freigabe nicht anzusehen. Vielmehr müssen diese Eintritte in erster Linie dahingehend interpretiert werden, dass Frauen in stärkerem Maße als bisher - sofern sie berufstätig waren - nicht mehr nur eine Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft angetragen wurde.[413] Zumindest einem Teil von ihnen scheint - gleich den Männern - auch eine Parteimitgliedschaft abverlangt worden zu sein. Insbesondere Frauen im öffentlichen Dienst unterlagen dem geschilderten Beitrittsdruck in ähnlicher Weise wie ihre männlichen Kollegen.[414] Nichts illustriert dies stärker als die Tatsache, dass für 21 % aller 1937 im Untersuchungsgebiet beitretenden Frauen eine Tätigkeit als Lehrerin nachgewiesen werden konnte (das entspricht 47 % aller berufstätigen weiblichen Neumitglieder!) Nach Kriegsbeginn übernahmen Frauen zudem infolge der Einberufungen vielfach Tätigkeitsbereiche der eingezogenen männlichen Kollegen und 'erbten' damit wohl in einigen Fällen auch deren vorausgesetzte NSDAP-Mitgliedschaft. Doch ungeachtet der veränderten Umfeldbedingungen erreichten auch in den Folgejahren die weiblichen NSDAP-Eintritte auf gleicher Hierarchiestufe nicht jenen Umfang wie auf Seiten der männlichen Kollegen. In der Stadt- und Kreissparkasse Bernburg z. B. befanden sich im Bereich der im regulären Beschäftigungsverhältnis stehenden Angestellten zum Kriegsende 1945 unter den Männern 61 % NSDAP-Mitglieder, unter den Frauen jedoch nur 25%.[415] Ein gleiches Bild zeigt sich auf der Ebene der Arbeitsvermittler und Leitungspersonen des Arbeitsamtes Bernburg, einer 72 %igen Mitgliedschaftsquote der Männer stand eine 'nur' 36 %ige der Frauen gegenüber.[416] |
NSDAP-Mitglieder
unter dem Personal der Stadt- und Kreissparkasse Bernburg, Stand
30.08.1945
(alle Zweigstellen, einschließlich der kriegsgefangenen und vermissten Wehrmachtsangehörigen)[417] |
||||||||||||||||||||||
Jahr des NSDAP- Beitritts |
Direktor, (Ober) Inspektor, Revisor, (Ober-) Sekretär |
Ange- stellte |
Zwischen-
summe regulär Beschäf- tigte im Angestell- tenstatus |
Kriegs-
aushilfs- ange- stellte |
Anlern- linge |
Lehr- linge |
Heizer, Bote, Reine- mache- frauen |
SUMME |
||||||||||||||
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ml. |
wbl. |
ml. |
wbl. |
ml. |
wbl. |
ml. |
wbl. |
ml. |
wbl. |
ml. |
wbl. |
ml. |
wbl. |
ml. |
wbl. |
ges. |
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nicht Mitglied |
3 |
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6 |
9 |
9
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9
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5 |
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10 |
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34 |
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1933 |
1 |
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0
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1934 |
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1935 |
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0 |
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1937 |
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16 |
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1938 |
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2 |
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2 |
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1939 |
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0 |
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1940 |
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1 |
0 |
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1941 |
2 |
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2
|
0
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|
|
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1 |
2 |
1 |
3 |
|||||
1942 |
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|
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0
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0
|
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|
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|
1 |
|
1 |
0 |
1 |
||||||
1943 |
|
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|
1 |
0
|
1
|
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2 |
|
1 |
|
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0 |
4 |
4 |
|||||
1944 |
|
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0
|
0
|
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1 |
|
|
|
1 |
0 |
1 |
|||||
Eintritts- datum unbekannt |
|
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1 |
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1 |
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1 |
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|||||
unbekannt, ob Mitglied[418] |
|
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5 |
|
5
|
0
|
|
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|
|
11 |
|
|
|
16 |
0 |
16 |
|||||
SUMME absolut |
15
|
0
|
28
|
12
|
43
|
12
|
0
|
6
|
0
|
12
|
19
|
6
|
2
|
7
|
64
|
43
|
107
|
|||||
NSDAP-
Mitglieder |
80
|
0
|
61
|
25
|
65
|
25
|
0
|
17
|
0
|
17
|
11
|
17
|
50
|
29
|
47
|
19
|
36
|
Ehemalige NSDAP-Zugehörigkeit unter den Beschäftigten
des Arbeitsamtes Bernburg per 31. August 1945[419] |
||||||||||||||||||||||
Hilfskräfte[420] |
Arbeitsvermittler und Leitungspersonen[421] |
Gesamt |
||||||||||||||||||||
![]() |
ml. ![]() |
wbl. ![]() |
ml. ![]() |
wbl. ![]() |
ml. ![]() |
wbl. ![]() |
gesamt ![]() |
|||||||||||||||
Dienststelle Bernburg | ||||||||||||||||||||||
- Beschäftigte insgesamt |
5 |
12 |
19 |
13 |
24 |
25 |
49 |
|||||||||||||||
- NSDAP-Mitglieder gesamt |
1 |
2 |
15 |
3 |
16 |
5 |
21 |
|||||||||||||||
|
20
|
17
|
79
|
23
|
67
|
20
|
43
|
|||||||||||||||
- Eintrittsjahre: |
1940: 1 |
1940: 1 1942: 1 |
1933: 7 1937: 6 1941: 2 |
1935: 1 1940: 1 1943: 1 |
||||||||||||||||||
Nebenstelle Staßfurt | ||||||||||||||||||||||
- Beschäftigte insgesamt |
2 |
6 |
4 |
6 |
6 |
12 |
||||||||||||||||
- NSDAP-Mitglieder gesamt |
4 |
3 |
4 |
3 |
7 |
|||||||||||||||||
|
0
|
0
|
67
|
75
|
67
|
50
|
58
|
|||||||||||||||
- Eintrittsjahre: |
1937: 2 1940: 1 1941: 1 |
1937: 1 1938: 1 1941: 1 |
||||||||||||||||||||
Nebenstelle Calbe | ||||||||||||||||||||||
- Beschäftigte insgesamt |
2 |
4 |
3 |
4 |
5 |
9 |
||||||||||||||||
- NSDAP-Mitglieder gesamt |
1 |
2 |
1 |
2 |
2 |
4 |
||||||||||||||||
|
0
|
50
|
50
|
33
|
50
|
40
|
44
|
|||||||||||||||
- Eintrittsjahre: |
1943: 1 |
1937: 1 1938: 1 |
1941: 1 |
|||||||||||||||||||
GESAMT | ||||||||||||||||||||||
- Beschäftigte insgesamt |
5 |
16 |
29 |
20 |
34 |
36 |
70 |
|||||||||||||||
- NSDAP-Mitglieder gesamt |
1 |
3 |
21 |
7 |
22 |
10 |
32 |
|||||||||||||||
|
20
|
19
|
72
|
35
|
65
|
28
|
46
|
Frauen
werden NSDAP-Mitgliedschaften nicht nur zum direkten eigenen Nutzen eingegangen
sein; vielmehr muss bei einer Vielzahl der von Hausfrauen erworbenen Mitgliedschaften
davon ausgegangen werden, dass sie durchaus auch zur Befestigung der Position
des Ehemanns gedacht waren. Auffällig ist aber, dass Frauen von Ortsgruppenleitern
in der Regel nur über Mitgliedschaften in der NS-Frauenschaft verfügten,
ihre Männer bedurften solcherart Unterstützung aufgrund ihrer
gefestigten Stellung anscheinend nicht.
|
![]() |
In
ähnlichem Maße bedeutend wie die Erhöhung des Frauenanteils
war die erneut einsetzende Konzentration der Mitgliedschaft in der Kreisstadt.
1937 wurden 60 % aller Eintritte in Bernburg vollzogen (1933: 46 %), eine
Größenordnung, die auch in den Folgejahren Bestand haben sollte.
Auch dieses Phänomen ist primär mit der eingangs des Kapitels
skizzierten dominierenden opportunistischen Eintrittsmotivation zu erklären.
In Bernburg wohnten in ungleich höherem Maße als in den Kleinstädten
und Dörfern des Kreises Beschäftigte, für deren Verbleiben
im Beruf oder auf der jeweiligen konkreten Position eine Parteimitgliedschaft
vorausgesetzt wurde.
Im Gefolge der Eintrittswellen von 1932/33 und 1937/38 gestaltete sich die Verteilung der NSDAP-Mitglieder sehr ungleich. Das betraf nicht nur die Konzentration auf bestimmte Berufsgruppen und die Kreisstadt, sondern vor allem eine ungleiche Verteilung über die verschiedenen Wirtschaftsbereiche hinweg. Unter Einbeziehung aller bis 1944 eingegangenen NSDAP-Mitgliedschaften reicht die Spanne vorgefundener Mitgliedschaftsquoten von 65 % im Finanzamt Bernburg bis hinunter zu etlichen Betrieben ohne jedes Parteimitglied. Im Allgemeinen gilt, dass mit der Zunahme administrativ-verwaltender Tätigkeit auch die NSDAP-Mitgliedschaftsquote stieg. Der öffentliche Dienst findet sich ausnahmslos mit Spitzenwerten wieder, und das sogar dann, wenn es sich um Bereiche mit einem hohen Arbeiteranteil handelt. Diese Verteilung bestätigt somit indirekt, dass der größere Teil der Beitritte durch individuellen Opportunismus und durch Druck auf die potentiellen Mitglieder erzielt wurde.[425] Anderenfalls wäre eine gleichmäßigere Verteilung der NSDAP-Mitgliedschaft über die Unternehmen vorzufinden gewesen. Die Ungleichverteilung der Mitgliedschaft wiederholte sich auf innerbetrieblicher Ebene; je höher die Hierarchiestufe im öffentlichen Dienst, desto höher auch der Prozentsatz der NSDAP-Mitglieder.[426] In den Betrieben der Privatwirtschaft war es vor allem die Angestelltenschaft, die die NSDAP-Mitglieder stellte; bei den unmittelbaren Unternehmensleitern ist eher Zurückhaltung zu beobachten. So war z. B. der Vorstand der Deutschen Solvay-Werke in seiner Zusammensetzung des Jahres 1935[427] gänzlich ohne Parteimitglied, lediglich der nachgeordnete Direktor der Abteilung Kaliwerke Bernburg-Solvayhall gehörte zu den 1933er "Maiveilchen".[428] Auch in der Zuckerfabrik Bernburg-Dröbel war der Generaldirektor nicht Mitglied der Partei geworden. Der ihm unmittelbar nachgeordnete technische Direktor (zugleich Prokurist) trat jedoch 1936, der Prokurist 1933, der Handlungs-Bevollmächtigte 1933 ein. Einem Assistenten kann eine Mitgliedschaft nicht nachgewiesen werden (gleichwohl waren aber seine Töchter Parteimitglieder). Der Siedemeister der Zuckerfabrik trat 1933, der Maschinenmeister 1937 und der Waagemeister 1933 ein. Mindestens drei Viertel der unmittelbaren Unternehmensführung hatten also bis 1937 den Weg in die Partei gefunden.[429] Trotzdem dieser Wert nominell sehr hoch erscheint (in der Gesamtbelegschaft der Zuckerfabrik konnte nur eine NSDAP-Quote von 16% ermittelt werden[430]), dürfte er trotzdem nicht dadurch verursacht sein, dass der Stützpunkt- bzw. Ortsgruppenleiter Dröbel-Latdorf als Buchhalter in der Zuckerfabrik beschäftigt war. Vielmehr scheint es sich hier eher um den Normalfall gehandelt zu haben.[431] Eine ähnliche überproportionale innerbetriebliche Vertretung der Angestelltenschaft in der NSDAP ist auch für das Zweigwerk Bernburg der kriegswichtigen Junkers Flugzeug- und Motorenwerke festzustellen. Für die Junkers-Angestellten lässt sich ein Anteil von 40 %, für die Arbeiter des Werkes jedoch nur ein Anteil von 21 % NSDAP-Mitgliedern veranschlagen.[432]
Der
bisher dargestellte Charakter der Partei tritt in der Zusammensetzung
des Funktionärskörpers noch stärker hervor als allgemein
bereits unter der NSDAP-Mitgliedschaft. Das gilt sowohl für die Alters-
als auch für die Berufsstruktur. Der Funktionärskörper der enddreißiger und vierziger Jahre rekrutierte sich weiterhin nicht mehr aus den "alten Kämpfern" - obwohl auch diese mehrheitlich den erwähnten Kernjahrgängen zugehörten - sondern in erster Linie aus seit 1933 in die Partei eingetretenen Mitgliedern. Eine über die NSDAP-Zellen- und Blockstruktur der Kleinstadt Hecklingen in den vierziger Jahren überlieferte Aufstellung belegt, dass die Zellenleiter- und Blockleiterpositionen fast durchweg von Mitgliedern jüngeren Parteialters besetzt waren. Nur zwei von den dort bei Kriegsende mit Eintrittsdatum registrierten 27 Blockleitern waren vor 1933 in die NSDAP eingetreten. In zehn weiteren Blöcken hätte jedoch die Möglichkeit der Einsetzung von "parteiälteren" Mitgliedern (vor 1933) bestanden. Auch von den sieben angegebenen Zellenleitern hatte keiner ein Eintrittsdatum vor 1933 aufzuweisen.[435] Das Parteialter stellte in den 40er Jahren anscheinend kein Kriterium der Funktionärsauswahl mehr dar. Selbst von 24 für das Untersuchungsgebiet ermittelten Trägern des Goldenen Parteiabzeichens - also Personen, die spätestens 1928 eingetreten und im wesentlichen fortlaufend Parteimitglied geblieben waren - sind lediglich neun überhaupt als Funktionäre nachweisbar. Die schon in der Mitgliedschaft allgemein gegebene stark überproportionale Vertretung der Angestellten und Beamten verstärkte sich unter den Funktionären weiter. Während die niedere Funktionärsebene (unterhalb der Ortsgruppen- bzw. Stützpunktleiter)[436] der Zusammensetzung der Gesamt-Mitgliedschaft noch sehr ähnlich blieb und nur relativ geringe Abweichungen aufwies setzte im Übergang zur höheren Funktionärsebene eine starke Selektion ein. Nur noch 10 % aller Funktionäre verfügten dort über einen Arbeiterberuf (Gesamtmitgliedschaft summarisch: 35 %), während allein 70 % Angestellten- und Beamtenberufe ausübten (Gesamtmitgliedschaft summarisch: 49 %). Neben einem allgemeinen Anstieg in allen Angestelltenkategorien mit zunehmender Funktionshöhe ist besonders die Verdopplung des Lehreranteils - 7 % unter der Mitgliedschaft, 16 % auf der höheren Funktionärsebene - auffällig. Der Frauenanteil unter den Funktionären blieb - entgegen ihrem Anteil an der Mitgliedschaft - verschwindend gering und lag bei maximal einem Prozent auf der unteren Funktionärsebene.[437] Funktionen wurden von Frauen in der Regel nur in "frauentypischen" Bereichen wie der NS-Frauenschaft und der NS-Volkswohlfahrt ausgeübt.
In
der Rekrutierung neuer Parteimitglieder verfolgte die NSDAP noch bis 1942
zwei sich überlagernde Strategien, einerseits die seit 1937 bekannte
Ausübung von massivem Eintrittsdruck gegen dafür empfängliche
Personen,[444] andererseits die
an Bedeutung gewinnende kampagnenhafte Aufnahme von Mitgliedern aus der
Hitlerjugend und dem Bund deutscher Mädel sowie von Kriegsversehrten.
Mittels dieser schematischen Umsetzung wurden die Geburtsjahrgänge 1926 und 1927 im Untersuchungsgebiet zu den am stärksten mit NSDAP-Mitgliedern durchsetzten Jahrgängen, was in erster Linie auf die verstärkte Aufnahme von jungen Frauen zurückgeht.[452] Der Eintrittsjahrgang 1944 war zudem seit 1933 wieder der erste, der - infolge der beschriebenen Quotierung - über eine ausgeglichene Kreisstadt-Landkreis-Relation der Neumitglieder verfügte.[453] Den Fortbestand des "Dritten Reiches" vorausgesetzt hätte die NSDAP mit dem 1944 angewandten System der Mitgliederrekrutierung durchaus der bisherigen Überalterung und Verstädterung der Mitgliedschaft entgehen können. Die beschriebene Quotierung erlaubte es jedoch nicht, eine sozial ausgewogene Zusammensetzung der jungen Neumitgliedschaft zu erreichen, obwohl auch dies sicherlich beabsichtigt war. Zwar ergibt die Auszählung der ermittelten Berufe der 1944er Neumitglieder im Untersuchungsgebiet einen Arbeiteranteil von 60 % und einen Angestellten- und Beamtenanteil von nur noch 37 %, was nahezu reziproke Verhältnisse zum Vorjahr und erstmals eine annähernd gleichmäßige Verteilung der Neumitgliedschaft über die Bevölkerung bedeuten würde. Doch es handelt sich hierbei um einen quellenbedingten Fehlschluss. Lehrlinge gaben bei der Aufnahme ihren konkreten Beruf an, wurden auch so der Reichsleitung weitergemeldet und erscheinen demzufolge auch in der gleichen Form in den Aufnahmelisten und dem dieser Auswertung zugrundeliegenden NSDAP-Datensatz. Schüler hingegen gaben bei der Aufnahme überhaupt keinen Beruf (auch nicht "Schüler") an und konnten daher bei der Berufsauszählung nicht erfasst werden.[454] Tatsächlich hätten aber diese nicht erfassten Schüler später in der deutlichen Mehrheit Angestellten- und Beamtenberufe aller Art ergriffen, so dass sich die soziale Zusammensetzung der 1944er Eintritte - in die Zukunft projiziert - nicht anders darstellt als die bisherige Berufsstruktur der NSDAP. Kurz: die Partei hatte begonnen, sich aus sich selbst zu reproduzieren.[455] Röver erläuterte in seinem Bericht auch, warum das fast zwangläufig so sein musste. Für den konkreten Beitritt seien letztendlich zwei Institutionen maßgeblich, das Elternhaus und der zuständige HJ-Führer. Insbesondere würden sich persönliche Differenzen mit dem HJ-Führer oft auch in einer Verweigerung der für den Parteibeitritt notwendigen Dienstbescheinigung niederschlagen: "Der Hauptverweigerungsgrund war immer der einer nicht genügenden Dienstbeteiligung. Dabei kommt es sehr häufig vor, daß HJ-Mitglieder den Dienst versäumen mußten, weil entweder Überstunden zu machen waren oder dringende Landarbeiten verrichtet werden mußten, wofür die HJ-Führer, die vielfach Schüler sind [! - T.K.], nicht das nötige Verständnis hatten. Wer regelmäßig den Dienst besuchte, bekam die erforderliche Mitgliedschaftsbescheinigung der HJ, aber nicht der eifrigste im Dienstbesuch ist unbedingt der beste. Ich kann mir vorstellen, daß hierbei die Einwirkung der Eltern eine Rolle mitspielt. Ein Beamter wird seine Kinder mehr zum Dienstbesuch anhalten als ein Arbeiter oder Bauer, einmal um zu beweisen, daß er sich für die Bewegung einsetzt, damit er nicht selbst irgendwie benachteiligt wird, zum anderen auch aus Sorge um das Fortkommen seiner Kinder, damit diese später in ihrer Laufbahn nicht behindert werden. Dasselbe wird der Fall sein bei der Aufnahme in die Partei. Auch hier werden die Kinder von Beamten veranlaßt werden, einen Antrag auf Aufnahme zu stellen, während andere Eltern diesem gleichgültiger gegenüber stehen. Ich habe ferner beobachten können, daß dort, wo ein guter HJ-Führer tätig war, auch die Aufnahmeanträge zahlreicher waren, vor allem aber in den Städten, während das Land hiergegen abfiel. Wo der HJ-Führer sich um nichts kümmerte, war das Interesse auch dementsprechend gering."[456] Kinder aus NSDAP-Elternhäusern wurden zum NSDAP-Beitritt und vorheriger guter HJ-Dienstbeteiligung angehalten. Wer darüber hinaus noch der Form nach eventuell für einen NSDAP-Beitritt in Frage gekommen wäre, wurde oftmals von den HJ-Führern, die ihrerseits wieder aus NSDAP-Elternhäusern und somit mehrheitlich aus Angestellten- und Beamtenhaushalten stammten, aussortiert. Man wäre auch in der nächsten Generation unter sich geblieben.[457] Zumindest
ein Teil der jugendlichen Neumitglieder der 40er Jahre wollte im nachhinein
nach Kriegsende gar keinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt haben
und behauptete, "automatisch" in die NSDAP "überführt"
worden zu sein.[458] Auch in
den für Entnazifizierungszwecke nach Kriegsende aufgestellten Listen
findet sich bei etlichen Mitgliedern aus verschiedenen Orten der auf Eigenangaben
beruhende Vermerk, sie wären durch die Partei von der HJ oder dem
BDM "übernommen" bzw. "überschrieben" worden.[459]
Doch war auch hier - analog zu den "automatischen Übernahmen"
1937/38 - zumindest die innerparteiliche Verfahrensweise formell geklärt:
Die Bewerber hatten Antragschein und Fragebogen selbst auszufüllen,
also den Antrag selbst zu stellen und sich nicht von Instanzen welcher
Art auch immer vertreten zu lassen. In der von der jeweiligen HJ-Führung
einzuholenden Dienstbescheinigung war von dieser weiterhin ausdrücklich
zu bestätigen, dass der Antragsteller seinen Antrag freiwillig gestellt,
sich bisher als zuverlässiger Nationalsozialist erwiesen habe und
die Gewähr biete, den Anforderungen der Partei zu entsprechen.[460]
'Unsicheren Kantonisten' wird eine solche positive Dienstbescheinigung
von vornherein verweigert worden sein, so dass trotz aller Kampagnenhaftigkeit
und sogar Herabsetzung des Eintrittsalters auf 17 Jahre im Jahre 1943
gesichert war, dass nur der "bessere Teil" von HJ und BDM den
Weg in die Partei fanden. Wer von den "Besten" dieser Generation
würde sich auch dem Ansinnen verschlossen haben, der NSDAP beizutreten?[461]
Allerdings wird man eine entschieden vorgetragene Erwartungshaltung gegenüber
den ausersehenen Eintrittskandidaten durchaus unterstellen können;
anders ließe sich die sprunghafte Steigerung der Eintritte in den
Kampagnen und wohl auch die Argumentation mit der "automatischen
Übernahme" unmittelbar nach Kriegsende nicht erklären. Im Oktober 1944 wurde seitens der NSDAP-Reichsleitung - mit Ausnahme der Kriegsversehrten - jede Aufnahmetätigkeit eingestellt. Davon betroffen war ausdrücklich auch die Kampagne zur Aufnahme von HJ-Angehörigen des Geburtsjahrganges 1928, die formell per 20. April 1945 zur Aufnahme kommen sollten, und von "im Felde stehenden" HJ-Führern.[467]
Hinsichtlich
ihrer Mitgliederstruktur ist die NSDAP von der Historiographie in jüngster
Vergangenheit mehrheitlich als "Volkspartei" beschrieben worden.
Nach den in dieser Untersuchung vorgestellten Ergebnissen ist eine solche
Charakterisierung für die NSDAP im Kreis Bernburg nicht haltbar,
und es besteht Grund zu der Annahme, dass sie für das Deutsche Reich
insgesamt unzutreffend ist. Die
bisherige wissenschaftliche Diskussion über den sozialen Charakter
der NSDAP weist eine eigenartige Schieflage auf: anstatt sich
zuerst für die Zusammensetzung der Mitgliedschaft zu interessieren,
haben es die meisten Forscher vorgezogen, die NSDAP soziologisch
in erster Linie über ihre Wählerschaft zu definieren.[481]
Wenn Mitgliedsdaten ausgewertet werden begnügen sich die Verfasser
in der Regel mit einer exemplarischen Darstellung zu Zeitpunkten
günstiger Quellenlage; generell vermisst man - mit einer Ausnahme[482]
- die prozesshafte Betrachtung. Es konnte keine Untersuchung ermittelt
werden, die die Zusammensetzung lokaler bzw. regionaler NSDAP-Mitgliedschaften
von der Gründung der Partei bis 1945 lückenlos auf statistischer
Grundlage nachzeichnet. Die Festlegung auf den vermeintlichen volksparteilichen Charakter
der NSDAP ist nicht zuletzt Resultat der geringen Forschungsintensität
auf dem Gebiet der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Partei
für den Zeitraum seit 1933, für den nur wenige Studien vorliegen.
Kater zeigt, dass seit 1933 ein zur volksparteilichen Entwicklung
gegenläufiger Trend bestand, die Unterrepräsentanz der Arbeiter
weiter zunahm.[499] Auch
Falter und Niklas-Falter kommen in ihrer Untersuchung der Berliner
NSDAP-Mitgliedschaft im Jahre 1939 zu ähnlichen Ergebnissen und
halten diese - in Anlehnung an Ernst Nolte - auf der Basis eines
sehr weit gefassten Kleinbürgerbegriffs für "eine aus allen Schichten
gespeiste kleinbürgerliche Bewegung".[500]
* Von
der exakten sozialstrukturellen Verortung der NSDAP ist nicht zuletzt
die Bewertung ihrer Nachwirkungen auf die politischen Systeme im Nachkriegsdeutschland
abhängig. Es handelt sich hier in erster Linie um die Frage, welche
Funktion in der langfristigen Entwicklung des Parteiensystems der NSDAP
zuzuschreiben ist. Eine lagerübergreifende "Volkspartei"
NSDAP hätte letztlich zwangsläufig die Grenzen zwischen den
politischen Lagern erodiert und zur Schleifung der seit dem Kaiserreich
existenten Lager beigetragen.[510]
Demgegenüber wäre eine "nationale" bzw. "bürgerliche"
Partei mit sehr spezieller sozialstruktureller Profilierung - wie die
in dieser Untersuchung skizzierte "kleinbürgerlich-nationale
Generationspartei" NSDAP - nur in der Lage gewesen, die Lagergrenzen
zu verschieben, nicht aber, sie zu erodieren. Selbst 1939 noch spiegelt
die Mitgliederstruktur der NSDAP lediglich die statistische Relation der
beiden politischen (Wähler-)Lager des Jahres 1930. Daran wird deutlich,
dass die NSDAP nur geringe Gewinne realisieren konnte. Insofern spricht
einiges dagegen, dass eine solche Erosion der Lagergrenze stattgefunden
hat. Auch lässt sich diese Frage im übrigen nicht aus der Momentaufnahme
einer Mitgliederstatistik, sondern nur aus der Kenntnis der langfristigen
historischen Entwicklung heraus beurteilen. Aus Sicht des hier untersuchten
Kreises Bernburg ist festzustellen, dass sich 1945 die vor 1933 bestehenden
politischen Lager erstaunlich schnell organisatorisch rekonstituierten
und sich bis mindestens Anfang der 50er Jahre auch in Funktion befanden.
Die Schleifung der Lagergrenzen sollte erst der SED in einem wahrscheinlich
sehr viel längeren Prozess, als er sich aus der historischen Draufsicht
darstellt, gelingen. In einer Untersuchung zu deren Mitgliederzusammensetzung
wäre dann auch zu klären, ob die Befestigung der "Diktatur
des Proletariats" mittels einer Massenpartei im Kreis Bernburg nach
1945 trotz oder wegen der zuvor exorbitant hohen Mitgliedschaft in der
NSDAP und ihren Anhangsorganisationen möglich wurde. Inhalt
Der Datensatz der NSDAP-Mitglieder im Kreis Bernburg (1921-1945)
- methodische Anmerkungen Die
Analyse der NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg basiert auf einem Datensatz
von 9.089 NSDAP-Mitgliedern, die im Kreis Bernburg von den ersten Anfängen
der Partei bis 1945 nachgewiesen werden konnten. Im Gegensatz zur bisherigen
Forschung versucht die vorliegende Untersuchung damit, einen neuen methodischen
Weg zu erschließen. Untersuchungen zur Mitgliederstruktur der NSDAP
stützen sich üblicherweise entweder auf zufällige Datenfunde
herausragender Qualität für eng umrissene Zeiträume oder
auf für repräsentativ angesehene Stichprobenerhebungen, vorzugsweise
aus den im Bundesarchiv Berlin (ehemals Berlin Document Center) in Teilen
erhaltenen NSDAP-Mitgliederkarteien. Mit dem hier vorliegenden Datensatz
wurde der - äußerst arbeitsaufwendige - Versuch unternommen,
alle zu NSDAP-Mitgliedschaften in einem fest umrissenen Gebiet zu ermittelnden
Angaben zu erfassen und quellenkritisch zusammenzuführen. Diese verdichteten
und ständig miteinander abgeglichenen Angaben wurden aus nachfolgenden
Quellenbeständen gewonnen (Auflistung in der Reihenfolge ihrer Bedeutung
für die Studie):
a) im Zeitraum zwischen 1945 und 1948 für Zwecke der Entnazifizierung
auf lokaler Ebene von den Polizeibehörden erstellte NSDAP-Mitgliederverzeichnisse
und andere Materialien, die sich heute in Stadt-, Kreis- und Gemeindearchiven,
im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg und dessen Abteilung Dessau
sowie im Zwischenarchiv Hoppegarten des Bundesarchivs befinden;
Die Vielzahl genutzter Quellen führte dazu, dass der größte
Teil der im Datensatz erfassten Mitglieder mehrfach verifiziert ist. Für
mehr als ein Viertel der im Datensatz vertretenen Mitglieder liegt zudem
die korrekte NSDAP-Mitgliedsnummer vor.
Die zu Beginn der Bearbeitung des Projektes in die Bestände des ehemaligen
Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin gesetzten hohen Erwartungen
haben sich nur zu einem geringeren Teil erfüllt. Es hat sich gezeigt,
dass die mit den ehemaligen BDC-Beständen vorhandene Überlieferung
der Mitgliederkarteien der NSDAP zwar eine sehr gute und äußerst
wichtige ergänzende Quelle für die Untersuchung der Zusammensetzung
lokaler Mitgliedschaften der NSDAP darstellt, insgesamt den Mitgliederbestand
der NSDAP jedoch nur verzerrt abbildet und zur alleinigen Quelle einer
Untersuchung nicht taugt. Von der beabsichtigten Erstellung eines parallelen
repräsentativen Datensatzes aus BDC-Quellen mußte daher frühzeitig
Abstand genommen werden.
1. Die zentralen Mitgliederkarteien der NSDAP waren zum Zeitpunkt ihrer
Erbeutung durch die US-Army 1945 schon nicht mehr vollständig,
die Vernichtung hatte augenscheinlich bereits begonnen. Die ehemalige
Regionalkartei soll aus diesen Gründen nur noch etwa 80 % des ehemaligen
Bestandes enthalten, evtl. ist dieser Wert auch etwas niedriger anzusetzen.
Die ehemalige NSDAP-Personenkartei enthält heute möglicherweise
nur noch etwas weniger als die Hälfte aller jemals in die Partei
eingetretenen Personen.
In der Summe der vorstehend benannten Einschränkungen (1.-4.) lässt
sich einschätzen, dass aus den Mitgliederkarteien des ehemaligen
BDC gezogene Stichproben lediglich die Mitgliedschaft des Jahres 1944
widerspiegeln und demzufolge auch nur für 1944 annähernde Repräsentativität
beanspruchen können. Verzeichnis
der im NSDAP-Datensatz verarbeiteten Quellen Archivalische
Quellen Gedruckte
Quellen Die
Mitgliedschaft von Parteien wird in der Regel anhand bestimmter Sozialmerkmale
beschrieben, als deren hauptsächliche 1) das Geschlecht, 2) das Alter,
3) der Beruf bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sozialschicht,
4) das Datum des Parteieintritts (in Verbindung mit anderen Kategorien),
5) die Funktionsinhabe in der Partei (in Verbindung mit anderen Kategorien),
6) die Religionszugehörigkeit, 7) die Gebürtigkeit (lokale bzw.
regionale Herkunft), 8) die soziale Zugehörigkeit der Vorfahren (sozialer
Aufsteiger/Absteiger) und 9) eine eventuelle vorherige Mitgliedschaft
in anderen Parteien und angesehen werden können. Verwertbare Aussagen
lassen sich dem für das Untersuchungsgebiet erstellten NSDAP-Datensatz
in massenstatistischer Form nur für die unter 1) bis 5) aufgeführten
Kategorien entnehmen. Zu den anderen Kategorien liegen Daten nicht in
ausreichendem Maße vor. Im Falle der Religionszugehörigkeit
kommt hinzu, dass die Bevölkerung des Kreises Bernburg zu neun Zehnteln
protestantischer Kirchenangehörigkeit war und die Frage daher von
untergeordneter Bedeutung ist.[527]
Es fehlen weiterhin auch Hinweise darauf, dass die wenigen Katholiken
evtl. eine überproportionale Rolle in der NSDAP gespielt haben könnten.
Kategorie 1 - Landarbeiter: Forstarbeiter, Gärtner,
Geschirrführer, Gutszimmermann, Landarbeiter, landwirtschaftliche(r)
Hilfskraft/Gehilfe, Melkermeister, Schafmeister, Schlepperführer,
Schweinemeister, Treckerführer, Waldwärter, Wirtschaftsgehilfe.
Die Darstellung der NSDAP-Sozialstruktur erfolgt auf der Basis der Summe
der Kategorien 1 bis 20; die Kategorie 0 fließt korrekterweise nicht
in die Berechnung ein und wird nur vergleichsweise erhoben ("männlicher
Maßstab"). Dieses Verfahren versucht eine Verfälschung
durch die zahlreichen quellenbedingten Ausfälle zu vermeiden. Doch
auch ohne diese Ausfälle wäre bei einer Einbeziehung der irrelevanten
Angaben das Geschlecht faktisch zu einer Berufskategorie erhoben worden
- schließlich handelt es sich bei der Kategorie 0 zur knappen Hälfte
um berufslose Frauen. Tatsächlich tritt auch bei dem hier gewählten
Verfahren eine Verfälschung des Ergebnisses auf, doch ist diese bei
weitem geringer. Es
würde nahe liegen, das von Mühlberger in seiner Studie
über die soziale Zusammensetzung der NSDAP vor 1933 aufgestellte
Schema auch auf die hier vorliegende Arbeit anzuwenden.[529]
Doch zeigt es sich, dass dieses Vorgehen mit einem deutlichen Informationsverlust
einhergehen würde. Eine parallele Kodierung und Auszählung
ist angesichts des hohen Zeitaufwandes nicht sinnvoll. Insbesondere
ist an Mühlberger zu kritisieren:
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